Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 16
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Stojan starrte seit Minuten auf die Todesanzeige im Westfalenkurier, las zum zweiten Mal, halblaut, die Namen. Hatte er es gewusst? Ja, hatte er. So gut wie. Zumindest geahnt. Schon nach dem Anruf aus dem Gefängnis. Spätestens seit dieser Herumdruckserei von dem Grüneisen. Nein, nicht Grüneisen. Kleefisch heißt der Mann, Paul Kleefisch, nicht anders. Er hatte von Anfang an gewusst, dass dieser Fall nicht zu Ende war mit Giovanni Amusos Verurteilung. Es hatte weitergebrodelt unter der Oberfläche. Und es war nicht zu Ende mit seinem Tod.
Auf Anhieb kannte er die drei Namen nicht. Sie standen unten, etwas kleiner und nicht so fett wie Deine Freunde darüber. Von dem Toten, dessen Name die obere Hälfte der Anzeige für sich allein beanspruchte, hatte er mit einem Mal eine deutlichere Vorstellung als vor ein paar Tagen im Gefängnis. Giovanni Amuso. Stojan setzte seine Brille ab und prompt wurde das Bild scharf. Er hatte schon bei der Verhandlung nicht wie blühendes Leben ausgesehen, grau, faltig im Gesicht, leicht nach vorn gebeugt wie Menschen mit Rückenschmerzen.
Und dann dieses leise: „Non ho amici“. Immer wieder. Stojan erinnerte sich. Nicht an alle Einzelheiten. Aber wie wichtig es Giovanni war, dass er keine Freunde hatte, es immer wieder gesagt hatte.
„Wer waren die anderen? Wer waren deine Komplizen? Wer sind deine Freunde?“ Daran erinnerte sich Stojan gut.
„Ich habe keine Freunde“, „non ho amici“, je nachdem, immer mehrmals, meistens leise. Das war sein Mantra. Viel mehr hatte er nie gesagt, manche allgemeine Frage mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet, bestätigt, dass er keinen Dolmetscher benötigte. Stojan hatte als kommissarischer Leiter der zuständigen Polizeibehörde im Prozess ausgesagt. Der Fall Amuso hatte ihn zwar bewegt, er hatte ihn aber nicht mehr zur Chefsache erklärt. Trotzdem hatte es ihn gewurmt, dass sie kaum Erkenntnisse zu Tage gefördert hatten, keine Hinweise auf die anderen Täter, die Helfer, die Hintermänner. Solche Fälle tauchten später in Stojans Träumen auf und ließen ihn schlecht schlafen.
So war Giovanni Amuso eben allein verurteilt worden, hatte allein das volle Strafmaß abbekommen für bewaffneten Raubüberfall, versuchten Mord und Mittäterschaft bei Mord. Waren es elf Jahre gewesen? Oder zehn? Egal, mehr als ein Drittel davon wird er nicht abgesessen haben. Und jetzt ruhte er in Frieden, und die Freunde, die er nie gehabt haben wollte, tauchen mit einem Schlag auf. Um zu trauern. War das so?
„Von Trauer steht hier nichts.“ Fido rührte sich nicht. Der Hund kannte die Eigenart seines Herrchens, gelegentlich laut mit sich selbst zu reden. Wann er gemeint war, entschied sein gesunder Hundeverstand. „Oder ist der schwarze Rahmen schon Trauer genug?“ Ob Sonja die Namen etwas sagten?
Carlo Maurer, doch, der letzte, der Dritte im Bunde, falls es ein Bund war, da flackerte etwas auf. Stojan stand auf, tat ein paar Schritte. Das war doch …, war das nicht der Anwalt? Der immer behauptet hatte, er hätte alles versucht, die Mittäter aus Giovanni herausquetschen, um das Strafmaß zu verkürzen? Doch, Maurer. Jetzt hatte Stojan ein Bild vor Augen, wie Maurer auf Giovanni Amuso einsprach. Auf Italienisch. War der nicht sogar Italiener? An irgendjemanden erinnerte er ihn.
Er musste Sonja anrufen. Die las keine Tageszeitung mehr, jedenfalls keine aus Papier. Alles nur digital und Todesanzeigen passten seiner Meinung nach nicht in digitale Formate.
Enthusiastisch war ihm Sonja nicht vorgekommen an dem alten Tatort. Uninteressiert war sie aber nicht. Jetzt würde sie Augen machen, seine ehemalige Assistentin und sein verlängerter Arm, wenn es galt, in alten Fällen herumzustochern. Fälle, die den pensionierten Kommissar von Rechts wegen nichts mehr angingen, die ihn aber nicht in Ruhe ließen. Weil irgendetwas merkwürdig war, nicht passte, in einem neuen Licht anders aussah.
Ob Sonja einen Ermittlungsansatz sah? Oder die Staatsanwaltschaft? Die Mittäter und Mordschützen waren nicht ermittelt worden und erfreuten sich eines angenehmen Lebens, derweil ein anderer den Sündenbock gab. Das war nicht in Ordnung. Das ging ihn etwas an.
Vorsichtig versuchte er, mit Daumen und Zeigefingern die Anzeige aus der Zeitung zu trennen, aber der Riss im Papier suchte sich eigene Wege. Es wurde ein reichlich grober Zickzack. Die Anzeige rechts daneben kam unfreiwillig mit, zum großen Teil wenigstens. Egal.
Hauptsache, das Beileidsbekunden für Giovanni Amuso wurde nicht zerstückelt. Oder was auch immer das darstellen sollte.
Stojan trat auf die Terrasse. Ging ein paar Schritte in den Hang, blickte zum Wald. Nebel blickte zurück. Grauer Schneematsch am Wegrand. Seinetwegen brauchten die Tage nicht länger zu werden. Fido hatte sich jetzt aufgerafft und dehnte seine Vorderbeine in der Terrassentür. Dann verzog er sich wieder in die Nähe des Ofens, offenbar müde nach dem langen Spaziergang durch raues Gelände. Fünf Grad mochten es sein, Stojan hatte ein Gespür dafür entwickelt im Lauf der Jahre. Er atmete tief durch. Eine Idee wuchs in ihm, jede Störung war kontraproduktiv.
Bei anderen stieß ihm das Wort kontraproduktiv auf: modisch, ungenau, inflationärer Gebrauch, gab es früher nicht. Hier fand er es passend. Er überlegte, ob er in seiner Datei, in der er unschöne Worte sammelte, eine Spalte mit Ausnahmeregelungen einrichten sollte, verschob die Entscheidung dann. Obwohl kontra und pro in einem Wort, das hatte doch bestimmt die Boulevardpresse erfunden. Zurück im Wintergarten, setzte er sich in den Ohrensessel und schloss die Augen. Nein, keine Ausnahmen.
Stojan sammelte sich. Er hatte eine Idee, wie er vorgehen könnte. Die Idee sollte Formen annehmen. Das brauchte Zeit.