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13. Flankengott

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[Zug nach Getafe, 21:44]. Die Schwärze jenseits des Fensters ver­schluckte die schwülen Silhouetten eines Baugerüsts und eines Krans. Am unteren Fensterrand rauschten Büsche und Gestrüpp vorbei. Eine Chemiefabrik, deren erleuchtete Türme, Trassen und Silos in der Nacht aussahen wie eine Stadt am Meeresgrund, tauch­te auf, flog vorbei und ertrank wieder. Irgendwann sah Anton ein Fußballstadion im Flutlicht. Er stellte sich vor, wie es wäre hier mit den anderen zu zocken und nicht auf dem Schotterplatz hinter der Schule, wo sie Pfosten und Latte mit weißer Farbe an den dichtmaschigen Zaun malen müssen, weil es keine Tore gibt, wo sie auslosen müssen, wer als nächster den über den Zaun geflogenen Fußball aus den Brennnesseln bergen muss, und wo man nach einem Unwetter nicht auf den rechten Flügel ausweichen kann, weil sich in einer Kuhle dort das Wasser sam­melt. Auf rechts treibt Anton den Ball vorwärts, spürt seinen Spann die Flanke schlagen, die eine perfekte Kurve, die Nadim ihm vorausgesagt hat. Der Ball verdeckt das Flutlicht, kurze Sonnenfinsternis, alles steht still. Dann tropft der Ball auf Amirs Kopf und von dort in den Winkel. Alle laufen zu ihm, Kamil vom linken Flügel, und Amir, sogar Nadim aus dem Tor, sie heben ihn hoch und

Der Zug überfuhr eine Weiche und der Waggon schüttelte sich kurz. Antons Stirn wurde von der Fensterscheibe abgeschüttelt wie eine lästige Fliege. Fast rutschte ihm die Kamera vom Schoß.

Hatte er geträumt?

Anton setzte sich in seinem Fensterplatz eines Vierers gerade hin. Um ihn herum hatte sich nichts verändert: Henrik und die drei Pimpfe Matthias, Luciano und Raphael saßen im angrenzenden Vie­rer. Hannah und Suza in ihrer Latzhose wurden in die Ecke bei der automatischen Schiebetür gepresst und teilten sich die Reste einer Flasche Wasser. Anton sah Bens Rucksack, Alicia und Andrés San­dalen neben anderen den Gang entlang. Keiner redete mehr. Jacob und Moritz waren über eine Stunde zu spät zum vereinbarten Treff­punkt am Bahnhof Atocha gekommen, Jacob ohne Haare, Moritz mit einem Bluterguss überm Ellenbogen. Wo sie gewesen waren, wusste niemand. Jetzt hingen sie etwas entfernt unter zwei Halte­griffen und starrten stur aneinander vorbei. Als Henrik aus Mangel an autoritären Alternativmaßnahmen angekündigt hatte, dass die ganze Gruppe für den Rest des Aufenthaltes in Madrid zusammen­bleiben müsse und Erkundungen auf eigene Faust damit gestorben seien, hatten alle protestiert, sogar Hannah, und Jacob beschimpft. Moritz hatte ihn nicht verteidigt. Die Luft im Zug leistete ihren Bei­trag, die Stimmung zu drücken.

Antons Handy meldete sich. Es war Nadim.

»Was Spannendes gesehen heute?«, schrieb er.

Anton band die Umhängeschlaufe der Kamera noch enger um sein Handgelenk. Die Spiegelreflex mit dem sündhaft teuren Objek­tiv war das letzte Geburtstagsgeschenk seiner Eltern gewesen, da­mit er vergaß oder zumindest vergab, dass er jeden Tag unter der Woche alleine zu Mittag und zu Abend aß. Bei Nadim zuhause wurde jeden Abend gekocht und auf dem Boden im Kreis gesessen. Gleichzeitig war die Kamera ein weiterer Versuch seiner Eltern, in ihrem Sohn endlich erwachsene Interessen zu wecken, mit denen sie etwas anfangen konnten. Sie hatten Anton nach Michelangelo Antonioni benannt, einem italienischen Regisseur aus den 60ern, der einen unsäglich langweiligen Film über einen besessenen Foto­grafen gedreht hatte — Anton hatte keine zehn Minuten ausgehal­ten. Vielleicht konnten sie Anton ja irgendwann auf ihre champag­nerfeuchten Diner-Partys und akademischen Diskussionsrunden mitnehmen, auf denen sie sich gleichermaßen in in Designer-Mode und französische Fachbegriffe kleideten. Auch nach fast achtzehn Jahren investierten sie ihr Geld ausschließlich dort, wo andere es se­hen konnten, und hatten keine Ahnung, was als kindgerecht galt. Zu seinem Sechszehnten hatte Anton einen zweitausend Euro teuren Computer bekommen.

Am anderen Ende des Wagons tat sich etwas. Träge Köpfe dreh­ten sich, sanken. Müde Hüften bogen sich zur Seite, um jemanden durchzulassen: Ein kleiner, barfüßiger Mann mit niedriger Stirn trat auf. In der Hand hielt er einen Pappbecher. Vor jedem Passagier blieb der Bettler mit gesenktem Kopf stehen. Bei jedem dritten gab er dem Becher einen kleinen Ruck und ließ die bisherigen Almosen — plop-plop — auf den Pappboden prasseln. Doch kein schlechtes Gewissen ließ sich nötigen. Keiner beachtete ihn. Nicht Moritz und Jacob, nicht Alicia und André, nicht Hannah und Suza. Nicht Hen­rik. Anton wunderte es nicht. Als der Mann bei ihnen angekommen war, rümpfte sich Antons Nase wie von selbst. Er zückte sein Porte­monnaie. Das Kleingeldfach war leer—

Anton wagte nicht, die Brieftasche auseinanderzuklappen. Er zö­gerte. Du hast die Nase gerümpft, du hast das Portemonnaie schon in der Hand! Nadim musste ihm über die Schulter sehen. Wieder tanzten die Münzen im Becher. Plop-plop. Schnell stopfte Anton den Schein hinein. Das sandbraune Gesicht des Bettlers erstarrte. Anton konnte nur nicken und den Mund verziehen.

Er sah dem Bettler nach, während er sich entfernte. Den Becher verschloss er so dicht in seinen Händen, als könnte das Glück wie ein Geist wieder entweichen, wenn er nicht aufpasste. Wo er wohl herkam? Wie ein Spanier hatte er nicht ausgesehen…

»Willst du mir auch meine nächste Schnapsflasche spendieren?«

Anton sah nach vorne, wo Kim ihm gegenübersaß. Sie hatte den Stöpsel tief in den Ohren vergraben und musterte ihn mit skepti­schen, blauen Augen unter einer gesenkten Stirn. Ihr Kopf lehnte an der Scheibe. Die Ohrringe am oberen Rand ihrer Ohrmuschel klack­ten gegen das Glas, wenn der Zug um eine Kurve fuhr. Anton hatte fast vergessen, dass sie sprechen konnte. Wenn Kim volle Laute be­nutzte, konnte Anton ihr Zungen-Piercing sehen. Probier doch mal was Neues, wollte er sagen, eine neue Masche. Doch es lag nicht in An­tons Natur, die provokanten Dinge auszusprechen, die er dachte.

»Im Islam gilt spenden als Sakrament.«

Kim zog die Nase hoch. »Beichten ist ein Sakrament und doch müssen die meisten immer wieder hin. Ich wette, viele Moslems spenden auch nur, weil’s im Koran steht.«

Anton bezweifelte das, merkte sich das Argument aber für eine spätere Diskussion mit Nadim. Der würde es ihm sagen können. Bei dem Gedanken an den jungen Syrer sah er wieder dem Bettler nach. Sie hatten den selben Hautton. Nadim hatte ihm erzählt, dass es in seinem Heimatland übel aussah. Ein Bürgerkrieg brodelte. Die ers­ten Menschen siedelten in den sicheren Westen des Landes über, andere verloren die Hoffnung und kamen nach Europa.

»Was meinst du, wo der herkam?«

»Nicht von hier?«, antwortete Kim.

Anton verdrehte die Augen.

»Was kümmert es dich überhaupt?«

Anton zuckte mit den Schultern. Er hob die Kamera und schoss ein letztes Bild, ehe der dünne Mann den Wagon verließ.

»Warum machst du Fotos von dem?«, fragte Kim. Sie hob den Kopf noch immer nicht von der Scheibe, schenkte ihm nur die Auf­merksamkeit einer Hirnhälfte, während sie die andere mit AC/DC betäubte. »Heute auf diesem Marktplatz hast auch ganz komische Sachen geknipst.«

Am Plaza de Mayor. Ein Mann in abgewetzten Klamotten der vorletzten Saison hatte sich an einen der Weltjugendtagsstände ge­stellt, weil er bemerkt hatte, dass es dort Essen gab. Sie hatten ihm nichts geben wollen. Keine Essensmarke. Nadims SMS fiel Anton ein. Was Spannendes gesehen heute?

»Privates Projekt«, antwortete er und schickte Nadim das Foto.

»Aha.«

»Ja.«

»Lust zu erläutern?«

»Als wenn es dich interessiert.«

Kims Brauen schnellten in die Höhe. Dabei kannte sie die Ant­wort. Es war kein Geheimnis, dass Kim nur mit den Menschen sprach, mit denen sie sprechen wollte oder musste. Erstere Gruppe umfasste für gewöhnlich genau eine Person, die ihrer besten Freun­din jedoch auffällig aus dem Weg ging, seit sie sich am Puerta del Sol getroffen hatten, um zurück nach Getafe zu fahren.

»Hast du dich jemals gefragt, warum das Wort Messe sowohl ei­nen Gottesdienst und eine Großveranstaltung zur Präsentation neu­er Produkte meint?«, fragte Anton. Es schmeckte bitter, dass er seinen Pilgerpass in einer Plastikhülle um den Hals trug. »Oder warum Hostien Münzform haben?«

»Nein«, stöhnte Kim theatralisch.

»Zwei Wochen nach 9/11 wurden an der Unglücksstelle bereits wieder Magneten, Postkarten und Anstecknadeln verkauft.« Nadim hatte ihm das erzählt. »Wusstest du das?«

»Vergiss, dass ich gefragt habe.« Mit dem zweiten Ohrstöpsel schloss Kim wieder ihren Kanal zur Außenwelt und verbarrikadier­te sich hinter geschlossenen Lidern.

In der 11. Klasse hatte Anton eine Facharbeit im Leistungskurs Englisch über Verschwörungstheorien zum Angriff aufs World Trade Center geschrieben. Bei den Recherchen auf seinem zweitau­send Euro teuren Computer hatte er in einem Chatroom Nadim kennengelernt. Nadim war Salafist. Er war der Überzeugung, dass im Zusammenhang mit dreitausend Toten nicht von unschuldigen Opfern gesprochen werden konnte. Sie hatten doch alle Geld an den Händen. Das Christentum kümmere sich doch nur um sich selbst.

Selbst unter den Messdienern, wo Anton Freunde gesucht hatte, hatte er keine. Freunde kümmerten sich. Hier gab es nur Leute, die seinen Namen kannten. Vincent schlief unter seiner Baseball-Mütze der New York Yankees, Julians Kopf auf seine Schulter gesunken, der Basthut würde beim nächsten Ruckeln der Bahn zu Boden fal­len. Alex und Tutti standen bei Moritz und Jacob. Die Kerber-Brü­der waren nicht einmal Messdiener, gehörten bloß zur Gemeinde; ihre Eltern hatten sie einfach zu der Fahrt angemeldet. Doch in den zwei Wochen, die sie Moritz und Jacob kannten, hatten Alex und Tutti mit ihnen mehr Worte gewechselt als mit Anton in sechs Jah­ren, die sie zusammen die Gabenbereitung probten.

»Noch knapp zwei Stunden, Alter«, schrieb Nadim.

»Das bringt Unglück«, schrieb Anton zurück.

»Gott schaut auf dich.«

»Hoffentlich.«

»Hast du noch immer Bock, bald mit nach Syrien zu kommen?«

Die Salafisten kämpften um einen eigenen Islamischen Staat, wenn Anton Nadim richtig verstand. Der Bürgerkrieg in Syrien war ihre nächste Chance. Nadim wollte kämpfen. Nadim war Antons bester Freund. Und sich zu kümmern bedeutete, seinem besten Freund zu helfen, fand Anton. Er musste lächeln. Regelmäßig kam es ihm surreal vor, dass es erst ein Jahr her war, dass Nadim ihn zum ersten Mal auf den Schotterplatz eingeladen hatte.

Gesprengter Horizont

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