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Descartes’ Begriffsirrtum, das Sehen der Seele anstatt der menschlichen Person zuzuordnen

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War die Mahnung auch angebracht, so ließ die Sorgfalt doch zu wünschen übrig. Selbstverständlich hatte Descartes Unrecht damit, die Zirbeldrüse als den Ort des Sensus communis auszuweisen, Unrecht, zu denken, ein mit dem Bild auf der Retina (und also mit dem Gesehenen) korrespondierendes Bild werde im Gehirn rekonstituiert. Wir haben es hier mit Irrtümern im Tatsachenbereich zu tun, und es ist bemerkenswert, dass sich für sie im gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Denken Entsprechungen finden lassen – im Besonderen in der verbreiteten Darstellung des sogenannten Bindungsproblems (weiter unten erörtert, 4.2.3). Descartes hatte allerdings Recht, mahnend darauf hinzuweisen, dass unser Sehen, was immer im Gehirn geschieht und uns was auch immer zu sehen ermöglicht, nicht mit der Wahrnehmung solcher Gehirnereignisse oder -konfigurationen erklärt werden kann. Denn das würde, wie er richtig bemerkte, „noch andere Augen innerhalb unseres Gehirns“ erfordern. Dennoch war er – was die Begriffe angeht – so verworren, um vorzubringen, (i) dass Bilder oder Eindrücke, die von den doppelten Organen der Sinne kommen, im Gehirn vereinigt werden müssen, um eine Einzelrepräsentation zu formen, sodass der Seele nicht zwei Gegenstände anstelle von einem dargeboten werden; (ii) dass die Seele die Formen oder Bilder im Gehirn ‚unmittelbar betrachtet‘, wenn sie einen Gegenstand wahrnimmt; und (iii) dass die Seele wahrnimmt und nicht das Lebewesen (der Mensch). Der erste Irrtum setzt genau das voraus, wovor Descartes gewarnt hatte; denn nur wenn die Bilder oder Eindrücke tatsächlich von der Seele wahrgenommen würden, gäbe es einen Grund für die Annahme, dass die ‚zwei Bilder‘ in einem doppelten Sehen bzw. einem doppelten Hören resultierten. Der zweite Irrtum offenbart sich in der Inkohärenz der Annahme, im Verlauf der Wahrnehmung werde die Seele oder der Geist etwas, was es auch sei (ob Formen oder Bilder), im Gehirn ‚betrachten‘. Und der dritte Irrtum tritt als die abwegige Annahme hervor, dass das Wahrnehmende die Seele oder der Geist ist. Wir haben bereits festgestellt, dass schon Nemesius dieser Verwirrung anheimfiel. Es handelt sich bei ihr um eine Form des mereologischen Fehlschlusses (Die Mereologie untersucht die Logik der Beziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzen). Denn sie beruht darauf, einem Teil eines Lebewesens Attribute zuzuschreiben, die ihm in logischer Hinsicht nur als Ganzem zugeschrieben werden können. Die besondere Form, die dieser mereologische Fehlschluss bei Descartes annahm, wird darin offenkundig, dass er der Seele Attribute zuschrieb, die nur dem Lebewesen als Ganzem zugeschrieben werden können. Wir werden diesen Fall im dritten Kapitel detailliert erörtern.

Mitte des 17. Jahrhunderts hatte Descartes die Ventrikellehre, die die psychischen Funktionen in den Gehirnventrikeln verortete, durch seine eigentümliche interaktionistische Lehre ersetzt, die alle psychischen Funktionen in der Zirbeldrüse lokalisierte, die er als den Ort der Interaktion von Geist und Gehirn auswies. Auf diese Weise begegnete er Vesalius’ Einwand, die Vorstellung, dass die verschiedenen Ventrikel mit verschiedenen kognitiven und kogitativen Vermögen in Zusammenhang stehen, sei aufgrund der großen Ähnlichkeit, die zwischen den Ventrikeln der Menschen und denen anderer Säugetiere besteht, nur schwer zu belegen. Außerdem hatte Descartes das psychische Pneuma durch die Lebensgeister ersetzt, die als das Medium fungierten, durch welches die Zirbeldrüse ihre Wirkungen hervorruft. Dies war verbunden mit der Ersetzung des vom Pneuma abstammenden flüssigen Elements, wie Aristoteles es beschrieb, durch die mit speziellen Eigenschaften ausgestatteten mechanischen Teilchen. Allerdings sollten Descartes’ Zeitgenossen bald deutlich machen können, dass die Zirbeldrüse sich nicht innerhalb der Ventrikel befindet und dass seine Erwiderung auf Vesalius aus dem Grund unzureichend war, weil andere Säugetiere diese Drüse auch besitzen.

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