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Tag 29
ОглавлениеDie fünfte Woche beginnt. Wie sie wird – aussichtsreich, kritisch oder entscheidend – kann keiner sagen. Wir sehen es dann, an den Ergebnissen. Ich habe bis fast neun Uhr geschlafen, mit kurzen Unterbrechungen für die üblichen Zeremonien und Rituale. Ich habe wieder gut geschlafen und fühle mich ganz passabel, was mich natürlich freut. Wieder hatte ich eine ganze Palette von Träumen, an die ich mich am Morgen sehr klar erinnere und die sich bis zum Mittag bis auf kleine Fetzen auflösen wie Nebelschwaden. Ein Traum ist mir im Gedächtnis geblieben: Ich laufe mit einem Freund von der Krim über einen Trampelpfad in einem verschneiten Park, vor uns seine Frau und seine Schwiegermutter. Die beiden können mich nicht ausstehen. Ihren nahen »Verwandten« offensichtlich auch nicht, deswegen biegen sie irgendwann ab, ohne sich zu verabschieden und ohne sich umzudrehen. Ich mache meinen Freund darauf aufmerksam, aber er winkt nur ab, ach, das ist schon lange so, in der Familie knirscht es gewaltig. Wir laufen weiter schweigend nebeneinander her. Es ist ein guter, ein langjähriger und treuer Freund. Die letzten vier Jahre hat er allerdings nichts von sich hören lassen. An den Aktionen auf dem Maidan und auf der Krim hat er sich nicht aktiv beteiligt, aber mitgefiebert und Unterstützung signalisiert. Vom Sofa aus. Ich möchte lieber glauben, er sei irgendwo im Donbass umgekommen, als denken, er könnte seine Meinung geändert haben, weil ich des Terrorismus verdächtigt worden war. Natürlich sind meine Überlegungen fragwürdig: Wem der Mut für den Maidan fehlt, der wagt sich sicher kaum in die Reihen der Anti-Terror-Einheiten. Aber man will natürlich immer an das Gute im Menschen glauben. Und niemanden verurteilen. Jeder geht seinen eigenen Weg und trifft seine eigene Entscheidung.
Die Proben wurden entnommen. Jetzt wird der Tropf bestückt, und gleich beginnt diese eigentlich gemütliche, aber anstrengende Prozedur. Der Katheter von gestern ist kaputtgegangen. Also geht’s heute wieder mit den üblichen Nadeln weiter, die Venen sind in den letzten drei Tagen ganz gut verheilt und konnten sich regenerieren. Ich habe einen Notfallknopf bekommen, mit dem ich die Schwester rufen kann, denn gestern, als die Ampulle gewechselt werden musste, konnte ich eine halbe Stunde lang weder sie noch die roten Sanitäter erreichen, die sonst eigentlich ständig auf dem Gang herumscharwenzeln. Den Notknopf habe ich in den Nachtschrank geschmissen: Wenn es ganz schlimm kommt, finde ich ihn blind, die freiwilligen Helfer werfen jede Viertelstunde einen Blick durch die Scheibe – ob ich nicht etwas brauche.
Ich habe keine Ahnung, warum ich diese ganzen Kleinigkeiten hier aufschreibe, es gibt eigentlich nichts sonderlich Notierenswertes. Aber für mich ist dieses Tagebuch nicht nur eine Aufzeichnung der Ereignisse oder ein seelischer Ausgleich, sondern auch so eine Art inneres Stimmungsbarometer: Wird die Schrift wackelig, oder schreibe ich irgendwelchen Blödsinn? Bei einem langen Hungerstreik können nämlich auch das Gehirn und das Bewusstsein in Mitleidenschaft gezogen werden. Bislang ist alles noch im grünen Bereich. Andere wichtige Organe, die unter dem Hungerstreik leiden, sind die Nieren, die Leber und das Herz. Mit den ersten beiden habe ich eigentlich keine großen Probleme, aber das Herz ist wegen meiner Vorerkrankung als Kind besonders anfällig. Es ist zwar auch nicht gut, dass der Organismus das Wasser nicht speichern kann – weil die Nieren nur noch schlecht filtern – und ich dauernd den Azeton-Geschmack im Mund habe, aber das Herz ist doch wichtiger. Und in meinem Fall ein größeres Problem. Jetzt hat sich die Lage Gott sei Dank stabilisiert, sowohl was meinen Zustand als auch mein Befinden und die Werte angeht. Sie sind zwar nicht gut, aber auch nicht mehr so kritisch. Der Doktor sagt trotzdem, ich solle mich keinen allzu großen Hoffnungen hingeben. Die Intensivtherapie mit den Präparaten, die uns von der Intensivstation in der freien Klinik mitgegeben wurden, hat geholfen. Aber die Vorräte sind aufgebraucht, es stehen nur noch jene Substanzen zur Verfügung, die wir vor der Krise hatten, dazu mehrmals täglich je ein halber Becher Nährmasse. Der Doktor ist der Meinung, das reiche nicht aus. Die Präparate von der Intensivstation hätten mich vor dem Absturz bewahrt und ein bisschen stabilisiert, aber wie lange dieser Zustand anhält und wann der nächste Schub kommt, wisse er nicht. Ich sagte ihm, dass ich noch zwei Wochen durchhalten müsse. Der Arzt ist sich nicht sicher, dass ich eine schaffe. Lassen wir es auf uns zukommen. Keinesfalls möchte ich diese raren und teuren Präparate von der Intensivstation, wo sie denen zugute kommen, die sie wirklich brauchen – Menschen mit Brandwunden, nach einem Koma, nach schweren Unfällen und Operationen –, noch einmal in Anspruch nehmen. Dafür sind sie da. Ihnen retten sie das Leben. Ich kann darauf verzichten, denn ich mache das alles aus freien Stücken, und die anderen können nichts dafür, dass sie im Krankenbett gelandet sind, von dem aus es nicht weit ist bis auf die Pritsche, die in die Leichenhalle rollt.
Draußen versucht der Frühling stets aufs Neue, die schweren Wolken zu bezwingen. Die Sonne scheint von einem blauen Himmel herab, wärmt, sogar ein paar Vögel zwitscherten schüchtern. Vielleicht sind das auch nur die Spatzen, die nach dem endlos langen Winter ihre Hüllen abgeworfen haben, aber das ist auch nicht schlecht. Wärme dringt in die Seele. Plötzlich trübt sich der Himmel wieder ein, böiger Wind kommt auf, es tröpfelt. Ein, zwei Stunden später scheint wieder die Sonne. Kampf zwischen Frühling und Herbst. Das Wetter erinnert mich in diesen Tagen sehr an meinen Zustand, an mein Befinden und meine Werte. Wärme, Frühling und dann Sommer, sie werden kommen.
Gedanken ans Essen quälen mich schon lange nicht mehr, weder abends noch sonst irgendwann. In meinem Kopf gibt es keine Bilder mehr von irgendwelchen Speisen, von jetzt auf gleich sind sie verschwunden, nur noch Medikamente. Selbst die kleinen Dämonen sind weg, vielleicht sind sie vor Hunger in ihren Löchern verreckt. Wenn ich die Balanda in der Zelle sehe – das so genannte Speiseritual hat noch niemand abgeschafft – oder die Jungs, wie sie essen, empfinde ich gar nichts und schon gar kein Verlangen. Das kann in Zukunft Probleme machen, soweit ich weiß. Manche Menschen haben nach einem langen Hungerstreik keinen Appetit mehr, das geht bis hin zur Anorexie. Ich glaube nicht, dass ich da gefährdet bin. Aber wer weiß. Befassen werde ich mich mit den Problemen jedenfalls erst dann, wenn sie auftreten. Im Moment ist das kein Problem, sondern eher ein Plus, weil da kein Appetit ist, der stören könnte. Der Doktor kommt mir wieder mit dem Brei, diese chemischen Substanzen mit ihrem lächerlichen Gehalt an Kalorien und Eiweißen seien schließlich keine richtige Nahrung, sie könnten die schädlichen Prozesse nur verlangsamen, nicht aber aufhalten. Ich habe wieder abgelehnt. Man kann die Miliz austricksen, die Videoüberwachung, wen auch immer. Aber nicht sich selbst, damit muss man dann ein Leben lang klarkommen. Der Doktor hat mir ein Holzstäbchen gegeben – extra für die Verbohrten und Prinzipientreuen –, damit ich den weißen Belag von meiner Zunge abkratze, der ist nämlich schädlich. Diese Prozedur vor dem Spiegel hat mich eine Viertelstunde gekostet. Jetzt ist nur noch die eine Hälfte der Zunge weiß, die andere rot. Sieht schön aus, schade, dass ich es niemandem zeigen kann.