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Tag 16

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Die Nacht verlief überraschend ruhig. Ich bin schneller als sonst eingeschlafen und habe mich gut erholt. Schon gestern Abend waren Wolken aufgezogen, heute Morgen waren sie immer noch da und hatten Dächer und Erde weiß überstäubt. Der Neuschnee knirschte angenehm unter den Füßen der Passanten, als ich am Morgen die kleine Fensterklappe öffnete, um zu lüften.

Seit dem Morgen ist der Strom weg, aber noch ist die Zelle nicht ausgekühlt. Wie angenehm es doch ist, wenn man nicht ständig frieren muss. Ich schreibe diese Zeilen im vagen Licht eines nördlichwinterlichen Maimorgens. Es ist kaum heller als das, was in der Nacht durchs Fenster dringt und das Dauerlicht in der Nacht übertrifft. Ich fühle mich zwar schwach, aber ich zwinge mich, in der Zelle auf und ab zu gehen, wenigstens ein paar Schritte, mehrmals am Tag. Die Muskeln sind erschlafft, aber irgendeine Form von Bewegung brauchen sie doch. Ich habe so ein Gefühl der Schwere in den Beinen, als würde ein Gewicht dran hängen. An dieser Stelle musste ich an Arthur Burton mit der Fußfessel und der Eisenkugel und an seinen schlurfenden Gang denken.

Gegen Mittag war die dünne Schneeschicht getaut, und obwohl vom Himmel Verstärkung in Form von feinen Flocken kam, konnte sie ihre Position auf der feuchten Oberfläche nicht länger halten. Die Temperatur um den Gefrierpunkt tat ein Übriges. Kurze Zeit später wurde eine Gruppe von Häftlingen mit langstieligen Schrubbern auf die nasse Straße gejagt, als ginge es ans Wischen von Fußböden. Sie fegten die Reste von Wasser und Schmutz auf, manchmal auf die Schaufel, meistens einfach an den Rand. Im Ergebnis war die Straße mit ihrem Betonbelag blitzblank. Offiziell hieß sie Hauptallee, sie durchzog das kleine Lager in gerader Linie und war so breit wie eine zweispurige Straße. Alle Bewegungen der Häftlinge und alle Kontrollen – der Zählappell zweimal pro Tag – spielten sich dort ab. Alle Gebäude und Baracken mit ihren Zäunen, dem Stacheldraht und den winzigen Hofkäfigen schmiegten sich an sie. Alles war kompakt, lag dicht beieinander, die Wege waren kurz. Ein kleines Lager wie eine Stadt en miniature mit einer einzigen Straße und einem Dutzend Häuser. Von meinem Fenster aus konnte ich den letzten Abschnitt dieser Allee sehen, es war praktisch eine Sackgasse.

Die Häftlinge in der Allee, die ihre zwei Stunden Arbeit zur Verschönerung des Lagers geleistet hatten, darunter auch sogenannte Freiwillige, also solche, die nicht unter Zwang, sondern auf eigene Initiative hin tätig waren, weil sie sich so eine vorzeitige Entlassung erhofften, waren so was wie Aktivisten12 auf einer halben Stelle. Die Böcke legten natürlich nicht mehr selbst Hand an, sondern gingen zu zweit neben dem Putztrupp auf und ab und sorgten für ordentliche Arbeit und Disziplin. Geputzt wurde jeden Tag, manchmal sogar zweimal täglich. Welche Gerätschaften dabei zum Einsatz kamen, hing vom Wetter ab. Mal Schaufeln für den Schnee, mal Schrubber, mal Besen. Manchmal war es sinnvoll, ein anderes Mal – wie etwa heute – nicht. Aber eine Regel wurde – selbst wenn sie noch so absurd war – nicht in Frage gestellt, also wedelte man wenn nötig mit einem Feger auf der sauberen Allee herum oder jagte – wie jetzt – ein paar Wassertropfen nach, die ohnehin vor den Schrubbern in die unzähligen Spalten flohen, von denen die Betonplatten auf der Straße überzogen waren. Da ich den roten Streifen für »fluchtverdächtig« trug, musste ich mich nicht mit dem sinnlosen Beseitigen von Niederschlägen abplagen, solche wie ich wurden nicht ohne triftigen Grund nach draußen gejagt. Alles hat eben auch seine gute Seite.

Gestern habe ich endlich meine Zeitungen bekommen! Ganze zwei Wochen hatte ich darauf gewartet, nun wurden sie mir endlich ausgehändigt. Ich habe hier die Nowaja Gaseta abonniert, die lese ich mit Unterbrechungen schon die ganzen vier Jahre, seit ich in Haft bin. Dank dieser Zeitung weiß ich wenigstens, was in Russland, in der Welt und vor allem in der Ukraine passiert. Das ist wahrscheinlich eine der letzten normalen Zeitungen hierzulande. Sie berichtet vorwiegend über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Sport. Das Übliche eigentlich, aber die Artikel sind gut, interessant und vor allem wahrheitsgetreu geschrieben. Allein das reicht schon aus, um in der heutigen russischen Gesellschaft als Oppositionelle, Volksfeinde und Erfüllungsgehilfen des State Department zu gelten. Obwohl die Volksfeinde normalerweise nicht in kleinen Redaktionen, sondern in geräumigen Büros sitzen. Die Zeitung erscheint dreimal pro Woche, aber die Ausgaben treffen hier im Lager mit ein- oder zweiwöchiger Verspätung ein. Ich bin froh, dass sie mir den Fernseher und nicht die Zeitung weggenommen haben. Lieber erfahre ich die Wahrheit mit zwei Wochen Verspätung, als dass ich jeden Tag mit neuen Lügen gefüttert werde. Eine Ausgabe ist ausschließlich den Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges gewidmet. Sehr interessant. Der Krieg – für mich nach wie vor eines der spannendsten historischen Themen – ist wie ein riesiger schwarzer Brandfleck auf der ganzen Menschheit. Hier geht es um die Menschen, die vielleicht mehr gelitten haben als alle anderen, um die Kriegsgefangenen. Du liest die ganzen Geschichten und begreifst, dass das, was mit dir passiert, nicht mal ein Zehntel so schlimm ist wie das, was jeder Einzelne von ihnen durchgemacht hat. Die heutigen Bedingungen sind mit denen von damals gar nicht zu vergleichen. Die größte Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen bestand aber gar nicht einmal darin, dass zwei Drittel von ihnen in der Gefangenschaft gestorben sind, und auch nicht darin, dass sie furchtbare Entbehrungen und Qualen erleiden mussten, zu denen das Fehlen jeglicher Nahrung und oftmals Schwerstarbeit gehörten. Sondern darin, dass viele nach ihrer Rückkehr ins Gefängnis mussten und mit Verachtung gestraft wurden, und selbst wenn ihnen das Gefängnis erspart blieb, war die Verachtung bisweilen schlimmer. In der Heimat hielt man sie für Feiglinge und Verräter und behandelte sie entsprechend. Sie mussten mit diesem nicht zu tilgenden Fleck auf ihrer Biografie und vor allem in ihrem Inneren leben, so wollte es die Stalinsche Politik, und so wurden sie vom sowjetischen Volk behandelt, das der Partei und dem Führer ergeben war. Ein verfluchter Staat. Ungerechtigkeit ist meiner Meinung nach einer der zentralen Begriffe in diesem Krieg.

Ein Artikel hat mich dann wieder zu dem Buch von Murakami zurückgebracht, das ich kürzlich gelesen habe, und zwar zu den Episoden über die japanischen Gefangenen, die in einem Lager in Irscha (Krasnojarskij Kraj) unter unmenschlichen Bedingungen gearbeitet haben und umgekommen sind. Murakami ergreift Partei für seine Landsleute, das merkt man dem Text an, das ist auch normal. Beiläufig erwähnt er die Exekution von mehreren Chinesen in der von Japan besetzten Mandschurei, angeblich war da alles rechtens, und trotzdem hatte der junge Offizier, der die Hinrichtung befehligte, große Gewissensbisse, zusammen mit dem Autor natürlich. Schön, elegant und nachvollziehbar beschrieben. Leider hat Murakami vergessen, wie die Japaner die von ihnen festgesetzten Engländer und Amerikaner behandelten, unter welchen Bedingungen sie lebten und wie hoch ihre Sterblichkeit war. Und die Millionen von getöteten chinesischen Zivilisten sind sowieso ein Thema für sich, das Japan nicht gerade zu Ehren gereicht. Jeder Staatsbürger und erst recht jeder Patriot versucht die Leistungen und Leiden des eigenen Volkes und Landes in den Vordergrund zu stellen und die Verbrechen zu ignorieren, unter den Teppich zu kehren oder nur am Rande zu erwähnen. Die Nowaja Gaseta schreibt über dieses Lager in Irscha, nicht nur Japaner, sondern auch Gefangene aus anderen unterlegenen Kriegsparteien und sowjetische Häftlinge mussten in den dortigen Bergwerken arbeiten. Im ersten Winter sind tatsächlich mehr Japaner als andere gestorben, aber das hatte nichts mit den Bedingungen zu tun, die waren für alle gleich, die Japaner sind einfach mit dem harten Klima in Sibirien und dem ungewohnten Essen nicht zurechtgekommen. Es dauerte keine drei Jahre, bis sie alle repatriiert wurden und auf ihre Insel zurück durften, aber Stalins Maschinerie zermalmte weiter menschliche Leben und Schicksale, wobei sie keinen großen Unterschied zwischen Russen, Japanern oder wem auch immer machte.

In der Zwischenzeit haben wir wieder Strom, und draußen scheint die Sonne.

Das Leben geht weiter.

12Die Aktivisten sind Rote, Böcke: Gefangene, die mit der Verwaltung kollaborieren, in der Kantine, Kleiderkammer, als Bibliothekare oder Barackenälteste verrichten sie die unterschiedlichsten Tätigkeiten.

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