Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 15
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Stojan schloss den Reißverschluss seines Anoraks. Helen hatte sich mit dem linken Arm bei ihm untergehakt und in seinen Ärmel verkrallt. Mit dem rechten hielt sie eine Fahne hoch, deren aufgemalte Buchstaben im Wind nicht zur Ruhe kamen. Sie war froh, dass Stojan mitgekommen war, mit ihr gemeinsame Sache machte und mit ihrem Verein Menschen auf der Flucht.
Etwa dreißig waren sie, überschlug Stojan. Sie standen in kleinen Grüppchen, aber doch nah beieinander vor dem ehemaligen Schulgebäude, in dem fast zweihundert Flüchtlinge untergebracht waren. Eine Gruppe von rund zwanzig Männern hatte sich etwas abseits davon aufgestellt, die meisten in Parkas, einige mit Fellmützen, schweigend, die Augen voller Fragen. Wohl Bewohner der Unterkunft, mutmaßte Stojan.
„Da vorne steht Mareike“, Helen machte ihren linken Zeigefinger lang. „Mareike Sydow-Krantz. Sehr engagiert. Auch als Journalistin, ihre Texte könnten wir gut gebrauchen für unsere Sache. Ist aber nur privat hier. Beim Westfalenkurier arbeitet sie halbe Tage und verkauft da Werbe- und Stellenanzeigen und so ´n Zeug. Eindeutig unterfordert, wenn du mich fragst. Die sollte Leitartikel schreiben!“ Stojan sah angestrengt in die angezeigte Richtung. „Aber dann würde sie sofort gefeuert. Sie hat uns geflüstert, dass Neonazis aus Dortmund unterwegs sind, um hier im Sauerland Präsenz zu zeigen und bei der Gelegenheit ein paar Scheiben einzuschmeißen.“
Stojan zog Fido etwas näher zu sich. „Und das sagst du mir jetzt? Dann hätte ich mich wärmer angezogen.“
„Und deinen Motorradhelm aufgesetzt, nicht wahr? Nein, Helden und Märtyrer sind nicht vorgesehen. Wir müssen nur achtgeben, dass Fido die richtigen Leute beißt. Fido, hast du gehört?“ Der Hund hechelte. Sah hoch zu Helen, die Rute aufgerichtet. Stojan tätschelte seine Flanke.
Der Treppenabsatz vor dem Schuleingang wurde von zwei jungen Männern zu einer Bühne hergerichtet: Banner am Geländer, eine Absperrung nach vorne und ein kleiner Tisch, auf dem ein Megafon lag.
„Von der Landesregierung soll auch jemand sprechen. Da musst du dann pfeifen.“ Helen grinste. „Egal, was er sagt! Wir wissen nämlich, was er meint. Deshalb sind wir hier.“
„Hör mal, ich war schon bei Demos, als du nicht mal wusstest, was eine Pfeife ist!“ Langsam fühlte sich Stojan wohler. In der Tat, es war lange her, dass er für oder gegen irgendetwas auf die Straße gegangen war. Als Beamter wäre das manchmal heikel gewesen. Aber er erinnerte sich gerne an diese Zeiten. Und selbstverständlich hatte er seine Hundepfeife eingesteckt. Jetzt bemerkte er zwei Streifenwagen am Straßenrand. Es wurde langsam eng.
Stojan konnte nicht sehen, ob weitere Gruppen auf dem Schulhof standen. Er studierte die Plakate und Transparente, die jetzt zahlreich in die Luft gehalten wurden: „Refugees are welcome here“, „Nazis raus“, „No border, no nation“.
„Der Mann, der gleich redet, ist Dr. Timmermann. Religionslehrer.“ Stojan blickte zu der provisorischen Bühne. Ein Endvierziger in einem olivgrünen Anorak hatte sich ein Transparent um den Hals gehängt, auf dem in großen Lettern stand: Kein Mensch ist illegal. „Bei dem musst du klatschen! Guter Mann. Ein Gerechter.“
Ein Gerechter? Stojan stutzte. Sind Gerechte die richtigen Leute bei einer Demonstration? Hätte er zunächst mal nicht vermutet. Früher bei den Demos gegen die Schlechtigkeit der Welt hatten sie nicht nach Guten oder Gerechten gefragt, sondern nach Großen und Starken und Unerschrockenen. Stojan tüftelte an einer gelungenen Erwiderung, als es plötzlich laut wurde. Junge Männer, einige mit rasierten Schädeln, Parkas und Schnürstiefeln aus dem Armyshop, waren im Stechschritt in zwei Fünferreihen anmarschiert und knallten die Hacken zusammen.
„Ausländer raus aus unserem Haus!“, skandierten sie und entrollten ein Banner. In Runenschrift konnte man Sauerländer Aktionsfront Heimat entziffern. Gleichzeitig hatten sich die Streifenwagen am Straßenrand verdreifacht. Die ersten Beamten in Schutzwesten setzten sich in Bewegung.
Helen drückte sich an Stojan. Sie hatte wieder jemanden gesehen, auf den sie aufmerksam machen wollte. „Guck mal! Da vorne, der mit dem Filzhut, der arbeitet als Grafiker bei euch, kennst du den? Sernau heißt der. Seine Lebensgefährtin ist eine von uns, Annette Wienicke, die steht daneben.“ Den letzten Satz musste sie brüllen, Stojan war nicht sicher, ob er alles verstanden hatte.
„Flüchtlinge rein, Nazis raus!“. Ein vielstimmiger Chor übernahm, der weiter anschwoll und in dem zu seiner Überraschung Stojan die eigene Stimme deutlich ausmachen konnte. Aus der Gruppe der Flüchtlinge kamen laute „Danke!“-Rufe und „No deportation!“. Die Skinheads versuchten eine Zeit lang dagegen zu halten, sahen dann aber ihre Chancenlosigkeit ein, rollten ihr Transparent ein und zogen von dannen. Nicht, ohne die Faust in den Himmel zu recken und zu rufen: „Wir kommen wieder!“ Helen gelang es, Fotos mit ihrem Handy zu machen. Jetzt sah er, dass in der hochgereckten Hand eines der Sauerland-Nazis etwas aufblitzte. Ein Messer, war sein erster Gedanke. Er blinzelte, um besser fokussieren zu können. Nein, das war keine Waffe, der Bursche hatte ebenfalls eine kleine Kamera oder ein Handy und hielt es von oben auf die Menge ihm gegenüber.
„Einem von denen bin ich beruflich schon mal begegnet“, rief Helen ihm zu.
„Besser beruflich als privat“, rief er zurück. Die Sozialarbeiterin konnte sich ihre Kundschaft nicht aussuchen. Ein paar Transparente und Flaggen blieben eine Zeit lang oben, gehalten von jungen Männern mit ordentlich gescheitelten Frisuren. Auch die kamen in Helens Fotodatei.
„Guck mal, da steht IB, das ist die Identitäre Bewegung. Nazis wie aus dem Bilderbuch.“
„Aber leider einem aktuellen!“ Stojan kannte sich in der Szene aus. Er hatte weitere Fotomotive entdeckt. „Nimm die Typen dahinter auch mit auf, das sind Burschenschaftler aus Marburg. Angeblich haben die mit den Nazis ja nie etwas zu tun. Wer weiß, ob es mal nutzt, sie der Lüge zu überführen.“ Die Veranstaltung verlief ungestört weiter. Ein paar Redner vom Aktionsbündnis ernteten Beifall, ein Staatssekretär aus dem Innenministerium musste mit Buhrufen und Pfiffen aus einer Hundepfeife vorliebnehmen. Stojan hatte sich auf Geheiß der Polizisten etwas zurückgezogen, man war sich Fidos Friedfertigkeit nicht sicher.