Читать книгу Haft - Oleg Senzow - Страница 26
Tag 17
ОглавлениеEine schwere Nacht. Ich habe wieder schlecht geschlafen und war lange vor dem Wecken munter. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als morgens mit Kopfschmerzen aufzuwachen. Später habe ich dann in mehreren Anläufen noch ein bisschen Schlaf nachgeholt. Wieder Schwindel, dunkle Punkte vor den Augen und Ohrensausen. Heute bekomme ich wieder eine Infusion, was soll’s, das hilft immerhin.
Über Nacht hatte sich Schnee auf die Barackendächer gelegt, aber der feuchte Morgen hat ihn schnell vertrieben. Ein paar besonders hartnäckige, hohe Schneehaufen, die schon mächtig geschrumpft sind, leisten noch Widerstand und verteidigen verzweifelt ihre Streifen an den Zäunen wie die Deutschen Berlin.
Heute ist ein ganzer Haufen Natschalniki mit vor Sternen strotzenden Schulterklappen dagewesen. Sie haben mich gefragt, ob ich an einer Videokonferenz mit einem Bonzen aus Moskau, einem Mitglied des Föderationsrats, teilnehmen würde. Ich habe kurz überlegt und zugesagt. Manchmal muss man einfach Verhandlungen mit dem Feind führen, und sei es nur, um seine Kapitulation entgegenzunehmen. Dazu wird es hier sicher nicht kommen, wahrscheinlich wird er nichts sonderlich Konkretes sagen, sondern sich wie üblich nach meinen Haftbedingungen und meinem Befinden erkundigen. Aber eine offizielle Persönlichkeit von diesem Rang wird wohl kaum aus eigener Initiative und ohne die Zustimmung oder eine Anweisung von oben den Kontakt zu mir suchen. Das ist natürlich ein gutes Zeichen, aber warten wir erst einmal das Gespräch ab, die Tatsache, dass es stattfindet, ist wahrscheinlich wichtiger als sein Inhalt.
Aus der Kleiderkammer habe ich eine neue Häftlingsuniform, Hausschlappen, Bettwäsche und drei Paar Socken bekommen. Eine merkwürdige Zusammenstellung, vor allem wenn man bedenkt, dass ich eigentlich nichts davon brauche. Aber das ist hier immer so: Wenn du was brauchst, kannst du betteln, bis du schwarz wirst; wenn du nichts brauchst, schmeißen sie dir irgendwas hin, was ihnen gerade in die Hände fällt, nur damit sie in ihrem Bericht vermerken können, dass sie sich gekümmert haben.
Heute habe ich fast einen halben Tag im Krankentrakt zugebracht. Wieder Proben, dieses Mal auch noch Blut aus der Vene. Es wollte nicht in den vorgesehenen Behälter laufen: niedriger Blutdruck und zu dickflüssig, sie mussten den zweiten Arm nehmen. Untersuchung. Der Oberdruck ist tatsächlich unter hundert. Die anderen Parameter sind ganz in Ordnung, die Werte sind nicht exzellent, aber auch nicht schlecht. »Bislang ohne besondere Vorkommnisse«, wie sich der Arzt auszudrücken beliebte. Der richtige Einbruch käme nach der dritten Woche. Schauen wir mal, ich dachte, nach der zweiten. Sie haben ein EKG gemacht, das war auch unauffällig. Gut, dass es noch halbwegs in Ordnung ist. Aber das kommt sicher von den Infusionen, danach fühle ich mich immer besser und sehe, meint der Arzt, auch frischer aus. Diesmal waren es schon anderthalb Liter. Die Menge wird langsam gesteigert, und vielleicht kommen auch noch andere Substanzen hinzu, schließlich hat mein Körper keine endlosen Reserven. Wenn sie zu Ende gehen, wenn der kritische Punkt erreicht ist, würde der Doktor mich, das hat er schon angekündigt, zwangsernähren, sterben lassen würde er mich nicht. Nicht wegen mir, sondern wegen meiner Mutter und den Kindern. Künstliche Ernährung, das sind dann keine Nährlösungen aus der Flasche mehr, sondern ein Gummischlauch, der durch die Nase in den Magen führt. Eine ganz unangenehme Sache. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt. Und wenn doch, dann kann ich mit Sicherheit keinen Widerstand mehr leisten oder irgendwelche Erwägungen anstellen. Diese Grenze ist bei jedem Menschen individuell. Mal sehen, wo sie bei mir liegt.
Dann musste ich zum Psychiater und zum Endokrinologen. Bei allen dasselbe, sie machen sich Sorgen und kündigen Kontrollen an. Für den Psychologen hat meine Kraft nicht mehr gereicht, ich habe abgesagt. Wieder Kärtchen sortieren, auf dämliche Fragen antworten und diesen unglückseligen Gefängnispsychologen, die eigentlich selbst Hilfe brauchen, ins Gesicht sehen, dazu war ich nicht mehr in der Lage. Ich hatte heute schon genug Aufmerksamkeit von Seiten der Miliz, mehr als genug. Und sie steigert sich von Tag zu Tag, das macht mich stutzig. Dafür hat mir der Doktor ein paar frappierende Geschichten aus seiner fünfzehnjährigen Dienstzeit als Lagerarzt erzählt, sein Fundus ist unerschöpflich. Besonders beeindruckend fand ich die Geschichte von einer älteren alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn, einem aidskranken Ex-Junkie, der in dem Lager hier saß. Wie er über und über mit Einstichstellen bedeckt war und sie die finstersten Spelunken abgeklappert hat, um ihn aufzuspüren. Wie er sich angesteckt hat und dann eingerückt ist. Schon damals ging es ihm gesundheitlich nicht besonders gut, obwohl er noch nicht alt war, und im Knast wurde es nicht besser. Der Doktor hat ihn bestmöglich versorgt und schließlich erreicht, dass er aktiviert wurde – vorzeitig entlassen wegen seines schlechten Gesundheitszustandes. Wie er den Burschen schließlich unterhakte und nach draußen führte, während der sich mit der anderen Hand auf einen Stock stützte, weil er kaum noch laufen konnte. Wie die Mutter die beiden sah und ihnen an dem langen Zaun aufgelöst entgegenkam. Wie sie weiter telefonisch in Kontakt blieben und der Doktor ihn behandelte, weil die medizinische Versorgung draußen nicht unbedingt besser war. Er spritzte sich nicht mehr – weil er nicht mehr wollte und auch nicht mehr konnte. Wie es ihm schlechter ging und er ein halbes Jahr später nicht mehr laufen konnte. Fünf Jahre hat er noch gelebt, die er mit seiner geliebten Mutter verbrachte. Für die beiden war das eine gute Zeit, weil sie zum ersten Mal wirklich glücklich waren.