Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 11
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Sonja Steeger hatte sich ihrer Jacke entledigt und die Heizung auf vier gedreht. Einige Ermittlungs- und Recherchearbeiten delegierte die stellvertretende Dienststellenleiterin der Kripo telefonisch. Dann scrollte sie durch Ordner, die sie damals zu dem Raubüberfall und Raubmord angelegt hatten.
Anhand der Spuren, der gefundenen Patronenhülsen und der Aussage des einzigen Zeugen waren sie von drei Tätern ausgegangen, einem Fahrer und zwei Schützen. Die Kriminaltechniker waren sicher, dass aus der Fahrerkabine nicht geschossen worden war, sondern nur aus den geöffneten Türen zur Seite und am Heck. Den Fahrer hatten sie gefasst, Giovanni Amuso, bis dahin nicht vorbestraft. Von den Mittätern und der Beute fehlte nach wie vor jede Spur. Der Wachmann war von acht Schüssen aus zwei automatischen Gewehren getroffen worden, eine Kugel war durchs Ohr ins Gehirn gedrungen und sofort tödlich. Zeit, seine eigene Pistole zu ziehen, hatte man ihm nicht gelassen. Die Flucht über kleine Straßen musste die Täter bis zur L 740 geführt haben und dann weiter Richtung Meschede. Aber das war schon Spekulation.
Ein Fahrradfahrer hatte sich an der Ausfahrt aus dem Gewerbegebiet nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht, wurde am Hinterrad gerammt und kam zu Sturz. Dabei brach er sich das linke Schlüsselbein in mehrere Stücke und zog sich im Gesicht Verletzungen zu, die ihm für einige Zeit zusetzen würden. So war der erste Eindruck. Dass aus einiger Zeit ein ganzes Leben lang werden würde, war nicht abzusehen. Mehrere Operationen später war leidlich die Funktion der Kau- und Riechorgane wieder hergestellt.
Halb im Unterbewusstsein, aber dennoch überzeugt in seiner Aussage schon im Rettungswagen, hatte er Eindrücke vom Geschehen wiedergeben können. Die Aufschrift an der Seite des Fluchtfahrzeugs hätte er erkannt: sport und darunter de. An der Fahrerseite hätte etwas geflattert.
Am Abend nach erfolgter Operation des Schlüsselbeins hatten sie Henry Z., so hieß er in den Akten, erneut vernommen. Er stand unter starken Schmerzmitteln. Oberlippe, Wange und Nasenpartie waren dermaßen geschwollen und verzogen, dass ein sinnvolles Gespräch nicht zustande kam. Sonja Steeger und ihr Kollege Jankowski, denen man eine Befragung von höchstens 15 Minuten zugestanden hatte, hatten es mit einer Zeichnung versucht. Hinweise auf einen weißen Kastenwagen verdichteten sich, der durch Auf- oder Anbauten nicht mehr im Originalzustand war. Wieder bestand Z. auf der Aufschrift an der Fahrerseite: Sport und etwas nach rechts versetzt darunter de mit einem Schrägstrich. Das umkringelte er zweimal und klopfte zur Bestätigung nickend wiederholt mit dem Bleistift auf das Papier.
„Der Schrägstrich, das muss doch eine Webadresse sein, oder was meinst du?“. Manche Dialoge mit Jankowski konnte sie auch nach Jahren fast wörtlich aus dem Gedächtnis zurückholen. Vorzugsweise, wenn sie sich in gelungene Frotzeleien verlaufen hatten. So wie an diesem Abend. Sie hatten eben den Krankenhausparkplatz in Meschede verlassen. Der Motor nörgelte, weil Sonja früh den dritten Gang eingelegt hatte.
„Kann sein“, hatte Jankowski vom Beifahrersitz her gemurmelt, „dann hieße der Schrägstrich aber Slash.“ Das letzte Wort war in einem Gähnen untergegangen. Ein langer Tag neigte sich seinem Ende zu. „Und zwei davon wären dann ein Doubleslash…". Wieder ein Gähnen. „Und drei, warte mal, ich hab ´s gleich …“. Gähnen mit krauser Nase.
„Du kannst gerne zu Fuß gehen, täte dir sicher gut. Du scheinst ein bisschen unter Sauerstoffmangel zu leiden. O2, verstehst du?“ Der Motor hatte dann sein Nörgeln eingestellt und den Polizeipassat in gleichmäßiger und zügiger Fahrt nach Schmallenberg gebracht.
Sie waren in den nächsten Tagen mehrmals ins Krankenhaus gefahren, um den Zeugen zu befragen, der von dem Fluchtfahrzeug angefahren und schwer verletzt worden war. Aber entweder war er im Tran nach einer weiteren Narkose oder zum wiederholten Male frisch operiert. Eine brauchbare Aussage zum Hergang des Überfalls war nicht zu bekommen. Einmal hatte er eine krakelige 1 hinter Sport und vor de gemalt. Bei den Ermittlern erwachte Hoffnung auf Fortschritte. Der Fernsehsender Sport1 war Sonja ein Begriff. Gelegentlich sah sie sich Zweitligaspiele an. Ihre Nachforschungen ergaben, dass der Kanal vier Kastenwagen mit der Aufschrift sport1 im Einsatz hatte. Keiner war gestohlen oder verliehen oder verkauft worden, gerne werde man ein Foto schicken. Jedoch verwahre man sich gegen eine ungeprüfte Information der Öffentlichkeit, die den Eindruck erwecken könne, der Sender sei in ein Verbrechen verwickelt.
Kajott Sernau war der Mann, der ihnen damals auf die Sprünge geholfen hatte. Er war der zuständige Polizeigrafiker. Sein Büro befand sich in Arnsberg, seine Aufgaben erledigte er am liebsten am heimischen PC. Die zunehmende Vernetzung und die schnellen Leitungen kamen ihm zupass. Mal waren es Tatortskizzen, mal Phantombilder und Täterporträts, mit denen er sich zu beschäftigen hatte. Manchmal waren Bildausschnitte zu vergrößern oder zu vergleichen. An seinen nebenberuflichen Tätigkeiten im Werbedesign hatten seine Dienstherren nichts auszusetzen, solange er jederzeit verfügbar blieb.
Sernau war eine Autorität in seinem Metier. Seinen glänzenden Ruf verdankte er einem guten Auge, Fantasie und einem phänomenalen Gedächtnis für Bilder, Symbole und Logos. Lust und Freude an der Arbeit waren Zugabe.
Sonja erinnerte sich. Sie arbeitete gerne mit Menschen zusammen, die schnell verstanden, um was es ging. Bei ihren Kollegen im Team setzte sie voraus, dass diese ähnlich tickten wie sie selbst. Nicht gar so schnell, aber doch in die richtige Richtung weiterdachten, möglichst ohne Umwege das Ziel suchten und fanden. Wenn das sogar bei Menschen funktionierte, die aus einem anderen Fach ihr zuarbeiteten, war sie beeindruckt. Nur die Pathologen hatten einen schweren Stand bei ihr. Sobald sie einen Vertreter dieser Spezies von Ferne sah, stieg ihr eine Mischung aus Seifen-, Desinfektionsmittel- und Leichengeruch in die Nase, die sie dann den ganzen Tag nicht mehr loswurde. Das klappte sogar per Telefon über Hunderte von Kilometern und hatte nichts mit mangelndem Respekt oder Klischeedenken zu tun. Eher hing das mit der Beziehung zu einem Medizinstudenten zusammen, die in grauer Vorzeit traurig gescheitert war, nicht zuletzt an dessen Gewohnheit, gemeinsame Mahlzeiten mit anschaulichen Erzählungen aus dem Seziersaal zu würzen.
Kajott Sernau trug kein solches Handicap mit sich. Er hatte immer geliefert. Er kannte seinen Wert. Tat gerne geheimnisvoll, kam nicht sofort auf den Punkt, erging sich in Andeutungen, holte aus. Unterbrach man ihn und stachelte ihn zur Eile auf, dauerte es meistens länger, weil er mindestens die letzten beiden Sätze wiederholte. Und wenn man Pech hatte, war einer von denen einer seiner langen. Ein Workaholic war er nie. Gelegentlich ließ er alles stehen und liegen, lud seine Partnerin Annette in sein altes Golfcabriolet und juckelte Richtung Alpen oder weiter ans Mittelmeer. Falls dann dringende Aufträge anfielen, hatte er eine Vertretung in der Hinterhand. Die abgekürzte Neuschöpfung seines Vornamens Karl-Josef war ein Überbleibsel aus seiner Zeit als junger suchender Künstler. Damals war ihm die Anstellung bei einer staatlichen Behörde und erst recht der Polizei hauptsächlich peinlich und auf keinen Fall einer Erwähnung wert.
Mittlerweile waren die über den Kragen reichenden Locken silbergrau. Das goldene Halskettchen lugte ins Freie. Dass die edlen Halbschuhe glänzten, darauf konnte man unbesorgt setzen. Die Mischung aus Gelassenheit, Selbstbewusstsein, Schlampigkeit und Eitelkeit schuf bei den meisten seiner Gegenüber Vertrauen.
Erst kürzlich hatte Sonja ihm alte Fotos gezeigt von einem Verdächtigen, der sein Aussehen mit der Zeit erheblich verändert hatte. Aufgrund welcher Merkmale es sich doch um ein und dieselbe Person handele, hatte er etwas weitschweifig, aber logisch und überzeugend dargelegt.
„Erinnern Sie sich an Ihre Kastenwagen?“, hatte er daraufhin gefragt. Ja, er holte sich ein Lob gerne nach einer gewissen Zeit ein zweites oder drittes Mal ab. Sonja hatte kurz überlegt, wie sie geschickt in eine Kurzfassung der Geschichte abbog, ließ Sernau dann aber gewähren. Es gab schlechtere Geschichten. Damals hatte er fünf Kastenwagen mit einer weißen Verkleidung entworfen. In die erste Variante hatte er das Logo des Fernsehsenders Sport1 hineinkopiert, so wie man es kannte. Den anderen vier Wagen verpasste er das Logo mit einem .de/ darunter, wie es der Zeuge beschrieben hatte. Er probierte verschiedene Schriftarten, groß und klein, fett und kursiv, und bedauerte nur, dass ihm kein Tatzeuge über die Schulter sah, um „Stopp! Genauso hat er ausgesehen!“ zu rufen, spontan und felsenfest überzeugt.
Sernau gab das alles so wieder, als sei es gestern passiert und vollkommen neu für die Kommissarin. Wie er versucht hatte, sich aus ästhetischen oder werbestrategischen Erwägungen an eine Version heranzutasten. Sein kritisches Gespür hatte ihn nicht befriedigt. Dann hatte er seinen Rechner hinuntergefahren, seinen Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Lauter Kastenwagen mit Aufschriften sport1 und .de/ waren in seinem Kopfkino vorbeigefahren, dann hatte der Geistesblitz gezündet. Gelächelt hatte er, einen Bleistift zur Hand genommen und rasch ein paar Worte auf ein Blatt Papier gekritzelt. Dann gepustet, als sei Tinte zu trocknen, die rechte Hand zur Faust geballt und mit der linken sein Handy aus der Hosentasche gepflückt.
„Und dann war bei Ihnen nur die Mailbox zu erreichen.“
„So etwas nehmen Sie persönlich, nicht wahr?“, hatte sie geantwortet. Der Mailbox hatte er nichts verraten. Seine Ansage hatte sie wichtigtuerisch empfunden und sich geärgert.
„Hallo, Frau Seeger. Sernau hier. Hören Sie, Ihr Zeuge hat sich vertan. Nicht genau hingeguckt, sich etwas eingebildet, wer weiß. Aber ich weiß, was in Wahrheit auf dem Wagen, den Sie suchen, steht. Rufen Sie bitte zurück?“ Und dann war er selbst mitsamt seinem Handy einen Tag nicht erreichbar.
Der Sernau war schon etwas speziell. Morgen würde sie sich wieder um die aktuelle Arbeit kümmern, heute kriegte sie den Kopf nicht mehr frei. Sonja fuhr nach Hause. Sie wollte ein wenig nachdenken. Aber den Ball flach halten.