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Eingesperrt bei Wasser und Brot
ОглавлениеEs war ein Sommer irgendwann in den späten 1960er Jahren, an das genaue Jahr und an den Grund der Strafe konnte sich Stefan nicht mehr erinnern. Was allerdings nie mehr aus dem Gedächtnis verschwinden sollte, war eine neue Perversität von einer Strafe. In dem Sommer war es üblich, dass sich die Familie mit einem befreundeten Ehepaar und deren 2 Kinder an einem ruhigen Uferflecken des in der Nähe fließenden Mains trafen. Die Stelle war am südlichen Mainufer zwischen Schweinfurt und Grafenrheinfeld und hatte einen geeigneten Zugang zum Wasser, man konnte dort gut ein kleines Boot festmachen. Es wurde gegrillt und mit dem Motorboot der Bekannten gefahren und die vier Kinder konnten herrlich in der Natur spielen. An diesem Wochenende sollte alles anders sein. Stefan hatte nicht so funktioniert wie es sich sein Vati vorgestellt hatte, Stefan durfte nicht mit zum Grillen. Er musste zu Hause bleiben. Was an sich für einen Grundschüler schon schlimm genug ist, wenn er aus der Familiengemeinschaft ausgeschlossen wird.
Nein sein Vater musste noch einiges obendrauf setzen. Zu dem Hausarrest kam noch hinzu, dass Stefan in einem Zimmer eingesperrt wurde. Gegen den zu erwarteten Hunger, das Grillen dauerte in der Regel immer von Mittag an bis sehr spät in den Abend, bekam er Wasser und Brot und für die Toilette gab es den emaillierten Nachttopf, welcher aus Metall war. Nicht genug der Demütigung, so drohte der Vater noch mit der Nachbarschaft als Aufpasser. Er machte seinem Sohn klar, das die Nachbarn im Haus und auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufpassen würden, wenn er rufe bzw. sich am Fenster zeigen würde. Sollte das der Fall sein, würde es so richtig Prügel geben. So verängstigt, verlassen und gedemütigt liefen dem Jungen, nachdem sie ihn alle verlassen hatten und er alleine in der Wohnung war, die Tränen an seinen Backen herunter. Nun saß er da am Tisch, vor sich sah er die verschlossene Zimmertür. Rechts von ihm die Zimmerwand, links war die Doppelbettcouch auf der beide Jungs schlafen mussten und hinter ihm das Fenster mit Blick zur Straße, mit Blick in die Freiheit. Er kam sich vor als säße er in einer Gefängniszelle, abgeschnitten von allen anderen Menschen. Stefan kam sich vor wie in einer Einzelhaft.
Einmal wagte er vorsichtig aus dem Fenster zu schauen, was sich danach als Fehler herausstellte, denn Stefan plagte den Rest des Tages die Angst, dass ihn jemand gesehen hatte. Stefan kam sich an diesem Tag vor wie von der Welt im Stich gelassen, was von seinem Peiniger sicherlich gewollt war.
Seine Mutter verstand es ebenfalls, Stefans Gefühle als Sträfling zu wecken. Fasching 1968 durften die Schüler maskiert in die Schule kommen. Die meisten Kinder kamen als Cowboy oder Indianer, selbstverständlich waren auch andere Kostüme und Verkleidungen zu sehen. Stefans Mutter hatte im Vorfeld die geniale Idee ihren Sohn als Sträfling gehen zu lassen, was diesem allerdings überhaupt nicht gefiel. In längsgestreifter Hose, in längsgestreifter Jacke und einer gestreiften Mütze mit Häftlingsnummer. Der Aufzug war einerseits so peinlich und andererseits wollte kaum jemand mit einem Gefangenen herumtoben.
Wie Stefan erst viele Jahre später erkannte, zeigte das Kostüm nicht einen normalen Gefangenen, sondern einen KZ-Häftling, noch geschmackloser ging es nicht mehr. Hier zeigte sich die Gesinnung, die noch in so Manchem aus der damaligen Generation steckte.
Eine seine weiteren beliebten Strafen, die der Vater gerne aussprach, war die des einhundertmal, zweihundertmal oder fünfhundertmal Schreibens eines Satzes, wie „Ich darf nicht….“ oder „Ich muss…….“ Das Schlimmste daran war nicht der Satzinhalt, nein das Quälendste war, dass je öfters der Satz geschrieben wurde, umso mehr schmerzten der Zeige- und Mittelfinger vom Halten des Füllers. Zu allem Übel musste das Ganze auch noch in Schönschrift verfasst werden. Und wehe, wenn die Schrift nicht seinen Wünschen entsprach, dann musste der kleine Stefan alles nochmal zu Papier bringen. Da konnte es leicht vorkommen, dass er mehrere Nachmittage damit verbringen musste, seine Strafe abzuarbeiten.
Wie oft saß Stefan am Tisch und träumte davon ein Vogel zu sein, der nichts weiter zu tun hatte als Futter zu fangen. Keine Sorgen die ihn plagten, niemand der ihn schimpfte und anbrüllte und niemand von dem er verprügelt wurde. Einfach keine Angst haben, keine Schmerzen erleiden und keine Erniedrigungen erdulden zu müssen. Das waren für Stefan unerreichbare Wünsche, wie beneidete er damals die Vögel, die frei umherfliegen konnten. Wie oft wünschte sich Stefan einfach nur tot zu sein oder das er gar nicht erst geboren wurde.
Diese Gedanken haben in der heutigen Zeit auch wieder verstärkt Kinder die sich auf der Flucht ohne jegliche Zukunftsperspektiven und in äußerst prekären Verhältnissen befinden. Aktuell sind hier die Flüchtlingslager in Griechenland zu nennen, wie Lesbos oder Moria. Auch hier spielen nicht wenige Kinder mit den Gedanken sich das Leben nehmen zu wollen.