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Eintausend Jahre Ventrikellehre

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Die Ventrikellehre von der Lokalisierung psychischer Funktionen etablierte sich in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends und wurde noch zu Beginn des zweiten Jahrtausends von Gelehrten akzeptiert und verbreitet. So konnte Avicenna (Abu Ali al-Husain ibn Abdullah ibn Sina), ein großer, von 980–1037 arbeitender Arzt und Philosoph, Folgendes schreiben:

Der Sensus communis ist im vorderen Teil des vorderen Gehirnventrikels lokalisiert. Er empfängt all die Formen, die sich den fünf Sinnen eingeprägt haben und von diesen zu ihm übertragen wurden. Dann folgt die Repräsentationsfähigkeit, die im hinteren Teil des vorderen Ventrikels ihren Ort hat und die, sogar bei Abwesenheit des wahrgenommenen Objekts, bewahrt, was der Sensus communis von den fünf Sinnen empfangen hat. Dann folgt die mit der Seele des Lebewesens verknüpfte sensitive Vorstellungskraft. Dieses Vermögen ist im Mittelventrikel des Gehirns lokalisiert. Dann gibt es die Urteilsfähigkeit, die am hinteren Ende des Mittelventrikels des Gehirns lokalisiert ist. Als Nächstes folgt die Bewahrungs- und Erinnerungsfähigkeit, diese ist im hinteren Gehirnventrikel angesiedelt.31

Die Ventrikellokalisierung war während des Quattrocento in Italien eine noch immer einflussreiche Lehrmeinung. Ärzte wie Antonio Guainerio (gest. 1440) schrieben die Gedächtnisprobleme mancher Patienten einer „übermäßigen Ansammlung an Schleim [zu], sodass das ‚Gedächtnisorgan‘ in seiner Funktion beeinträchtigt war“.32 Die Lehre wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch immer in den besten Lehrzentren vertreten, worauf Illustrationen in der Ausgabe aus dem Jahre 1494 von Aristoteles’ De Anima hindeuten. Leonardo da Vinci (1452–1519) verwandte in Anbetracht der behaupteten Wichtigkeit der Ventrikel für das geistige Leben der Menschen große Mühen darauf, die erste präzise Darstellung von ihnen bereitzustellen. Dafür injizierte er flüssiges Wachs in die ventrikulären Hohlräume von Rindergehirnen (ca. 1506). Seine Zeichnungen sind von einer unerreichten Genauigkeit, obgleich sie die Geistesvermögen noch immer den verschiedenen Ventrikeln zuordnen. In diesen Darstellungen weicht Leonardo nur einmal von Nemesius’ Lehre ab, die dieser 1100 Jahre früher verfasst hatte, und zwar insofern, als er Wahrnehmung und Sensibilität eher im Mittelventrikel als in den lateralen Ventrikeln ansiedelte; eine Veränderung, die Leonardo deswegen vornahm, weil die meisten sensorischen Nerven im Mittelgehirn konvergieren und nicht im anterioren Bereich.

Andreas Vesalius (1514–1564) setzte sich mit der Dominanz der Ventrikellehre auseinander, als er 1503 an der Universität von Louvain weilte. 1543 stellte er die Ventrikel präzise und detailliert dar, und er verband diese Darstellungen in seiner Fabrica mit Beschreibungen davon, wie das psychische Pneuma in den Ventrikeln erzeugt wird und wie es sich dann auf die Nerven verteilt – auf eine Weise, die sich nicht sehr von der unterschied, die Galen vorgeschlagen hatte.33 Obgleich Vesalius der Konzeption anhing, die in den Ventrikel die Quelle des psychischen Pneumas sah, hierin Galen folgend, hegte er Zweifel an der Vorstellung, die psychischen Funktionen rührten von den Ventrikeln her. Seine einschlägigen Schriften sind insofern wichtig, als sie den Weg für Thomas Willis ebneten, der auf der Suche nach der körperlichen Grundlage der psychischen Funktionen den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit ein Jahrhundert später endgültig verlagern sollte, weg von den Ventrikeln, hin zur Gehirnsubstanz selbst. Vesalius merkte an, dass es schwierig sei, die psychischen Funktionen wie beispielsweise das folgernde Denken, die Menschen von anderen Säugetieren abgrenzen, den Ventrikeln zuzuordnen, weil deren Form bei einer Vielzahl von Säugetieren, einschließlich des Menschen, sehr ähnlich sei.34

Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften

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