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12. Letzte Worte
Оглавление[Chamartín, 20:10]. Die Garage lag tief in einem Industriegebiet. Von der Hauptstraße waren Natalie und Ramón auf einen schlaglochübersähten Zufahrtsweg abgebogen, der mehrere Hinterhöfe miteinander verband. Als sie ankamen, lag die Metrostation fast fünfzehn Minuten hinter ihnen. Ein hagerer Mann mit mit Oktopus-Tattoo am Hals und tiefsitzenden grauen Augen wartete bereits auf sie, nickte ihnen stumm zu und schnippte seine Zigarette weg. Sein unbeweglicher Ziegenbart ließ ihn aussehen wie ein obdachloser Pharao. Natalie stellte die beiden Männer einander vor.
Ramón klopfte. Hinter der Eisentür verhallte das Echo. Erst ein zweites Klopfen lockte eilige Schritte an. Eine Luke wurde zur Seite geschoben und der rechteckige Ausschnitt eines Gesichtes tauchte auf: Blaue, große Augen, Brille, schwarze Locken.
»Quien está?«
»Was denkst du wohl? Komm mach auf, Brüderchen.«
Emilio Ybarras Augenpaar guckte genau so verschreckt wie auf dem Foto in seiner Kartei in Vaters Hotelzimmer. »Passwort?«
»Willst du mich—«
»Me dais asco«, antwortete Natalie über Ramón Ybarras Schulter. Nach der Aktion in der Bankfiliale am Plaza de Lavapiés war ihre Geduld mit dem Basken am Ende. Am liebsten hätte sie ihn in der U-Bahn abgestochen, doch sie würde Vater schon genug Dinge beichten müssen. Zum Beispiel, dass Ramón ihr vorgespielt hatte, eine Bank ausrauben zu wollen, damit er sie benutzen und sie austricksen konnte, sich mit ihm zusammen dokumentieren zu lassen. Oder dass sie vergessen hatte, Vater davon zu erzählen, warum Ramón sich mit ihr am Plaza de Lavapiés hatte treffen wollen. Hab da noch was zu erledigen. Sie hatte den Königspalast angestaunt, erinnerte sich Natalie. Dabei kam es gerade darauf an, sich diese kleinen Details zu erzählen, wenn sie erfolgreich vorspielen wollten, dass el Viento nur eine Person war. Jetzt dachte Ramón, er wäre el Viento überlegen. Er hat geplant, dich zu verarschen, dachte Natalie, und du hast es zugelassen. Schon jetzt schauderte Natalie vor Vaters beherrschtem Zorn. Wie ein Ozean; oft unbewegt an der Oberfläche, doch tobend in der Tiefe. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken.
Die blauen Augen zuckten zu ihr, verharrten, wuchsen. Dann wurde die Tür geöffnet. »Ihr seid spät.«
»Wir hatten noch was zu erledigen«, antwortete Ramón.
Er verpasste seinem Bruder einen Schlag aufs Ohr, dass diesem die Brille verrutschte, und ging wortlos an ihm vorbei. Natalie beließ es bei einem Nicken. Hinter ihr folgte der Mann, den sie im Hinterhof bei seiner Raucherpause angetroffen hatten.
»Emilio Ybarra, Cooper Killick«, sagte Natalie und wedelte ihre Fingerspitze hin und her. »Cooper Killick…«
Killick streckte die Hand aus. Der jüngere Ybarra-Bruder schien sie nicht wahrzunehmen. Er schloss die Tür und huschte den Gang zurück, aus dem er gekommen war. Natalie versicherte sich, dass sie geschlossen war, und folgte.
Weit war es nicht. Zwei Türen zu jeder Seite, ehe sich der Gang in eine große Halle öffnete. Routinemäßig überprüfte Natalie die Räume. Einatmen, ausatmen. Links eine demontierte Gemeinschaftsdusche, nur noch Kachelwände und Gefängnis-Atmosphäre. Natalie checkte die Wasserhähne. Alle abgekoppelt. Im zweiten Zimmer stand ein einsamer Schreibtisch neben Bananenkisten voller Gerümpel, die sich auch im Gang stapelten: Muttern und Schrauben, Ösen, abgefräste Reste, Batterien. Ein Wischmop versperrte den Weg in die Halle, Natalie hob ihn auf. Ein, aus.
Die Werkhalle war gut zehn Meter hoch und maß zwanzig mal dreißig Meter. Auf Hebebühnen hätten hier sicher sechs Autos nebeneinander Platz gefunden, doch sie war komplett ausgeräumt worden. Nur noch zwei intakte Hebebühnen waren übrig, dazu eine ranzige Sofaecke unter einem die ganze Wand einnehmenden Mosaik aus teilweise zerschlagenen Milchglaswürfeln. Zwischen den Hebebühnen waren Tische zu einem kleinen, nur durch eine schmale Lücke begehbaren Viereck aneinandergereiht worden. Zwischen Sofa und Tischeck hatte jemand eine Spanplatte auf hohe Atelierständer gebockt. Weiter hinten lehnten ausrangierte Barhocker an der Wand, gestützt von einem Sitzsack. Jenseits der Halle, begehbar durch die einzige andere Tür, gab es noch eine Küchenzeile und ein Badezimmer mit Badewanne, wusste Natalie. Das wars.
Die junge Frau mit dunklem Teint und einer stolzen Mähne aus Rastalocken, die neben der Sofaecke Liegestützen stemmte und keinerlei Veranlassung dazu sah, ihre Routine für die Neuankömmlinge zu unterbrechen, gehörte nicht zum Mobiliar. Zeque Guerilla, mutmaßte Natalie, ehemals Prostituierte, jetzt hochrangig bei den kolumbianischen FARC-Rebellen, nachdem sie einem General statt ihren Körper für Koks zu verkaufen die Oberschenkelarterie durchgebissen hatte und zwangsläufig die richtigen Leute auf ihr aggressives Potenzial aufmerksam geworden waren.
»Alles war da, nehme ich an«, fragte Natalie.
Sie holte die Hocker von der Wand, spürte dabei Ramóns Blicke in ihrem Rücken. Nicht wieder aus Deckung locken lassen. Nicht hier.
»Ja«, kam die Antwort. Mehr sagte Emilio Ybarra nicht.
Hätte Natalie sich zuvor über die Mengen an Einzelteilen im Gang gewundert, so hätte sie jetzt gestaunt über die Masse an Materialien verschiedener Form, Größe und Beschaffenheit, die sich auf den Tischen stapelten, hinter denen Emilio Ybarra verschwunden war. Kleine, transparente Gummischläuche bildeten eine eigene Kanalisation. Große, ziegelsteinförmige Blöcke einer weichen Masse waren an anderer Stelle zu einer Pyramide gestapelt. Unter einem der Tische sah Natalie die leeren Hüllen von fünf Rucksäcken in Rot und Gelb mit orangen Straps, daneben weiße Verlängerungskabel, die vor einer Buchse in der Wand zusammenliefen. Natalie sah einen Halter mit mehreren Dutzend Reagenzgläsern, Kabeltrommeln, Kabelbinder, Zahnräder, Nieten, Klammern und Schnüre, Muttern, Drähte, Ösen, jeweils zu sauberen Haufen auf den Tischen gestapelt. Hinzu kam eine Tischlampe, wie sie Juweliere und Uhrmacher benutzen; eine zum Kreis gebogene Halogenleuchte, durch die man von oben sehen konnte. In Ybarras Rücken stand bereits ein verkabelter Rucksack.
»Eine ist schon fertig?«, fragte Natalie aus der Not, etwas fragen zu müssen.
»Beinahe zwei.«
»Gut.«
Einatmen, ausatmen.
Die Stahltür gab pochend zu verstehen, dass neue Gäste um Einlass baten. Während Guerilla und Ramón, der Anzugjacke und Hemd abgelegt hatte, sich zu Natalie an den notdürftigen Tisch setzten, nickte sie Killick zu. Protestlos setzte sich der Amerikaner in Bewegung. Vielleicht zeigt es doch Wirkung, dachte Natalie und fuhr sich mit der Hand über den stramm geflochtenen Scheitel. Sie hatte sich für einen Bauernzopf entschieden, weil Ramóns Mathilda-Kommentar sie nicht mehr losgelassen hatte. Keiner respektierte einen Pferdeschwanz. Ramón hat es nicht gekümmert. Der strenge Zopf verlängerte ihre Wirbelsäule, fand Natalie, verlieh ihr eine aufrechtere Haltung. Sie hatte einen Part zu erfüllen.
Natalie blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, stürzten zwei Männer in die Halle, rissen dabei eine Säule aus Holzkisten um und wälzten sich in dem Meer aus Spänen und Splittern am Boden. Einer von ihnen war Killick.
Ramón sprang auf und stieß dabei den Hocker um. Als er sah, wer sich dort prügelte, hob er ihn wieder auf, und holte die Tüte Pistazien aus seiner Hosentasche.
»Besser die bringen es gleich hinter sich.«
Natalie hatte keine Ahnung, was er meinte, und die Tatsache, dass es an der gerade vor ihren Augen außer Kontrolle geratenden Situation etwas gab, das Ramón sofort erkannte, sie aber nicht, ließ sie beinahe sämtliche Beherrschung verlieren. Doch sie blieb sitzen. Zuerst nur, weil Ramón sitzen blieb, dann weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, wenn sie einmal aufgestanden war. Natalie saß dort so lange und sah Killick und dem anderen Mann dabei zu, wie sie ihre Gesichter in die Scherben drückten, sich mit Knien in die Rippen traten und Fausthiebe schwangen, bis sie glaubte, sie müsste so sterben: gelähmt, gefangen in einer Situation, die sie nicht verstand. Die einzige Idee, die sie gehabt hatte, wirkte auch nach zwei Minuten so lächerlich wie zu Beginn. Doch als der Große ein riesiges Messer zog und Killick es ihm gerade eben aus der Hand schlagen konnte, dass es klirrend über den Beton rutschte, war immer noch keine Neue gekommen.
»Das reicht!«
Natalie glaubte nicht, dass es funktionieren würde. Dass sie sich prügelten wie Kinder, machte sie nicht zu ihrer Mutter.
Sie hielt sich solange mit dem Gedanken auf, dass es nicht funktionieren konnte, dass sie zunächst gar nicht begriff, dass Ramón sie ansah, dass Guerilla sie ansah, dass der dunkelhäutige Mann, der gerade aus dem Gang getreten und plötzlich stehen geblieben war, sie ansah und dass Killick und der hünenhafte Araber aufgehört hatten sich zu schlagen und sie ansahen.
Der Neuankömmling war der erste, der sich rührte. Er umrundete das Scherbenmeer, nahm sich einen der Hocker und setzte sich zwischen Natalie und Guerilla an den Tisch.
»Entschuldigung, ich habe mich verspätet.« Sein Englisch hatte einen stark französischen Einschlag.
Raheem Rafiq, produzierte Natalies Gehirn, als sie sein Gesicht archivierte: hager, ein Kopf wie ein Totenschädel, tiefe Augen, umsetzt von kleinen schwarzen Flecken. Die Mutter Mali, der Vater Franzose. Geboren und aufgewachsen im Pariser Einwandererviertel Goutte d’Or, Hochbegabtenstipendium, Studium an der Sorbonne, Abschlussarbeit über die Aktualität der Thesen von Étienne de La Boétie, dem ersten modernen Anarchisten. Vor fünf Jahren von der GICM, der Islamischen Kampfgruppe Marokkos, kontaktiert. Seit zwei Jahre lebte er im Brüssler Stadtteil Molenbeek das Leben eines europäischen Schläfers.
Die Gewissheit, dass ihr Hirn noch funktionierte, beruhigte Natalie. Sie zwang sich, die Spannung ihrer Muskeln aufzugeben. In ihrem Hinterkopf schlich sich bereits wieder der Gedanke an, einen der Wasserhähne in den angrenzenden Räumlichkeiten nicht gewissenhaft genug geprüft zu haben—
Ein, aus.
»Mr. Killick?« Ein. »Herr Azizi?« Aus. »Sind Sie dann fertig?«
Killick sprang als erster auf, als könne er so als Sieger vom Platz gehen. »Ich setze mich an keinen Tisch mit diesen Wüstenwichsern. Davon war nie die Rede.«
Sein Angreifer, Eren Azizi, fauchte ihm etwas auf arabisch entgegen, während er selbst aufstand.
Killick holte zum Tritt aus. »Fresse, Mohammed.«
»Bitte«, antwortete Azizi, sein Englisch so eindeutig eingefärbt, als kaue er Sand. »Nenn mich Atta.«
»Ein Wort, und ich schneid dich auf.«
»Hey.« Azizi hob die Hände. »I love New York.«
Liebe rahmte er in herzförmige Finger. Mit der Gelassenheit von jemandem, dem seine körperliche Überlegenheit bewusst war, setzte er sich an den Tisch. »Du werden sehen.«
»Ich hatte gesagt, das reicht!« Killick hatte schon wieder zu einer Antwort angesetzt.
Ein, aus.
Entschlüsselt zu haben, was Ramón gemeint hatte, rückte die Situation wieder in das Raster, auf das Natalie sich eingestellt hatte: Natürlich wurden der ultrapatriotische Hillbillie und der islamische Extremist keine Freunde. Killick war UFF, United Freedom Front, ein fanatischer Linksradikaler und Nacheiferer längst toter Helden, der den Arabern wie der eigenen Regierung den Tod wünschte und Stammtisch-Einzeller stolz belehrte, dass der größte Anschlag auf amerikanischem Boden vor dem 11. September, das Oklahoma City Bombing, auf das Konto eines Patrioten ging. Und Eren Azizi? Al-Qaida bis aufs Blut, über Generationen zurück. Sein Onkel Hassan war Imam in der Moschee des islamischen Kulturzentrums in Madrid, sein Cousin Amer hatte vor sieben Jahren den Kontakt zwischen Serhane Ben Abdemajid, dem ideologischen Drahtzieher des Madrider Zugattentats, und der Islamischen Kampfgruppe Marokkos geknüpft und war, was nur die Beteiligten wussten, bei der folgenden Schießerei in Leganés gestorben. Eren selbst war kein unbeschriebenes Blatt, was ihn eigentlich in Vaters Augen disqualifiziert hatte, das wusste Natalie. Doch jemand hatte Druck gemacht und eine Gesichtsoperation und eine Seefahrt auf einem illegalen Flüchtlingsboot später war Eren zurück in Madrid und versteckte sich genau dort, wo sein Cousin es vor sieben Jahren getan hatte.
Azizi steckte sein Messer weg und setzte sich an den Tisch.
»Mr. Killick?«
Ein drittes Mal musste sie ihn nicht bitten. Der Amerikaner umrundete den Tisch und setzte sich so weit weg von den beiden Arabern, wie es an einem quadratischen Tisch möglich war.
»Davon, welche Parteien Teil dieser Unternehmung sind, war nie die Rede.« Ein, aus. »Eine Kollaboration, davon haben wir gesprochen. Organisation und Kontrolle liegen in meiner Hand. Sie wurden von mir kontaktiert. Wen ich hinzugezogen habe, steht nicht zur Debatte.« Als Auftraggeber hatten ETA und Al-Qaida auf je zwei Plätzen bestanden, die übrigen hatte Vater zur Diversifizierung des Täterprofils anders besetzt. »Es interessiert mich nicht, wer weswegen hier ist und wer mit wem nicht in einem Hochbett schlafen will, comprende? Danach können Sie sich bei demjenigen beschweren, der Sie eincheckt in dem Jenseits, an das auch immer Sie glauben.« Sie sah in die Runde. »Verstanden?«
Einige nickten. Andere nicht. Ramón und Zeque Guerilla warfen sich einen langen Blick zu, den Natalie nur von Tieren kannte.
»Mr. Killick?«
»Ich mache keine Versprechen.«
»Ich machen Versprechen.« Azizi bleckte die Zähne. »Ich verbrennen Stars-and-Stripes nur zuhause.«
Und Killick sprang auf, brüllte etwas und das Ganze ging von vorne los. Kurz ließ Natalie es zu, dann schlug sie mit der Hand auf den Tisch, dass ihre Haut kribbelte. Autorität fühlte sich gut an.
»Haben das alle verstanden?«
Als Antwort pochte es auf dem Flur zur Tür. Das Kribbeln verschwand.
»Fehlt noch jemand?«, fragte Ramón.
Bestimmt der Klempner. Eine Wasserleitung war nicht vom Netz genommen worden und nun war das Wasser aus dem ehemaligen Duschraum auf die Straße gelaufen und sie waren alle im Arsch… Natalie lauschte, wartete ab, während sie der Gesamtsituation wie einem Felsplateau zusah, das langsam ins Meer rutschte. Wieder pochte es.
»Guck nach.«
Ramón holte seine Pistole aus dem Hosenbund, legte sie flach an seinen Oberschenkel und ging, um die Tür zu öffnen. Er kam nicht allein zurück.
»Wir haben ein Problem.« Er stieß es vor sich her. »Vorwärts, Schätzchen.«
Das Problem war mindestens einen Meter fünfundachtzig groß, hatte schwarzes langes Haar, trug ein schwarzes Top, dunkle Jeans und wurde von Ramón am Arm in die Halle gezerrt.
»Warum hast du—«, sie hier reingebracht, warum hast du überhaupt die beschissene Tür geöffnet, hatte Natalie eigentlich sagen wollen, doch Ramón kam ihr zuvor.
»Also gehört sie nicht zu dir?«
»Nein.« Ein, aus. Ein böses Gefühl kam. »Wieso?«
»Die Schlampe kennt das Passwort.«
Natalie winkte dem Plateau zum Abschied, als es ins Meer fiel.
Vielleicht konnte sie sitzen bleiben, dachte Natalie, und wieder warten, bis ihr zufällig die richtige Lösung zuflog. Doch diesmal würde sie nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sie die Kontrolle verlor. Diesmal erwarteten die anderen von ihr eine direkte Lösung — nein, sie erwarteten, dass Natalie bereits darauf vorbereitet war. Sie erwarteten el Viento.
Natalie musterte die Fremde. Als erstes fiel ihr auf, dass die junge Frau vor einer Pistole im Rücken keine Angst zu haben schien. Es blieb das einzige, was ihr auffiel. Denn kaum hatte Natalie ihr in die Augen gesehen, in dieses alles aufsaugende, furchtlose Grün, konnte sie sich nicht mehr daraus befreien. Als sie es doch schaffte, schienen Stunden verstrichen zu sein, und alles, was Natalie sich fragte, sprang ihr aus dem Kopf direkt auf die Zunge:
»Wer bist du?«
Ramóns Blick, toupiert von argwöhnischen Brauen, zuckte zu ihr. Natalie fing gerade noch das Echo ihrer eigenen Stimme ein, um zu merken, dass sie es gehaucht haben musste. Sie straffte sich.
»Ein Freund«, sagte die Frau.
Ramón stieß die Pistole tiefer zwischen ihre Rippen.
»Fuck, OK. Ibañez. Selena Ibañez.« Der Name ging irgendwo in Natalies Kopf verloren. »Ich… em. Ich habe eine Notiz gefunden. Bin ihr gefolgt.«
»Was für eine Notiz?«
»Eine Karte.«
»Ha!« Natalies Kopf zuckte herum. »Du bist die Fernsehschlampe«, triumphierte der Amerikaner. »Die mich beklaut hat.«
Ibañez zuckte kaum mit den Mundwinkeln. »Mr. Killick.«
Nein, die hatte keine Angst.
»Die Schlampe hat—«
»Halt.« Natalie verstand nichts mehr. Und sie wollte nicht wieder eine Situation erst als letzte begreifen und von hinten aufrollen müssen, wenn alle vielleicht schon begriffen hatten, dass sie nicht die Autoritätsperson war, für die sie sie hielten. Ihre Haut kribbelte.
Ein, aus.
»Was für eine Karte?«
Ibañez zögerte. »Schwarz, mit aufgedrucktem ETA-Wappen. Auf der Rückseite standen eine Adresse und ein Passwort.«
»Zeig her.«
»Ich hab sie nicht dabei.«
»Wie praktisch.« Ramón schnalzte mit der Zunge.
Natalie bekam ein ungutes Gefühl. »Mr. Killick, Sie wurden von dieser Frau beklaut?«
Killick bejahte.
»Und haben sie vielleicht eine solche Karte besessen?«
Killick setzte an, zögerte. »Natürlich nicht.«
»Können Sie das Passwort für mich wiederholen.« Doch Killick wollte nicht. Natalies Gefühl verschlechterte sich. »Als wir sie vor im Hinterhof getroffen haben, haben Sie keine Pausenzigarette geraucht, richtig? Sie haben auf jemanden gewartet, mit dessen Passwort sie eingelassen würden.«
Killicks graue Augen verengten sich. Er begriff: »Ich habe alles codiert, OK.« Natalie wusste nicht, ob es eine richtige Antwort auf ihre Frage gab. Das war jedenfalls eine falsche. »Das war alles in baskisch.«
Ramón stöhnte auf. Ihm gegenüber begann Azizi zu klatschen.
»Halt die Schnauze, Kaffa.«
»Inwieweit codiert?« fragte Natalie. Azizi setzte sich wieder.
»LEED-Schrift«, sprang aus Ibañez Mund.
»LEED? Ein Fünftklässler kann das lesen.«
Killick verschränkte die Arme. »Konnte ich nicht in dem Alter.«
»Glückwunsch, Sie haben das geistige Niveau eines Fünftklässlers mit vierzig erreicht, sie—«
In Natalie trat der Gedanke zurück an die Oberfläche, dass sie diejenige war, die für die dummen Fehler dieser Vollidioten würde geradestehen müssen. Vor dem Ozean, der nie vergaß und nie vergab. Wut platzte aus ihr heraus. Danach wusste Natalie nicht mehr, welche Beleidigung genau sie Killick an den Kopf geworfen hatte.
Ein, aus. Ein, aus. Ein, aus.
»Warum sind Sie hierhergekommen«, fragte Natalie Ibañez und ging auf sie zu.
»Ich habe in Bilbao studiert. Jarrai, Haika, alles. Ist lange her. Die Karte… wie gesagt, ist lange her, dass ich Teil von so etwas war.«
»Haika!« Ramón drehte Ibañez, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Seine Pistole zielte jetzt auf ihre Niere. »Ich war lange da, sehr lange. Kann mich nicht an dich erinnern und ich glaub, das würde ich.«
»Kann mich an dich auch nicht erinnern. Glaub aber nicht das ich’s würde.«
Ramón gab ihr einen Tritt gegen die Wade und die großgewachsene Frau knickte ein. Die grünen Augen, die eben noch auf Natalie herab geguckt hatten, fielen ihr unters Kinn. Und trotzdem, sie sahen noch immer von oben herab, machten es Natalie schwer, die Oberhand über ihre Gedanken zu behalten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Frau einen Nasenring trug.
Natalie drehte sich weg, flüchtete vor den Augen, unter denen sie nicht klar denken konnte. Die Story der Frau war hanebüchen, aus der Luft gegriffen, unwahrscheinlicher als Natalie es sich hätte ausdenken können. Solche Zufälle gab es nicht. Ibañez durfte diese Werkstatt nicht verlassen, so viel stand fest. Doch die Unbekannte war nicht der einzige Risikofall, den Natalie zu bedenken hatte. Die Lektion vom Morgen fiel ihr ein: Gewalt sorgte nicht für Autorität, nur für Wut oder Angst. Ängstliche Menschen machten Fehler, wütende Menschen noch mehr Fehler. Warum versprach die gewalttätige Lösung dann immer, dass es einem danach besser ging?
Wortlos drehte Natalie sich um und verschwand durch die nahe Tür. Sie fand die Küchenzeile, wo sie sie erwartet hatte, dahinter die Toilette, und in einem Hohlraum hinter der Rückwand des Medizinkastens die mit dem Schalldämpfer besetzte Pistole. Im Hinausgehen drehte sie den Wasserhahn so fest zu, dass das Stahl knackte.
Ein, aus.
»Letzte Worte?«
Ibañez sagte nichts. Sie kniete noch immer auf dem Boden, stolz, hohen Hauptes, mit Augen, die nichts zu fürchten schienen. Als sei das nicht das erste Mal, dass man ihr Leben bedrohte, schoss es Natalie durch den Kopf. Mit einem Mal fiel ihr auf, was für eine stickige Luft sich in der Werkstatt gestaut hatte.
Natalie hob die Waffe — ein, aus — und drückte ab.