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2. Die Brüder

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[Getafe, 09:50]. Er spürte, dass Jacob in Schwierigkeiten steckte, noch bevor er es hörte. Es war eines jener Dinge, die Moritz nicht er­klären konnte. Es war einfach schon immer so gewesen. Für Moritz war da allerdings mehr als nur ein Gefühl: Wenn Jacob in Schwie­rigkeiten steckte, hatte er sich wahrscheinlich selbstständig und kopfüber hineingestürzt. Auch das war schon immer so gewesen.

Draußen hatte sich eine kleine Traube gebildet. Von der letzten Stufe des parkenden Fernreisebusses, in dem er die Nacht verbracht hatte, konnte Moritz sie sehen. Erschlaffte Menschen standen im Kreis und gafften in die Mitte; nur ab und an wichen ein oder zwei von ihnen zurück, wie aus einem tiefen Schlaf gerissene Touristen, die beim Anblick eines Hahnenkampfes vergessen hatten, für wel­che der beiden Bestien sie ihren Gewinnschein gelöst hatten. Dazwi­schen lagen Kubikmeter brütend heiße Luft. Moritz rannte los.

Die Streithähne wälzten sich im Staub, als er ankam. Es waren zwei, was gut war — es waren auch schon mal mehr gewesen. Der kleinere von beiden verlor, auch wenn er davon nichts wusste; gera­de erst hatte er sich aus einem vermeintlich unausweichlichen Schwitzkasten gewunden und es noch vor seinem Gegner wieder auf die Beine geschafft, dem er jetzt mit der Schuhsohle trockenen Staub in die Augen fegte. Der Große brauchte lange, um sich wieder aufzurichten. Er ließ sich Zeit. Er lachte dabei. Auch das wusste der Kleinere nicht, denn Jacob lachte in sich hinein.

Als er keine halbe Minute später hinter der Turnhalle an der Wand lehnte und sich das Blut aus dem Mundwinkel wischte, lach­te Jacob noch immer. Diesmal laut.

»Was ein Vollidiot! Hast du gesehen? Dachte echt, diesmal könnt er mich drankriegen, der Lutscher.«

Zwei Millionen katholische Jugendliche zwischen 14 und 30 Jah­ren waren zum Weltjugendtag nach Madrid gekommen. Die Pilger aus dem Erzbistum Köln waren alle in Messe- oder Turnhallen wie dieser im Vorort Getafe untergebracht worden. Es waren über Zehntausend. Doch jetzt war niemand außer ihnen hier. Nachdem Moritz seinen Bruder unter den Armen gepackt und davongestoßen hatte, hatte sich die Traube so schnell zerstreut, wie sie sich gebildet hatte. Jetzt stand Moritz seinem Bruder allein gegenüber und ver­spürte die dringende Lust, sich selbst mit ihm im Staub zu wälzen. Jacob schien das erst jetzt zu bemerken.

»Was?«

Mitten in sein beschissenes Grinsen…

»Was denn?«, lachte Jacob.

»Was ist eigentlich dein Scheißproblem?«, brüllte Moritz. Jacobs Mund entsprang ein weiteres Kichern. Mit der Mine des Unbesieg­baren, die ihm eigen war, wackelte sein Kopf von links nach rechts, gen Boden und dann wieder zur Seite. »Was ist so schwer daran, sich für zehn Tage einfach mal zusammenzureißen? Ich weiß, das Ganze hier ist dir egal. Ich weiß, du hast keinen Bock, ist nicht zu übersehen. Aber warum kannst du es nicht einfach mal runterschlu­cken, anstatt es immer wieder allen unter die Nase zu reiben?«

Moritz untermalte jedes Wort damit, mit der flachen Hand gegen die Wand zu schlagen, bis er sie nicht mehr spürte. Jacob sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Er lachte auch nicht mehr. Er stand nur da, lässig gegen die Wand gelehnt, und sah weg. Moritz drehte von der Wand ab. Raus aus dem Schatten, den der Winkel der Sonneneinstrahlung hinter die Turnhalle warf, hinein in die Hitze.

»Du bist so ein beschissener Egoist«, wütete er weiter. »Dein Sommer ist im Arsch, also ziehst du alle mit runter. Denkst du auch mal an andere? Was ist mit mir? Letzten Sommer warst du über­haupt nicht da und nächstes Jahr...« Moritz atmete tief ein, doch es wollte ihn nicht beruhigen. »Das beste ist, ich weiß, dass du es nicht hasst. Du hasst das Ganze nicht. Du—«

Moritz T-Shirt klebte an ihm, an Brust und Rücken. Es war heiß. So schweineheiß! Seit sie in Madrid angekommen waren, prügelte die Sonne auf sie herab und genauso lange schon eiferte sein Bruder ihr nach. Moritz fühlte sich ausgewrungen. Als habe er jeden Tropfen Wasser in seinem Körper gegeben.

»Wenn du so dringend nach Hause willst, warum verpisst du dich dann nicht einfach?« Er schlurfte in den Schatten zurück und ließ sich an der Wand zu Boden rutschen. »Gosejohann hat dich eh schon auf dem Kicker. Frag ihn und der kauft dir ein Ticket.«

Nach ein paar Augenblicken setzte Jacob sich zu ihm. Lange sag­te er nichts, spielte nur mit den Festival-Bändchen an seinem Hand­gelenk, die längst einen grauen Dreckstreifen hinterlassen hatten.

»Nur um das klarzustellen: Ich hasse es wirklich«, sagte Jacob.

»Nein, tust du nicht.«

»Ich hasse es.«

»Du hasst es nicht. Sonne, viele Menschen, neue Kulturen — du hasst es nicht. Du willst es hassen, aber du tust es nicht. Als hätte Mama dich zwingen können.«

»Ehm… hat sie.«

Etwas, dass ganzen selten passierte, breitete sich zwischen ihnen aus: betretenes Schweigen. Moritz sagte das erste, was ihm einfiel: »Du hasst es nicht.«

Jacob seufzte. »Aber ich hasse die Messen.«

»Niemand hat dich gebeten, in ein Kloster einzutreten, Jacob.«

Moritz drehte den Kopf. Sah die großen, grünen Augen, die sei­nen nicht ähnelten, die vollen Lippen, die seinen nicht ähnelten, die Nase, die seiner nicht ähnelte, und die hohen Wangenknochen, die er nicht hatte; alles umrandet von den dunkelbraunen in stilvoller Unordnung gehaltenen Haaren, weswegen die meisten Menschen sie für Zwillinge hielten und nie auseinanderhalten konnten. Zu­mindest bevor sich Jacob während seines Auslandsjahres in Costa Rica ein polynesisches Muster über den kompletten rechten Ober­arm hatte tätowieren lassen. Sähen die Menschen statt der Haare, was darunter lag, würden sie schwören, sie irrten sich. Wie jedes Mal, wenn Moritz das dachte, musste er lächeln.

»Wer hat angefangen?«, fragte Moritz. Er wusste nur zu gut, wer die Prügelei angezettelt hatte.

»Wer wohl?«, antwortete Jacob und schleuderte einen Holzsplit­ter, den er auf dem Boden gefunden hatte, in die Sonne.

Moritz schnaubte. »Was ne Bitch.«

»Das Traurige ist, André ist eigentlich ein korrekter Typ. Aber sie...« Jacob schleuderte noch einen Splitter. Fester. Moritz sah ihm neidvoll nach. »Fuck, die Alte ist echt zum Kotzen. Wie ist der an die geraten? Ich raff's nicht. Beim besten Willen, ich raff's nicht.«

»Was war's diesmal?«

»Ach, was schon?«, prustete Jacob. »Hab ihm gesagt, dass seine Alte ne unerträgliche Hexe ist.«

»Du hast echt Hexe gesagt?«

»Ich paraphrasiere.«

»Stilvoll.«

»Wollte die natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Guckt André so an. Ob er dass einfach zulasse würde, dass ich sie so beleidigen.«

Ab dem Punkt wusste Moritz, wie es abgelaufen war. Er musste lachen. Er konnte Jacob nicht einmal böse sein. Sein Bruder hatte ge­tan, was in seiner Natur lag. Was er immer tat. Provozieren.

»Er hat dich gebeten, sich zu entschuldigen«, riet Moritz.

»Jap. Und du kennst mich.«

»Hast ihm angeboten, es zu klären.«

»Bin ja kein Unmensch.«

»Hätte sogar noch was fürs Leben gelernt.«

»Oder nicht? Wo leben wir denn, im Mittelalter? Lässt sich von seiner Ollen dazu bringen, sich um ihre Ehre zu prügeln. Lächer­lich. Die ist doch so schlagkräftig, soll sie es selber klären.«

»Was für ein Feminist du doch bist.«

Moritz wippte sich außer Reichweite und schlug Jacob so oft mit der Faust auf den tätowierten Oberarm, bis seine Hand wieder taub war. Erfahrungsgemäß geschah das schneller, als dass sich bei Jacob so etwas wie Schmerz einstellte. In ihrer Statur waren die beiden ein ungleiches Paar. Jacobs graues Tanktop spannte sich über seine athletische Statur. Er war einen halben Kopf größer als Moritz und erduldete die Prügel genauso spielerisch, wie er sich von seinem älteren Bruder aus dem Ring hatte schieben lassen, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sich zu wehren.

»Du bist so. Ein. Arschloch«, ächzte Moritz unter zusammenge­kniffenen Zähnen. Und damit war alles gesagt. Schweigend blinzel­ten sie in die Sonne, die träge wie sie am Himmel klebte.

»Wie war deine Nacht im Bus?«, fragte Jacob irgendwann.

Moritz hatte gerade aufstehen wollen. Jetzt versteifte er. Jacob wusste, dass Moritz nicht neben ihm auf einer Isomatte, sondern in einem der am Rande des Geländes parkenden Reisebusse geschla­fen hatte. Und mit wem. Moritz hatte keine Geheimnisse vor seinem Bruder. Dennoch hatte er gehofft, Jacob würde ihn ohne die Frage gehen lassen. Doch Jacob wusste zu gut, dass Moritz das Thema nie von allein ansprach.

»Keine Ahnung«, antwortete Moritz. »Gut. Weiß ich noch nicht.«

»OK.« Jacobs Gesicht sagte, dass er mit so einer Antwort gerech­net hatte. Er wusste, dass er Moritz wieder würde fragen müssen.

»Keine Ahnung, Mann.« Moritz fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, wie um eine Emotion wegzuwischen, die er dort nicht leiden konnte. Ich sag’s dir schon, wenn ich’s weiß.«

»OK«, wiederholte Jacob.

Es hätte Jacob zugestanden, wütender zu sein, wusste Moritz. Er hatte die Predigt seines großen Bruders ertragen wie jede davor, ohne ein einziges Mal darauf hinzuweisen, dass Gosejohann viel schockierter über das wäre, was Moritz so trieb. Doch Jacob brauch­te nichts zu sagen. Er hatte eine Ruhe, die Außenstehende oft glau­ben ließ, dass er der große Bruder war. Moritz hasste es.

»Mach nicht zu lange«, sagte Moritz und stand auf. »Wir gehen in zehn Minuten, glaub ich.«

Als er um die Ecke der Turnhalle bog, war Moritz wieder der große Bruder, auch wenn er sich nicht besser fühlte. Jacob versuch­te, den letzten Urlaub, den sie beide womöglich je zusammen ver­bringen würden, mutwillig zu beenden. Wenn Jacob weiter Mess­diener dazu aufstachelte, sich mit ihm zu prügeln, und in den Pau­sen Gras hinter der Turnhalle rauchte, war es nur eine Frage der Zeit, bis er nach Hause geschickt wurde. Egal, was er verdrehte und versprach, er würde es wieder tun. So war Jacob nun mal, immer auf der Suche nach Konfrontation.

Gesprengter Horizont

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