Читать книгу Stojan räumt auf - Norbert Möllers - Страница 7
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Die Tabletten wirkten. Nicht dass die Schmerzen nachließen, nein, kein bisschen, eher das Gegenteil war der Fall. Der alte Mann ächzte. Das Sofa wurde ihm unbequem. Aber das Rumoren im Bauch und die aufsteigende Übelkeit ließen keinen Zweifel aufkommen: Ein Prozess war in Gang gesetzt worden. Musste ein chemischer Prozess sein. Er kannte das. Bald würde sich der Druck verstärken, kaum aufhalten lassen und dann musste er wieder gehen, sich bücken und hocken und hoffen, sich später wieder hochhangeln zu können. Morgen wollte er die Tabletten weglassen, ausprobieren, ob sie eine andere Wirkung hatten als Grimm und Revolte in den Eingeweiden. Eine Nebenwirkung, die er erst wahrnahm, wenn sie fehlte. Zum Beispiel Unterdrücken von anderen Schmerzen, die sich dann frei entfalten durften: im Kopf, im Nacken, in den Fingern, da, wo er sonst wenig Qual verspürte.
„Danke! Danke, dass ich nicht auch Schmerzen an der Nasenspitze habe, danke. Liebe Nasenspitze, dich mag ich lieber als den Rücken, weißt du das schon?“
Manchmal halfen Selbstgespräche. Überhaupt war er seltsam klar, konnte von gestern bis morgen denken. Oder weiter.
Vielleicht hatten die Tabletten einen weiteren Nutzen. Einen, indem man sie nicht nur nicht einnahm, sondern sammelte. Damit sie dann alle ihren gemeinsamen Auftritt bekommen, als großes Orchester. Ein Tutti, hieß das nicht so? Oder Tutto. Nein, Tutto hieß die Nachbarskatze.
„Hoffentlich muss ich nicht kotzen.“ Er hatte Geräusche vernommen. Oder sich eingebildet?
Manchmal helfen Selbstgespräche nicht. Seine Augen suchten nach einem Handtuch.
Alle hatten ihn ausgenutzt. Hätte er einen Sohn gehabt, wäre das anders ausgegangen. Oder eine Tochter. Aber das lag nicht an ihm, das lag an seiner Frau und ihren Gitanes. Ohne Filter. Gott habe sie selig.
Er war feige. Irgendwann war es zu spät. Ist nicht alles irgendwann zu spät? Jetzt ist es sowieso zu spät. Die Nichte sah traurig aus, wenn sie kam.
„Sie weiß etwas. Sie guckt in mich hinein.“ Seine Stimme war leise, er konnte sie selbst kaum hören. „Immer muss ich irgendetwas unterschreiben, was ich nicht verstehe.“ Gemurmel.
Und dann halfen sie doch wieder. Die Selbstgespräche.
Irgendjemand war im Raum. Er war sicher. Ohne die Augen zu öffnen. Er schob das Handtuch vom Gesicht.
So viel war ihm entglitten. Immer nur unterschreiben. Früher hatte er gearbeitet. Er merkte, dass es nicht gut war, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, die Schmerzen kamen wieder.
Jetzt wusste er, woher die Geräusche kamen. „Habe ich mehr Krebs oder mehr Kopfdurcheinander, weißt du das, Doktor?“ Er duzte die Menschen, die ihn besuchten. Das war einfacher für ihn. Manchmal kamen Menschen, die er nicht kannte, gestern erst oder vorige Woche. Der Arzt machte irgendetwas, drückte und horchte, schrieb etwas auf. Das musste er nicht unterschreiben.
„Du bist doch mein Hausarzt, oder?“
„Sicher, ich bin Ihr Hausarzt. Haben Sie heute wieder Schmerzen?“ Dr. Thilo Hebert duzte ihn nicht, er vermied die Anrede. Er hatte es mal mit „Heinz“ und „Sie“ versucht, sich aber dabei nicht wohlgefühlt. Und ihn mit Nachnamen anzusprechen, kam ihm nicht passend vor. Auf Respekt und Höflichkeit verzichtete der Arzt nicht, erst recht nicht bei alten und dementen Menschen. Und dieser hatte sicher etwas geleistet in seinem Leben, seinen Mann gestanden in dem Betrieb, in den er eingeheiratet hatte. Soweit Hebert wusste, hatte man es seinem mittlerweile ziemlich hinfälligen Patienten nie leicht gemacht.
„Du bist doch kein Neger, Doktor?“
Hatte er richtig verstanden? Der Regen klatschte laut gegen die Scheiben, stürmisch war es den ganzen Tag schon. Die Stimme des Alten schien von weit her zu kommen.
„Oder Jude?“
Was ging in dem Alten vor?
„Oder schwul?“ Lauter, bohrender.
Der Regen hatte einen schnell peitschenden Rhythmus gefunden. Der Arzt überlegte, ob er antworten sollte ober lieber so tun, als habe er nichts gehört. In einer halben Stunde fing seine Nachmittagssprechstunde an. Das Wartezimmer war donnerstags immer überfüllt, meistens schon um diese Zeit. Er war müde, und ihm war ein wenig übel. Er war völlig überrascht von dieser Attacke des Alten.
Ihn in die Schranken zu weisen, das war auch eine Sache der Hygiene. Hatte er die Kraft, die Zeit, die Lust dazu?
Der alte Mann sah auf einmal wieder klarer. Hatte der Doktor ihm eben eine Spritze gegeben? Ihm war so. Er hatte irgendetwas gesagt, was er besser nicht gesagt hätte. Die Miene des Doktors schien ihm abweisend. Aber auch abwesend.
„Ich brauche mehr Tabletten gegen Schmerzen, hörst Du, Doktor?“, sagte er. Dann habe ich sie schneller zusammen, sagte er nicht.
Dr. Hebert nahm noch etwas Auszeit. Dann war er wieder im Dienst. „Und wie ist es mit Übelkeit?“
„Geht so.“ Aber wenn er jetzt an die Firma dachte und wie das alles passieren konnte, dann wurde ihm wieder schlecht. Früher hatte er es verstanden. Es ging um Geld, das ihm gehörte, das war kompliziert. Dann spendete er es und es gehörte ihm nicht mehr. Das war verständlich.
„Ich schreibe welche auf.“ Der Alte sah, dass die Hände des Arztes zitterten. Was hatte er zu ihm gesagt? Er hatte es vergessen. Er war doch nicht unhöflich gewesen? Das war nie seine Art. Die Gedanken hüpften.
„Bist du etwa ein alter Nazi?“ Dr. Hebert hatte den Respekt verloren. Ganz nah war er ans Sofa getreten. „Ja? Bist du das?“ Jetzt rann dem Doktor sogar etwas Speichel aus dem Mundwinkel. Rasch packte er seine Utensilien in den kleinen Koffer und verließ den Raum und das Haus ohne Gruß.
Er musste mit der Nichte sprechen. Unbedingt. Es gab Grenzen.