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Tag 18

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Die Nacht war recht ruhig, ich habe lange geschlafen und bin ausgeruht. Am Morgen musste ich allerdings drei, vier Mal aufstehen: Erst das Ritual des feierlichen Auf- und Abtragens der Speisen, dann die Kontrolle, dann die Registrierung … Heute kam direkt nach dem Wecken der Diensthabende mit einem Thermometer, weil er die Temperatur in der Zelle messen wollte. Ich habe ihn abgewimmelt und gesagt, ich würde nicht mehr frieren.

Trotz der vielen Unterbrechungen am Morgen hat sich der Schlaf wie aus einem Guss angefühlt. Im Gefängnis hat man ja einen besonders empfindlichen Schlaf. Ich wache nicht auf, wenn ich geweckt werde oder wenn die Zellentür plötzlich quietscht, sondern schon lange vorher, wenn jemand auch nur vor der Tür stehen bleibt oder spätestens wenn das eingeschaltete Videoregistriergerät leise piepst. Das Gefängnis lehrt den Menschen, immer auf der Hut zu sein, Antenne an, wie sie hier sagen, selbst wenn du schläfst. […] In der Nacht hatte ich wieder mehrere Träume, sie waren kurz, bewegt und wie immer zusammenhanglos. Einen Traum habe ich mir gemerkt. Ein großer Asteroid raste auf die Erde zu, und weil der Untergang der Menschheit unmittelbar bevorstand, wurde eine Generalamnestie verkündet. Meine Familie holte mich ab, wir waren im Auto unterwegs. Wir hielten an einem Laden. Ich ging hinein, um einzukaufen, und als ich wieder auf den Parkplatz kam, tauchte am dunklen Abendhimmel dieses Objekt auf. Weil der Himmel bewölkt war, konnte ich es nicht genau erkennen, aber den Umrissen nach musste es riesig sein, dutzende Male größer als der Mond in der Nähe. Die Leute neben mir blieben auch stehen und schauten nach oben auf diese dunkle Silhouette. Wir hatten weder Angst noch eine Vorahnung, dass wir gleich alle umkommen würden, es war eher wie ein apokalyptisches Ergötzen an einem ungewöhnlichen Regenbogen oder einer Finsternis. Aber natürlich war da auch so etwas wie Ausgeliefertsein und Bedrückung. Dann änderte sich das Licht, und das Objekt geriet aus dem Blickfeld, obwohl natürlich alle begriffen, dass es immer noch da war und unaufhaltsam näher kam. Die Leute wandten sich wieder ihren Beschäftigungen zu, aber ohne jede Eile, und wir fuhren weiter. Wohin, war unklar: entweder nach Hause, um Abendessen zu machen, oder an einen sicheren Ort, obwohl es den nicht gab. Wie in »Melancholia« von Lars von Trier. Schrecklich und faszinierend zugleich.

Am Morgen reichte die Kraft des Schnees lediglich für spärlichen Reif auf den Dächern, der später taute, aber der Tag blieb trotzdem sehr kalt und windig. Ihn als frühlingshaft zu beschreiben, weigert sich der Stift. Es heißt, wenn das Eis von den Flüssen verschwunden ist, wird es wärmer. Das kann ich nur schwer glauben. Ich fürchte eher, dass es hier nie wärmer wird. Morgen ist immerhin Sommeranfang …

Ich wurde zu dem gestern angekündigten Videoanruf gebracht. In dem kleinen Telefonraum saßen so viele Natschalniki, dass sich nur mit Mühe ein Platz für den Stuhl fand, auf dem ich sitzen sollte. Vor dem Guckloch standen noch weitere Schulterklappenträger. Ein Event in der Provinz. Die Videoverbindung wurde nicht über die offizielle Leitung hergestellt, sondern einfach über Skype mit Laptop und Webkamera. Die Verbindung war wackelig, aber Bild und Ton funktionierten.

Der offizielle Vertreter war erstens eine Vertreterin, Ljudmila Borissowna, und zweitens die Mutter von Xenia Sobtschak. Das fand ich während des Gesprächs heraus. Eine ziemlich nette Frau, sie war zwar Duma-Abgeordnete, hatte den Anruf aber selbst initiiert. Weil sie sich nach meinen Befinden, den Haftbedingungen und den anderen üblichen Dingen erkundigen wollte. Ich sollte ihr noch einmal erklären, was ich bezweckte und ob ich nicht etwa aufgeben wolle. Ich wiederholte das, was ich schon dem Anwalt gesagt hatte, als ich den Hungerstreik begonnen hatte, vielleicht etwas ausführlicher. Das Gespräch war zwar anfangs etwas förmlich, was ich auch erwartet hatte, aber es wurde in einem vertrauensvollen und wohlwollenden Ton geführt. Etwas später trat auch Xenia in Erscheinung. Zunächst hörte man ihre Sätze aus dem Off, dann kam sie selbst ins Bild: Zuerst sah man die Haare, dann die Brille, dann die Augen, dann war sie ganz da, teilte sich den Bildschirm mit ihrer Mutter und übernahm irgendwann natürlich die Initiative. Worte der Unterstützung, die Bitte aufzuhören, Infos über Solidaritätsaktionen. Alle redeten durcheinander. Die ständigen Lags13 im Skype taten ihr Übriges, um das Chaos zu verstärken. Xenia zeigte ein T-Shirt mit der Aufschrift »Freiheit für Senzow«. Ich machte das Victory-Zeichen und rief »Ruhm der Ukraine!«. Aus dem seriösen Gespräch war eine lustige Show geworden, aber wir drei waren zufrieden. Ich sagte ihnen, meine Mutter hieße auch Ljudmila, was sie allerdings schon wussten. Ich kann mich nach wie vor schwer an den Umstand gewöhnen, dass fremde Menschen so viel über mich wissen. Wir verabschiedeten uns gut gelaunt, sehr vertraut.

Als die Vorstellung zu Ende war, schaute ich die Beamten an – zufrieden war keiner, Fragen hatte auch niemand. Ich verabschiedete mich von denen, die sich zu dieser Schau versammelt hatten, und ging mit dem Diensthabenden in meine Klause. Die Freundlichkeit, mit der sie mich einlullen wollen, reichte heute übrigens so weit, dass sie mich mehrmals nicht mit dem Familiennamen, sondern mit dem Vornamen ansprachen. Ich bin gespannt, ob sich diese Tendenz nach dem heutigen Videoanruf fortsetzt oder ob es nur eine aufgesetzte Freundschaft auf Zeit war.

Gegen Abend brach draußen ein Schneesturm los: Wind, Schnee, Feuchtigkeit und Nebel.

13Lag, Gamersprache, Unterbrechung des Spiels aufgrund technischer Probleme

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