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Tag 20

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Der Allgemeinzustand hat sich stabilisiert, der Schlaf ist ruhiger geworden, ich kann länger schlafen, obwohl ich nach wie vor Thermounterwäsche und Socken trage, das ist nicht besonders angenehm, aber warm. Komischerweise fühle ich mich jetzt besser als zu Beginn des Hungerstreiks. Der Organismus hat sich offenbar umgestellt, und die Infusionen zeigen Wirkung. Die Schwäche macht mir natürlich zu schaffen, aber was soll’s, wo soll die Kraft auch herkommen.

[…]

Heute Morgen war der Beamte mit seinem Thermometer wieder da – wir haben also ein neues Ritual. Als das Mittagessen gebracht wurde, kam anstelle des Diensthabenden sein Stellvertreter aus der anderen Schicht, das war der, den ich ganz zu Anfang mit meiner Hungerstreik-Erklärung »überfallen« hatte. Er war damals ziemlich erschrocken und hat mich praktisch am Schlafittchen in die Dienststube geschleift, denn die Erklärung eines Hungerstreiks ist ein besonderes Vorkommnis, und kein Beamter möchte, dass sich so etwas in seiner Schicht ereignet. Jetzt war er gar nicht wiederzuerkennen, hinsichtlich Moral und Kultur ein ganz anderer Mensch, wahrscheinlich machte er auch beim Flashmob »Der nette Milizionär« mit. Ich musste lachen, als ich hörte, wie der Suppenkapo ihn vor der Tür instruierte und ihn über alle Facetten des Essensverweigerungsrituals in Kenntnis setzte. Der Milizionär mit seiner neu erworbenen Höflichkeit war zum ersten Mal an diesem Spektakel beteiligt und wollte sich keine Blöße geben, der Suppenkapo veranstaltete die Show dreimal täglich, weswegen er jedes Detail bis ins Letzte auswalzte. Kaum betrat nun ein neuer Schauspieler die Bühne, kam es auch schon zu einer kleinen Irritation. Die große Stahltür an der Zelle verfügt neben dem Schloss auch noch über eine Kette. Sie verhindert, dass sich die Tür sofort vollständig öffnet. Normalerweise schiebt der Beamte erst den Kopf, dann die Hand durch den Türspalt und, prüft mit einem Rütteln, ob die zweite, die Gittertür, auch verschlossen ist. Erst danach wird die Kette abgenommen, und es folgt der übliche Begrüßungsdialog. Ich drehe mich mit dem Gesicht zur Wand, dann wird die Gittertür geöffnet, und der Suppenkapo kommt mit seinen Tellern hereinspaziert. Heute allerdings war die Kette nicht vorgelegt, und die Stahltür sprang sofort auf. Der Milizionär war völlig perplex, hatte sich aber schnell gefasst und spielte seine Rolle weiter. Er schloss die Tür wieder, hakte die Kette ein und wiederholte den Vorgang nach dem vorgeschriebenen Muster, obwohl die ganze Aktion bar jeder Vernunft war. Es ist zwecklos, in diesem System nach irgendeiner Form von Vernunft zu suchen. Man kann diese Provinzposse nur mit einem müden Lächeln quittieren.

Der Wasserwart ist inzwischen zu einem Wart der Stille geworden. Er bringt mir nach wie vor mein heißes Wasser, aber er spricht nicht mit mir, höchstens ganz kurz, angelegentlich, wenn er mir den Rasierer gibt oder etwas anderes. Sein Gesicht habe ich schon lange nicht mehr gesehen, ich begnüge mich mit seiner Stimme und seinen Händen, was mir aber vollkommen ausreicht.

Inzwischen projizieren meine Dämonen abends keine Restaurantspeisen oder Hausmannskost mehr vor mein inneres Auge. Sie suchen sich etwas so Konkretes und Realistisches wie die Balanda und fallen nicht mehr auf meine kulinarischen Wahlkampfversprechen herein. Sie beknien alle und jeden in meinem Gehirnkasten, versuchen, ein Komplott mit den Händen zu schmieden, um ein paar Löffel Grütze oder Suppe abzufassen, wenn ich mit dem Rücken zur Zellenwand stehe. Die Dämonen kennen keine Moral, sie verstehen nicht, dass man jeden täuschen kann, sogar die Videokamera, nur nicht sich selbst. Denn damit muss man leben, und leben soll man ja, das wissen wir von Solschenizyn, nicht mit der Lüge. Als die Dämonen gemerkt haben, dass aus ihrem Plan vorerst nichts wird, bilden sie einen Hungerkreis und träumen von einer Diät, von einer doppelten Ration also, die ich bekomme, wenn ich den Hungerstreik beende. Brot mit Butter, besser gesagt mit Margarine, ein bisschen fetteres Fleisch auf der Suppe, eine halbe Tasse Milch statt einer kleinen Pfütze. Aber ich löse die Dämonenversammlung auf. Für eine doppelte Ration oder einen gestohlenen Löffel Suppe werde ich meine Prinzipien nicht verraten.

Als ich so zehn, elf war, bekamen wir im Sommer immer Besuch von Verwandten. Es waren viele, die meisten lebten im Ural, auf der Krim waren wir die einzigen. Also kamen sie zu Besuch oder auf Urlaub oder machten bei uns Station auf dem Weg in den Urlaub, es waren in jedem Sommer mehrere Delegationen, manchmal kamen sie auch für länger und verbrachten ihre ganzen Sommerferien bei uns. Das war in der Sowjetunion so üblich, und zwar nicht nur unter Verwandten und Freunden, sondern auch unter Bekannten. Die Leute waren freundlicher und offener, auch unsere Familie, wir hatten immer gern Gäste. Neben dem Ökotourismus auf dem Dorf und am Meer waren Ausflüge auf der Halbinsel ein Muss. Mit diesem Besuch fuhren wir nach Bachtschissaraj, sahen uns den Palast des Khans an, in dem sich ein Museum befand, und was es da sonst noch Sehenswertes gab. Ich war bestimmt vorher schon mal in dem Museum gewesen und später noch viele weitere Male, aber dieser Ausflug ist mir im Gedächtnis geblieben. Weniger der Ausflug an sich, der fast den ganzen Tag dauerte, als der Besuch des besagten Khanspalastes. Und es war auch weniger das Abschreiten der Gemächer, das Betrachten der Ottomanen, auf denen sich der Khan mit seinen Kissen gerekelt hatte, es waren nicht die kleinen Innenhöfe mit den Springbrunnen usw. Der Palast machte keinen großen Eindruck, schon gar nicht auf Erwachsene. Der damalige Herrscher der Krim lebte nicht luxuriös, und wenn man das sieht, ahnt man, wie schlecht es den einfachen Menschen gegangen sein muss. Ich fand etwas anderes beeindruckend – ein Bild, nicht seinen ästhetischen Wert, sondern das, was auf dem Bild dargestellt war. In einem Raum, offensichtlich in diesem Palast, stand ein Mann, seiner Kleidung nach zu urteilen slawischer Herkunft, umringt von verstörten und erschrockenen Dienern, Hofleuten und der Leibgarde des Khans. Der Herrscher saß auf seinem Thron, trampelte wütend mit den Füßen und schaute den Gast zornig an. Dieser stand würdevoll und gelassen da und blickte dem Khan direkt in die Augen. Die Reiseleiterin erzählte uns die Begebenheit, die dem Bild zugrunde lag. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber die Geschichte war ungefähr folgende: Bei dem Mann handelte es sich um einen Gesandten, der zum Khan geschickt worden war und sich nicht vor ihm niederwerfen wollte, was nach hiesigen Gepflogenheiten als unverschämt galt. Der Khan wurde zornig und warf ihn ins Verlies, in dem er zwanzig Jahre saß und als kranker Greis starb. Diese Geschichte hat mich damals sehr beeindruckt. Es kam mir schrecklich und unmöglich vor, auf das Leben, auf die Sonne im Sommer und alles andere verzichten zu müssen, nur weil man sich nicht vor dem Herrscher verneigen wollte. Der Zehnjährige von damals war nicht zu der Haltung bereit, die der abgebildete Abgesandte hatte, und blieb fasziniert vor dem Gemälde stehen. Ich bin froh, dass im Leben dieses Jungen viele Dinge geschehen sind, die ihn stark verändert haben, und als der Moment gekommen war, den er weder erwartet noch herbeigesehnt hatte, konnte er die richtige Entscheidung treffen. Zwanzig Jahre Kerker sind durchaus ausgemessen, um einem Tyrannen wenigstens einmal die Verbeugung zu verweigern.

Inzwischen sind das Fenster, die Dächer und auch der Weg wieder schneefrei, aber es fallen immer noch feine Flocken, am Straßenrand liegen Schneehaufen, die die Häftlinge mit großen, haarsträubend quietschenden Schlitten auf der Betonstraße abtransportieren.

Heute geht’s in die Banja. Ich habe meine kleine Hütte geputzt, die Bettwäsche und die Unterwäsche gewechselt, mich geduscht und rasiert. Ich fühle mich herrlich erfrischt, aber auch so schlapp, als hätte ich einen ganzen Anhänger Kohle entladen. Das Wort des Tages des diensthabenden Wachmanns, der mich heute begleitet hat: »Von dir gibt’s ja eine Menge interessantes Zeug auf YouTube.«

Haft

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