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Lebensmittel nach dem NOVA-System auswählen

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Hochverarbeitete Nahrungsmittel sind der Grund, weshalb viele Kinder in den Industrieländern unter Nährstoffmangel leiden. Fertiggerichte, Pommes, Chips, Schokoriegel, Burger, Tiefkühlpizzen können den Stoffwechsel von Kindern so programmieren, dass sie schon früh Gefahr laufen, Alterskrankheiten für spätere Jahrzehnte einzuladen. Erwachsene sind vor solchen Fehlprogrammierungen leider auch nicht gefeit. Dazu hatte ich unter anderem auch MARTIN SMOLLICH befragt, der im Expertengespräch mit mir auf eine Studie mit geradezu erschreckendem Ergebnis verwies.


Professor Martin Smollich, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es heute über die Auswirkungen von hochverarbeiteten Lebensmitteln?

Eine der wichtigsten Studien zum Thema hochverarbeitete Lebensmittel stammt aus dem Jahr 2019 und wurde in der Fachzeitschrift Cell Metabolism veröffentlicht. Die Studienteilnehmer wurden für 14 Tage im Versuchszentrum eingeschlossen und in zwei Gruppen eingeteilt: Einer Gruppe wurden für die gesamten 14 Tage nur hochverarbeitete Lebensmittel bereitgestellt, der anderen Gruppe nur unverarbeitete Lebensmittel. Alle Teilnehmer durften so viel essen, wie sie wollten. Das führte dazu, dass die Probanden aus der Gruppe mit den hochverarbeiteten Lebensmitteln pro Tag 500 Kilokalorien mehr aßen als die Probanden mit den unverarbeiteten Lebensmitteln. Am Ende der Studie hatten sie außerdem knapp ein Kilogramm zugenommen, während die anderen ebenso viel Gewicht verloren hatten. Das heißt: Selbst wenn Lebensmittel die gleichen Kalorien und Nährstoffe enthalten – von hochverarbeiteten Lebensmitteln essen wir einfach mehr.

Gibt es Hinweise darauf, welche Ursachen es für diesen Effekt gibt?

Zum einen wissen wir, dass hochverarbeitete Lebensmittel aufgrund ihrer Textur einfach schneller gegessen werden – und wer schneller isst, isst automatisch auch mehr, weil er die Sättigungssignale seines Körpers erst viel zu spät wahrnimmt. Ein weiterer Grund sind vermutlich auch typische Zusatzstoffe in hochverarbeiteten Lebensmitteln. Das sind Substanzen, die eigentlich aus der Kosmetikindustrie kommen und die Sie nie in Ihrer Küche verwenden würden. Typisches Beispiel für so einen kritischen Zusatzstoff ist Carboxymethylcellulose CMC (Anmerkung: CMC ist ein Bindemittel; es verbessert die Konsistenz bei vielen Lebensmitteln wie etwa bei Speiseeis durch eine Reduktion der Eiskristallbildung, bei Mayonnaisen, Soßen, Fruchtmassen, Gelee; Backwaren halten sich länger »frisch«). Neueste Studien zeigen, dass CMC die Barrierefunktion der Darmschleimhaut schädigt, was Unverträglichkeiten fördert und chronische Entzündungen verursacht. Man weiß bis heute noch nicht viel über die genauen Wirkungsmechanismen dieses zum Teil synthetischen Gemischs in hochverarbeiteten Lebensmitteln. Dazu kommt bei vielen dieser hochverarbeiteten Lebensmittel die ernährungsmedizinisch sehr ungünstige Zusammensetzung: Sie haben eine sehr hohe Kaloriendichte, sehr viel Fett, sehr viel Zucker – und gleichzeitig kaum Ballaststoffe, Omega-3-Fettsäuren, sekundäre Pflanzenstoffe und Mikronährstoffe. Bei den guten, nicht hochverarbeiteten Lebensmitteln ist es genau andersherum.

Das klingt nicht gut. Also sollten wir genau wissen, wie hochverarbeitete Lebensmittel klassifiziert sind und wie wir sie erkennen. Eine brasilianische Arbeitsgruppe hat dazu ein hilfreiches Vierstufensystem entwickelt, das den Verarbeitungsgrad berücksichtigt und sehr hilfreich ist, das NOVA-System. Es unterteilt die Lebensmittel grob in vier Klassen:

1 Unverarbeitet bis minimal verarbeitete Lebensmittel

2 Leicht verarbeitete Zutaten

3 Verarbeitete Lebensmittel

4 Hochverarbeitete Lebensmittel


In der Tabelle finden Sie die Bewertung dieser vier Klassen von Lebensmitteln. Man beachte: Die Lebensmittel der Stufe 4 stellen den größten Teil der im Supermarkt erhältlichen Lebensmittel – und es sind auch die, für die am stärksten geworben wird. Leider. Sie sollte man schlicht und ergreifend vergessen.

So, und diese Frage folgt jetzt natürlich auf dem Fuß: Wie erkenne ich bitte schön im Supermarkt, was hochverarbeitet ist und was nicht – und zwar über die grobe Klassifizierung hinaus? Befinden sich Kennzeichnungen auf den Verpackungen? Die nüchterne Antwort lautet: Die gibt es leider nicht. Aber seit Ende 2020 gibt es Nutri-Score. Dieses Kennzeichnungssytem hilft, die Nährwertzusammensetzung von Fertiggerichten einzuschätzen. Die negativen Effekte von Zusatzstoffen deckt dieses System allerdings nicht auf. Doch es ist in seinen Ampelfarben sehr gut verständlich und mit Sicherheit hilfreich, wenn man Produkte hinsichtlich ihres Nährwertes einschätzen oder ähnliche Produkte miteinander vergleichen möchte.

Grundlage der Berechnung sind negative Inhaltsstoffe wie:

 Gesättigte Fettsäuren

 Salz

 Zucker

 Energiegehalt, Kalorien

Und positive Inhaltsstoffe wie:

 Ballaststoffe

 Proteine

 Obst und Gemüse

 Nüsse und ausgewählte Öle

 Hülsenfrüchte

Die Bewertung der Nährwertqualität wird beim Nutri-Score-System auf einer Skala von A bis E angezeigt. Ein grünes A wäre die beste, ein rotes E die schlechteste Wahl.


Der jeweilige Nutri-Score entsteht, indem positive und negative Elemente (also der Energiegehalt sowie die Gehalte »ernährungsphysiologisch günstiger und ungünstiger Nährstoffe«) miteinander verrechnet werden. Nach Nutri-Score zu labeln ist für die Lebensmittelhersteller nicht verpflichtend – etliche tun es aber bereits, so seit Neuestem nicht nur Unternehmen in Deutschland, sondern auch in Frankreich (seit 2017), Belgien, Spanien, Portugal, der Schweiz und Luxemburg. Was hat das nun alles mit gesunder Langlebigkeit zu tun? Das liegt auf der Hand, denn es geht um das erhöhte Risiko für Bluthochdruck, Dickleibigkeit, Depression, Diabetes und einige Krebsarten. Wenn Sie auf hochverarbeitete Nahrungsmittel mit hohem Nutri-Score verzichten, minimieren Sie diese Risiken deutlich.

Die aktuelle Studie eines spanischen Forscherteams veranschaulicht das drastisch: 900 Personen, Durchschnittsalter 68, nahmen in vier Gruppen unterschiedliche Mengen von hochverarbeiteten Lebensmitteln zu sich. Die Gruppe, die am meisten »Junkfood« aß, zeigte mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, und – das ist eine neue Dimension der Erkenntnis – diejenigen, die sehr viele stark verarbeitete Lebensmittel pro Tag aßen, hatten deutlich kürzere Telomere (Schutzkappen der Chromosomen) als diejenigen, die wenig davon aßen. Die Telomerlänge ist eines von mehreren Kennzeichen der Langlebigkeit. Exakte Zusammenhänge sind hier noch nicht geklärt, aber ein wichtiger Hinweis ist geliefert.

So. Was also tun – außer den Menschen immer wieder zu sagen: Kauft nur Lebensmittel mit grünem Nutri-Score und mit niedrigem Verarbeitungsgrad, sogenanntes »real food«? HANS HAUNER kam vorhin bereits zum Thema Ballaststoffe zu Wort und ist nicht nur Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin, sondern auch »Real«-Ernährungsmediziner. Er hat mir verraten, welchen außergewöhnlichen Weg er mit seiner Studiengruppe an der TU München verfolgt.


Professor Hans Hauner, müssen wir auf die Leberkässemmel und den Hamburger gänzlich verzichten?

Was wir versuchen, ist, das, was die Menschen gerne essen, gesünder zu machen. Wir nehmen ihnen das nicht weg, sondern sagen, okay, wir machen jetzt mal die Pizza oder den Hamburger gesünder … oder das bayerische National-Junkfood: die Leberkässemmel. Im Brät befindet sich grob entsehntes Rindfleisch sowie fettes Schweinefleisch, Speck ohne Schwarte, Wasser, Zwiebeln, Salz und Majoran. Das Ganze wird sehr fein zerkleinert und die Mischung in eine Kastenform gefüllt und im Ofen gebacken. Wenn sich eine braune Kruste gebildet hat, ist der Leberkäs fertig.

Das klingt nach äußerst negativem Nutri-Score …

Die bayerische Leberkässemmel – das ist das Haupt-Fastfood und -Junkfood der Bayern. Da ist vieles drin, was der Metzger sonst nicht so gut verwerten kann. Dann kommen Gewürze dazu, viel Salz. Schmeckt gut. Ich bin auch damit groß geworden. Und esse es auch heute noch gelegentlich, ohne Frage. Keiner von uns würde dazu eine Vollkornsemmel hernehmen. Und wir sind hergegangen (Anmerkung: die Studiengruppe der TU München) und haben gesagt: Wir wollen die Leberkässemmel »gesünder« machen und wollen aber auch, dass das bezahlbar bleibt. Gesunde Alternativen sind häufig Nischenprodukte – die kosten das Dreifache. Das kaufen keine Normalverdiener, die bei Aldi oder Lidl einkaufen. Wir haben also mit unseren Partnern aus der Industrie den Leberkäse mit pflanzlichen Ballaststoffen angereichert, gesündere Fleischkomponenten verwendet (mehr Muskelfleisch) und auch das Weißbrot mit Ballaststoffen angereichert. Das Ganze haben wir so abgestimmt, dass unsere gesündere Leberkässemmel der »normalen« täuschend ähnlich sieht und auch genauso schmeckt. Unsere Leberkässemmel hat aber 30 Prozent weniger Kalorien als die »normale« (Anmerkung: Eine »normale« Leberkässemmel liefert in etwa so viele Kalorien wie ein doppelter Cheeseburger, nämlich circa 480 Kilokalorien). Wir werden jetzt eine größere Metzgerei suchen, die bereit ist, ein solches Produkt in ihr Sortiment aufzunehmen.

Das hoffen wir doch sehr, dass sich eine solche Metzgerei findet!

Der Zeitgeist, an dem das Thema gesunde Ernährung nicht vorübergegangen ist, gibt natürlich Rückenwind, wenn es sich um beliebte, nährwerttechnisch aber eher minderwertige Mahlzeiten handelt. Auf meine Nachfrage beim Fertiggerichtprofi Dr. Oetker zum Thema Gesunde Pizza – was tun Sie da? erhielt ich eine entsprechende Antwort: »Wir haben unser Qualitätsversprechen dahingehend ausgedehnt, dass unsere Produkte den bekannten Dr.-Oetker-Genussfaktor bei deutlich reduziertem Salz-, Zucker- und Fettgehalt auf den Tisch bringen werden. Bis 2025 ist eine weitere Reduktion um circa 15 Prozent vorgesehen« – und an veganen Pizzen arbeite man auch. Das wird sich im Nutri-Score sicherlich ablesen lassen!

Und hier eine Anregung für die Dr.-Oetker-Versuchsküche (die Rezepturen bleiben geheim): ELISABETH MIEHLE, Lebensmitteltechnologin am Fraunhofer-Institut in Freising experimentiert daran, Tiefkühlpizza gesünder zu machen. Sie reichert den Teig – wen wundert es – mit Ballaststoffen an. »Das Mehl eines normalen Standardteigs hat rund zwei Prozent Ballaststoffe. Bei dem Teig, den wir jetzt mit Ballaststoff anreichern, hat man einen genauso hohen Ballaststoffgehalt wie beim Vollkornmehl, nämlich mindestens sechs Prozent. Ab sechs Prozent Ballaststoffgehalt darf man ein Lebensmittel als ›ballaststoffreich‹ bezeichnen. Bei einer Pizza mit knapp 300 Gramm Gewicht ergibt das Ballaststoffe von immerhin rund 18 Gramm.«

Künftig gelten also für unseren Einkaufskorb zwei wichtige Einlassregeln: Hochverarbeitete Lebensmittel müssen draußen bleiben – und alles, was viel Ballaststoff enthält, erhält VIP-Status! Doch, war da nicht noch was? Wollten wir nicht ein für alle Mal klären, in welchem Verhältnis die Makronährstoffe denn nun in unseren Einkaufskorb und damit in unsere Mägen kommen sollten – für ein langes, gesundes Leben?

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