Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 6
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Sollte er Bilanz ziehen? Vorsätze formulieren? Weil ein neues Jahr anfing? Das sah Stojan nicht ein. Außerdem witterte er Gefahr für seine Bequemlichkeit.
Vorsätze waren etwas für Träumer. Träumer und Hellseher. War er nicht. Behaupteten einige. Er wusste es.
Dieses Mal war es anders, zugegeben. Er war nicht mehr allein. Emotional, unterbewusst. Streng genommen war er das vorher auch nicht, wenn er sich richtig entsann. Und wenn allein, dann nicht einsam. Die Rolle des Partners hielt Fido, der Boxerrüde, besetzt. Darüber war zu reden. Mit sich selbst. Und mit dem Hund. Gleich.
Ging es ihm gut? War das stumme Ertragen des Älterwerdens die richtige Strategie? Oder sollte er sich wehren?
Gelegentlich tat ´s irgendwo weh, linkes Knie, rechte Hüfte. Er ging regelmäßig mit seinem Hund spazieren, hin und wieder aß er mal einen Apfel. Wenn so Älterwerden funktioniert, konnte das seinetwegen weitergehen.
War ´s das? Neue Batterien konnte er seinem Blutdruckmessgerät mal spendieren, die letzte Messung nach seinem Unfall vor einem halben Jahr hatte er nicht mehr ablesen können. Konnte auch an den Augen liegen, da war manchmal ein feiner Schleier. Dass es im Kopf schon mal hämmerte, war wohl normal. Aber er aß gesund, selten Fast Food, wenig Süßigkeiten. Oder er ging zu Tasso.
„Griechische Küche ist die gesündeste der Welt!“, sagte der auch ungefragt oft und gerne. Bei Tasso spielte er auch wieder Schach. Mit anderen Rentnern, dienstags abends ein paar Stunden. Dann wurden Könige, Damen und Springer bewegt, Stirne gerunzelt, Haare gerauft, gelegentlich „Schach“ gesagt. Ansonsten schwieg man sich die meiste Zeit an. Das war zweifelsohne gesund.
Nach wie vor pflegte er freundschaftlichen Kontakt zu seinen ehemaligen Mitarbeitern. Sonja Steeger ließ ihn immer mal wieder an aktuellen Fällen teilhaben. Seine Perspektive hatte Gewicht und sie nahm gerne Tipps ihres alten Chefs wenigstens zur Prüfung mit. Gelegentlich wurde es etwas sentimental, wenn man in Erinnerung an frühere Fälle ins Schwelgen geriet. Die meisten hatten sie im Team gelöst, den letzten nach Stojans Pensionierung.
Mit Jankowski traf er sich alle paar Wochen zum Angeln. Das heißt, Jankowski angelte und Stojan sah zu. Es wurde diskutiert, philosophiert, geblödelt, man tauschte sich aus. „Von Mann zu Mann“, nannte Helen das. Kriminalfälle, die Fragen offengelassen hatten, die ungelöst abgelegt worden waren, tauchten in ihren Gesprächen ab und zu auf wie Fische an der gebogenen Angel. Stojan brauchte das, die Erinnerung an alte Fälle war er den Opfern schuldig.
Jankowski selbst schätzte die abwägende Grübelei seines ehemaligen Chefs. „Der Chef denkt eben noch analog“, war das eine oder andere Mal dann sein eher bei- als abfällig gemeinter Kommentar.
Aber was war mit Helen? Das war die wichtigste Frage. Darum kam sie auch zuletzt. Sie hatten an den Weihnachtstagen harmonische Stunden verbracht, die Zeit vergessen, vertrunken, verschlafen und sich in den Winterberger Wäldern verlaufen. Sie hatten beide gespürt, dass da etwas gewachsen war. Gesprochen hatten sie nicht darüber, keiner wollte auf ein zartes Pflänzlein trampeln. Zunächst nur genießen. Aber dass Helen Silvester bei ihrem Bruder in Süddeutschland verbracht hatte, hatte ihm schon einen Stich versetzt.
Stojan hatte mit Fido in seinem Bungalow an einer möglichen Zukunft gemalt, war bei seinen Überlegungen aber schon am Wort Bungalow hängen geblieben und hatte viel Zeit verschwendet mit Recherchen über die Herkunft dieses Begriffs. Ja, Zeit verschwenden zu können, erschien ihm durchaus ein reizvolles Privileg des Single-Daseins zu sein. „Wenn Helen da ist, riecht es besser, was meinst du, Fido?“ Der Hund schnupperte: Da lag ein Stück Käse von gestern, drei Teller standen in der Spüle und warteten auf heißes Wasser, ein paar Gläser daneben. Die Flaschen müssten zum Altglas. Die gelben Säcke hatte er längst schon untersucht, seine Fleischdosen schienen alle leer zu sein. Die Socken auf dem Sofa gehörten Herrchen, der Knochen daneben ihm. Ein 2016er.
Nein, der Hund hatte an dem Geruch im Hause Fido-Stojan nichts auszusetzen. Aber Helen sollte trotzdem gefälligst bald wiederkommen.
Die klare Winterluft, die sie dann mittags auf dem Spaziergang begleitete, räumte die Nasen von Herrn und Hund auf. Wenig Schnee an den Wegrändern, ein paar angetaute Regenpfützen, der Blick nach vorne und nach oben war angenehmer: ein bisschen Blau, ein heller Schimmer. Der Kopf wurde geputzt, freier. Und beschloss, dass im Moment keine Entscheidungen anstanden. Keine, die an Bedeutung die Frage nach der nächsten Mahlzeit übertraf.
Beinahe hätte er die Wildkamera übersehen, die an einem Weidezaunpfahl kaum dreihundert Meter hinter seinem Grundstück befestigt war. Er wusste, dass solche Kameras auf Bewegung reagierten, zur Wildbeobachtung und Grundstücksüberwachung eingesetzt wurden. Oder gestörten Persönlichkeiten beim Spannen ihre Dienste anboten. Zu letzteren zählte er unbedingt seine nächsten Nachbarn, ein Geschwisterpaar. Sie besaßen einige Wiesen und Waldstücke. Früher hatte Stojan den ehemaligen Soldaten und seine als Seherin firmierende Schwester für schrullig gehalten. Mittlerweile hatten sich die beiden als äußerst unangenehme Zeitgenossen entpuppt. An Fensterscheiben und an den vorgelagerten Schuppen pinnten sie wechselnde Slogans, die ihre rassistische Grundeinstellung kaum verhehlten. Und deren strafrechtliche Relevanz nach Stojans Meinung längst mal überprüft gehörte. Selten, dass er ohne irgendwelche Mensch oder Hund beleidigende Nachrufe an dem Grundstück vorbeikam. Stojan war froh, dass deren Wohnhaus zwar in Sichtweite, aber dennoch weit genug entfernt von seinem eigenen lag.
Die Ausrichtung der Kamera machte ihn stutzig. Wieso auf den Gehweg? Der Asphaltbelag war längst übergegangen in einen schmierigen Untergrund aus vereistem Laub und mit wenig feuchtem Kies gefüllten Furchen, dazwischen standen vereinzelte Grasbüschel. Hier gab es nichts zu überwachen. Wild hielt sich nicht an Wegbegrenzungen. Selbst Liebespaare mit spärlicher Fantasie sollten romantischeres und komfortableres Ambiente finden, mit Sicherheit im frühen Januar. Hier fuhren gelegentlich Trecker her, Fahrzeuge der Forstbetriebe. Selten sah man Spaziergänger. Stojan wollte es jetzt wissen. War die Kamera mit einem Weitwinkel- oder einem Teleobjektiv ausgestattet? Er blickte zurück. Sein Grundstück lag gut sichtbar vor einer Kurve.
Völlig in Gedanken verpasste er eine Abzweigung und fand sich vor Tassos Kneipe wieder. Geschlossen. Er drehte um und schlug gemächlicheren Schrittes den Rückweg ein. Er würde die Kamera mitnehmen, beschloss er. Wenn sich einer deswegen zu beschweren hatte, wusste er wenigstens, mit wem er es zu tun hatte. Notfalls konnte er sich immer auf Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte berufen. Fido, der sich an die bummelige Gangart gewöhnt hatte, wurde ihm auf einmal zu langsam.
„He, Boxer, mach vorwärts!“ Ein paar Mal ruckte er an der Leine, bevor der Hund einsichtig war. Bald hatten sie die Wiese mit den Weidepfählen wieder erreicht. Sie standen im Abstand von circa sechs Metern zueinander, Stojan suchte sie mit den Augen ab. Welcher von den acht war es? Einen Drahtzaun zwischen den einzelnen Pfählen gab es nicht. Weit und breit waren weder Vieh noch Pferde zu sehen. Die Kamera war mit einem mehrmals um den Pfahl gewickelten Gurt befestigt, auffällig genug von beiden Seiten. Auf jeden Fall, wenn man aufmerksam war. Fünf der Pfähle hatten sie passiert, auch an den drei letzten hing keine Kamera. Stojan ging zurück, suchte Pfahl um Pfahl ab. War sie hinuntergerutscht? Er kontrollierte die Perspektive. Sein Haus lag am sichtbaren Ende des Wegs, kurz bevor er sich in einer Rechtskurve verlor. Hier war es, kein Zweifel. Vor knapp einer halben Stunde jedenfalls.
Stojan schritt ein weiteres Mal die Pfähle ab. Neuerdings ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er seine eigenen Wahrnehmungen hinterfragte. „Reine Vorsichtsmaßnahme, Fido, solltest du auch mal machen!“ Fido guckte unverständig. „Verdammter Mist! Warum habe ich die nicht sofort mitgenommen? Mist, verdammt!“
Das Fluchen half nicht. War das Zufall? Alles harmlos? Nirgends eine Wildkamera. Irgendwer hatte seine Beute eingetütet. Ob jetzt der Tierfreund seine Familie mit verwackelten Wildschweinen nervte oder der Wissenschaftler am Bildschirm die sauerländische Fauna einem internationalen Vergleich unterzog, war ihm schnuppe. Und wenn der Liebhaber schlüpfriger Filmchen seine Sammlung um menschliches Paarungsverhalten im Winter bereicherte, viel Spaß dabei. Ging ihn nichts an.
Wohl aber, wenn er die Zielscheibe war. Oder seine Gäste. Sollte er jemandem davon erzählen? Oder lachte man ihn aus?
In jedem Fall würde er etwas unternehmen. Aktiv. Mal beim Arzt durchchecken lassen. Oder war das passiv? Mal zum Friseur gehen. Das war eindeutig passiv. „Fido, was meinst du?“