Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 14

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„Ich bin hier nur der Schließer.“ Paul Kleefisch hatte normalerweise keine Komplexe. Er war ein gestandener Mann. In zehn Monaten Rentner. Der Ruhestand konnte kommen, der wohlverdiente. Dieser Meinung war nicht nur er selbst. Er hatte sich Respekt verdient in seinem Berufsleben, Respekt von „denen da oben“ und von „denen da drinnen“. So pflegte er seine Vorgesetzten von seinem Arbeitsumfeld zu unterscheiden. Wenn er von sich als „dem Schließer“ sprach, war das kokettes Understatement. Das provozierte zu Widerrede, passte in eine britische Fernsehserie und überhaupt zu seiner Art Versteckspiel wie heute in dem Besprechungszimmer der JVA.

„Da müssen Sie den Direktor fragen …, darüber darf ich keine Auskunft geben …, das hat sich außerhalb der Dienstzeit abgespielt …“, und andere ähnlich wenig gehaltvolle Antworten ließen Stojan bald schon den Sinn und Wert der langen Anfahrt hinterfragen. Auch ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ schien er sich abgewöhnt und durch ein „Warum nicht?“ oder „Ich denke darüber nach“ ersetzt zu haben. Stojan glaubte sich schon in eine Parodie auf Egon Bahr versetzt. Motto: Wie gibt man in einem Interview weniger preis als nichts.

Sah Kleefisch nicht sowieso aus wie Egon Bahr? Die hohe Stirn, dahinter der Ansatz des ergrauten Haars, in der Mitte etwas nach vorne gezogen, die dunkelgeränderte Brille? Zum Verwechseln ähnlich.

Stojan blieb defensiv, das Forsche war nicht sein Stil und heute schon mal gar nicht. Er konnte Paul Kleefisch einschätzen. Er hatte immer mal wieder mit ihm zu tun gehabt, dann gerne mal ein bisschen geschwätzt und diesen knorrigen Typen zu würdigen gelernt.

„Hören Sie, ich hoffe, der Mann hat seinen Frieden gefunden. Und genauso, dass ihm irgendwo gutgeschrieben wird, dass er die ganze Zeit für andere den Kopf hingehalten hat.“, sagte Kleefisch überzeugt. „Und ich will nicht dauernd daran denken müssen, dass ich sein Seelenheil vermasselt habe, bloß weil ich mich jetzt aufplustere und herumplaudere.“

Tja, was will man machen. „Akzeptiert! Das erkenne ich an“. Stojan versuchte eine andere Taktik. „Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Aber ich weiß etwas, was Sie nicht wissen. Giovanni Amuso bekommt nirgends eine Gutschrift für sein Seelenheil. Man hat den armen Teufel ausgenutzt und betrogen nach Strich und Faden. Ihn und seine Familie. Er hat seine Schuld bezahlt, seine und die von anderen.“ Stojan legte eine Pause ein. Das sollte sacken. Und wirken. Er rutschte mit dem harten Stuhl etwas nach hinten und schlug die Beine übereinander.

„Ich will Gerechtigkeit. Sicher war der Mann verstrickt in ein Verbrechen, hat Schuld auf sich geladen. Aber er hatte trotzdem seine Ehre, und er hatte seine Familie, und das ist schon wichtig für einen unscheinbaren Mann aus dem Süden. Familienehre ist da sogar wichtiger als Seelenheil. Die ihn verraten haben, sollen nicht ungeschoren davonkommen, nachdem Giovanni zweimal bezahlt hat.

Zuerst ist er eingefahren mit sicher deutlich höherer Haftstrafe, als wenn er Ross und Reiter genannt hätte. Dann hat er obendrauf die Restzahlung mit seinem Tod übernommen. Das war aber nicht sein Deckel, verstehen Sie?“

Stojan war nicht sicher, ob er das alles logisch aufgebaut hatte, fand aber schon, dass Kleefisch sich jetzt mal dazu äußern könnte. Das mit der Familie und der Ehre hatte er aus sich heraussprudeln lassen, auf der Hinfahrt erst hatte er sich mit diesem Aspekt befasst. Für einen Italiener, zumal einen aus dem tiefen Süden, waren das keine bedeutungslosen Begriffe. Da konnte etwas dran sein, und sei es ein Motiv für Schweigen oder für Rache. Ein Schuss ins Blaue, der ins Schwarze traf? Stojan nahm sich einen Moment Zeit, diesem Bild nachzugucken, und er tat das mit dem Anflug eines zufriedenen Lächelns.

Kleefisch sagte nichts. Er blickte auf die Uhr in dem kleinen Raum, in dem sonst Beamte mit Besuchern sprachen, Anwälte einen Kaffee tranken und Dienstpläne geändert wurden.

Dann aber doch: „Ich habe seit einer Viertelstunde Feierabend. Man sieht es nicht gerne, wenn wir uns in unserer Freizeit im Gebäude aufhalten. Wenn Sie wollen, können sie mich bis zum Parkplatz begleiten.“

Stojan wollte und konnte. Und tat es. So erfuhr er wenigstens, dass Giovanni Amuso selten Post bekam.

„Alles wird hier kontrolliert, was nicht als Verteidigerpost gekennzeichnet ist. Im Fall Amuso war das Täterwissen für die Justiz von enormem Interesse. Weder die Beute noch die Tatwaffen oder die Komplizen, darunter der mutmaßliche Todesschütze, waren gefunden worden. Die sind auf freiem Fuß. Es sei denn, sie sitzen für eine andere Straftat ein oder sind verstorben.“ Der Blick in Stojans Richtung zeugte von Erfahrung und Autorität.

Stojan bedankte sich. „Für Ihre Zeit! War sogar kostbare Freizeit dabei, danke!“ War das ironisch gemeint? Er hatte es spontan und unüberlegt herausgelassen. Entsprach seiner Gemütslage: Er hatte sich mehr erhofft, gleichzeitig das Gespür, dass Kleefisch ihm etwas verheimlichte. Warum? Hatte er Angst? Vor wem? Vor was?

Er würde wiederkommen. Er wollte es mit dem Mann nicht verderben. Solange nicht. Und auch dann nicht. Hoffte er. „Sie wollten mir die Fotos zeigen von Amusos persönlichen Sachen. Die zur Tochter geschickt wurden.“

„Ja, Sie haben recht. Warten Sie, ich schicke sie Ihnen aufs Handy, dann kann ich sie löschen.“ Kleefisch holte sein Smartphone heraus und fand die Fotodatei sofort. „So, schauen Sie bitte nach, ob Sie sie haben.“

Den Piepton, der die Ankunft von irgendeiner Sendung auf sein Handy meldete, hatte Stojan schon vernommen. „Ja, lassen Sie mich kurz draufschauen.“ Kleefisch hatte mittlerweile die Tür seines Wagens geöffnet und drehte sich zu Stojan um, der rasch über die angekommenen Fotos scrollte.

„Hier, war das eine normale Bibel?“ Stojan zeigte auf einen vergrößerten Ausschnitt auf seinem Display. Kleefisch winkte mit einer Hand ab. „Eine italienische, aber sonst völlig normal.“

„Und was ist mit diesen Papieren?“

Kleefisch guckte nicht hin. „Herr Stojan, alles tausendmal kontrolliert, nirgends Geheimnisse, kein Versteck, keine Codes, glauben Sie mir!“

„Sie haben ja Recht. Vielen Dank! Darf ich sagen: Auf Wiedersehen? Kann sein, dass ich Antworten auf die eine oder andere Frage brauche. Oder wir kriegen etwas heraus und dann kann ich Ihnen etwas erzählen.“

Stojan reichte ihm die Hand. Dann hatte er eine Idee. „Wollten Sie nicht mal Ihre Erinnerungen schreiben? Sie haben mir doch so etwas mal erzählt.“ Gut, dass ihm das eingefallen war.

„Ja, das ist ein Traum von mir. Schon so oft angefangen, aber es funktioniert nicht. Die Fantasie fehlt mir. Sie glauben nicht, wie viele Persönlichkeitsrechte die Delinquenten haben. Davon kann unsereins nur träumen. Und das Schönste: Unsereins kann sich nicht solche ausgefuchsten Anwälte leisten wie diese Herrschaften. Und wenn die meinen, sich wiederzuerkennen, weil ich Namen oder Umstände nicht ausreichend verändert habe …“. Kleefisch seufzte.

„Erzählen Sie mir unbedingt mal davon. Das fasziniert mich. Es kann sein, dass ich einen Tipp für Sie habe.“

Das war versöhnlicher. Persönlicher. Und daran ließ sich anknüpfen und sehen, wie weit man kam. Ein anderes Mal. Außerdem reizte Stojan das in der Tat. Wer mit wachen Sinnen sein Berufsleben lang Menschen hinter Schloss und Riegel brachte, hatte genug Stoff, um etwas zu erzählen.

Stojan räumt auf

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