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Vier Gesichtspunkte cartesianischer Transformation der Geistes- bzw. Seelen-Konzeption

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Erstens vertrat er die Auffassung, dass der Geist die ganze Seele umfasst. Im Gegensatz dazu betrachteten die Scholastiker den Geist (als Verstand aufgefasst) bloß als einen Teil der Seele (der unsterbliche Teil, der vom Körper abtrennbar ist). Die anderen Seelenteile – die nährenden und sensitiven Funktionen nämlich – wurden von den Scholastikern nach aristotelischer Lesart als Form des Körpers betrachtet. Hier widersprach Descartes radikal. Anders als Aristoteles betrachtete er die Seele nicht als Lebensprinzip, sondern als Denk- oder Bewusstseinsprinzip. Die aristotelischen Funktionen der nährenden Seele (Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung) und der sensitiven Seele (Wahrnehmung im physiologischen Sinn und Bewegung) sind bei Descartes keine essenziellen Funktionen des Geistes, sondern des Körpers. Sämtliche essenzielle Funktionen der Lebewesen werden in rein mechanistischen Begriffen gefasst. Und das sollte entscheidende Auswirkungen auf die Entwicklung der Neurophysiologie haben.

Zweitens zog Descartes die Grenzen des Geistigen neu. Im Kern ist der cartesianische Geist nicht die scholastisch-aristotelische rationale Seele – nur der Verstand also –, sondern vielmehr Denken oder Bewusstsein. Eine Person ist wesentlich eine Res cogitans, ein denkendes Ding – Descartes erweiterte die Begriffe des Denkens und des Gedankens derart, dass sie weit mehr umfassten, als Aristoteles und die Scholastiker der rationalen Seele zugeschrieben hätten. Die Funktionen der rationalen Seele schlossen den Scholastikern nach die reflektierend-folgernden Funktionen des Verstandes und die willentlich abwägenden Funktionen des Wollens (rationales Verlangen) ein, Empfindung und Wahrnehmung, Vorstellung und tierisches Triebverlangen (Fleischeslust) dagegen aus. Im Gegensatz dazu schloss Denken für Descartes „alles [ein], was derart in uns geschieht, dass wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewusst sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Vorstellen, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken.“40 So wurde das Denken in revolutionärer Weise im Sinne des Bewusstseins ausgelegt – das heißt als das definiert, dessen wir uns unmittelbar in/aus uns bewusst sind. Und das Bewusstsein wurde dabei insofern dem Selbstbewusstsein einverleibt, als es, wie Descartes meinte, unmöglich ist, zu denken und Erfahrungen zu haben (Schmerz zu empfinden, wahrzunehmen glauben, Leidenschaften fühlen, wollen, vorstellen, nachdenken), ohne zugleich zu wissen oder sich bewusst zu sein, dass man dies tut. Die Identifizierung des Geistigen mit dem Bewusstsein ist uns bis zum heutigen Tag erhalten geblieben und wirft einen langen Schatten auf die neurowissenschaftliche Reflexion (wir werden die zeitgenössische Debatte über das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein in Teil III untersuchen).

Drittens war er der Ansicht, dass die Vereinigung des Geistes mit dem Körper trotz ihrer ‚Intimität‘ zwei eigenständige Substanzen umfasst. Entgegen dem scholastischen Denken, für das ein menschliches Wesen eine einheitliche Substanz (ein ens per se) ist, gab Descartes zu verstehen, dass es sich beim Menschen nicht um eine solche handelt, sondern um eine zusammengesetzte Entität. Die Person (das Ich) wiederum ist eine individuelle Substanz, und sie ist mit dem Geist identisch. Und weil der menschliche Geist mit dem Körper vereinigt ist, hat er Wahrnehmungen (im psychologischen Sinne). Solche Wahrnehmungen jedoch werden als Denk- oder Bewusstseinsmodi aufgefasst, die aus der Geist-Körper-Vereinigung hervorgegangen sind. Und genau diese intime Vereinigung ist es, anhand derer Descartes die nichtmechanischen Wahrnehmungsqualitäten erklärt (sprich Farben, Klänge, Geschmäcke, Gerüche, Wärme etc.): Sie werden infolge psychophysischer Interaktionen als Vorstellungen im Geist hervorgebracht. Und weil er mit dem Körper vereinigt ist, ist der Geist gleichermaßen in der Lage, durch Willensakte Körperbewegungen hervorzubringen. Die Neurowissenschaften müssen folglich die Interaktionen von Geist und Gehirn, die einerseits mit Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen (bei denen es sich um ‚verworrene‘ Denkformen handelt) und andererseits mit Willensbewegungen einhergehen, in ihren Formen untersuchen.

Und viertens: So wie er davon ausging, dass der Geist eine einzelne wesentliche Eigenschaft habe – nämlich Denken –, ging er auch davon aus, dass die Materie sich durch eine einzelne wesentliche Eigenschaft auszeichne – nämlich Ausdehnung. Die Erklärungsprinzipien in den physikalischen und in den biologischen Wissenschaften betrachtete er ebenso als rein mechanische, ausgenommen den Fall der Neurophysiologie menschlicher Wesen, die in der Natur nicht ihresgleichen haben, weil sie über den Geist verfügen.

Descartes trug wesentlich zu den Fortschritten in Neurophysiologie und visueller Theorie bei.41 Obwohl seine theoretischen Entwürfe sich überwiegend als falsch erwiesen, waren sie für die Suche nach dem richtigen Verständnis doch eminent wichtig. Zudem hat sich seine Überzeugung, der fundamentale biologische Erklärungsansatz werde sich auf der neurophysiologischen Ebene im Sinne von Wirkursachen entfalten, durch die Entwicklung der Neurophysiologie seit dem 17. Jahrhundert triumphal bestätigt.42

Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften

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