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Tag 27
ОглавлениеVom frühen Morgen an Sonne und blauer Himmel. Im Gegensatz zu den beiden letzten Tagen steht mein Befinden heute im Einklang mit dem Wetter. Es passt sich irgendwie immer meinem Zustand an oder umgekehrt. Gestern hing ich wieder bis Mitternacht am Tropf, geschlagene sieben Stunden. Um das Prozedere etwas zu vereinfachen und die Venen nicht vollkommen zu ruinieren, sie sind nämlich schon völlig zerstochen und kaum noch zu finden, wurde ein Venenkatheter gelegt. Ich weiß, wie die alten, sowjetischen Exemplare funktionieren, und war nicht besonders scharf darauf. Aber die heutigen Modelle sind anders: Sie werden am Unterarm eingesetzt, es tut nicht weh, und wenn sie nicht in Betrieb sind, stören sie eigentlich nicht, lange Infusionen lassen sich mit ihnen viel besser ertragen. Den Katheter und die Infusion hat der Arzt gelegt, der dem verschlafenen Frettchen ähnelt. Er ist eigentlich gar kein Arzt, sondern nur Krankenpfleger, aber es hat ihm geschmeichelt, als die Kontrolltante ihn als Hilfsarzt bezeichnet hat. Er ist zwar kein diplomierter Mediziner, aber geschickt und flott, und es tut nicht weh, er hat es drauf. Gestern früh, als ich schon am Wegtreten war und das noch nicht einmal mitbekam, hat sich die ewig jammernde Schwester mit mir abgegeben, sie fand weder Puls noch Blutdruck. Sie erzählte was von einem präkollaptischen Zustand, dass man solche Patienten früh gar nicht munter kriegt, »und dann fasst man sie an, und sie sind schon kalt …« Während sie mein EKG aufzeichnete, offenbarte sie auch noch ihr Talent als professionelles Klageweib. Mir wurde das zu viel und ich bat sie, diese ganzen Geschichten für sich zu behalten und mich mit ihrem Gruselkram zu verschonen. Meine Stimmung entsprach meiner Lage. Die Schwester ist natürlich an die Decke gegangen und hat mir gedroht, mir nichts über meine EKG-Werte zu sagen, obwohl sie furchtbar schlecht seien, als würde ich gleich ins Koma fallen. Man ändert die Menschen nicht, jeder fühlt sich berechtigt und im Recht. Sie wiederum ist gar keine Schwester, sondern Ärztin. Es gibt hier nicht so viel Personal, ein knappes Dutzend Mitarbeiter, trotzdem bringe ich ihren Status manchmal durcheinander, ich hatte ja bislang immer nur mit dem Chef zu tun und war in seinem Sprechzimmer. Gestern hatte er allerdings eine Sitzung nach der anderen und war mit zwei vorgesetzten Kollegen damit beschäftigt, Berichte über meine Gesundheit und deren Stabilisierung zu verfassen und nach oben zu übermitteln. Deswegen habe ich die Infusion gestern bei mir im Zimmer bekommen und so die anderen Mitarbeiter kennengelernt.
Man kann nicht behaupten, dass sich alles nur um mich dreht, obwohl es sich manchmal wirklich so anfühlt. So vergesse ich wahrscheinlich bald, dass ich immer noch im Gefängnis sitze. Die Vollzugsbeamten erinnern mich allerdings hin und wieder daran. Jetzt gibt es wieder jeden Tag die Routinekontrollen, nachdem sie drei Wochen lang unter den Tisch gefallen waren. Ein äußerst passender Moment. Ich habe es zum Glück gerade noch geschafft, auf den Katheter hinzuweisen, als die plötzliche Leibesvisitation begann. Der Nachttisch und das Bett wurden auch durchwühlt. Was suchen die da eigentlich ständig? Einen Totmacher? Kein normaler Knacki würde ein Messer zwischen seinen Sachen bunkern, das wäre saugefährlich, Verstecke gibt es viele, »Nester«, aus denen man sich das – anonyme – Ding wenn nötig holen kann. Oder suchen sie etwa unter dem Kopfkissen oder in den Socken ein Stück Brot, das mir die Dämonen, über die ich schreibe, ständig unterschieben wollen? Aber weder die Miliz noch die Dämonen verstehen, dass eine Brotrinde gegenwärtig mein Verderben und nicht meine Rettung wäre. Wer klug ist, wird nicht Vollzugsbeamter. Heute Morgen wurden mir zwei neue Ausgaben der Nowaja Gaseta gebracht. Neu, naja, für die hiesigen Gefilde neu, sie waren wie immer zwei Wochen alt. In beiden Nummern waren einige Artikel herausgeschnitten. Wahrscheinlich ging es darin um mich. Und was soll das? Sie denken, dass sie meine Informationen irgendwie beschränken können, und verletzen das Gesetz über den freien Zugang zu letzteren, indem sie die arme Zeitung, die ich schließlich über sie abonniert habe, zerfleddern. Über die Folgen dieser Dummheit macht sich irgendwie keiner Gedanken. In den ganzen vier Jahren habe ich mich immer noch nicht an die Dummheit und Kurzsichtigkeit der Miliz gewöhnt. Dem ukrainischen Priester den Zutritt verweigern, Briefe zurückhalten, die mir der Anwalt mitgebracht hat, und jetzt eine offiziell erschienene Zeitung zensieren. Wo ist da die Logik? Die Antwort ist Stille und ein schwaches Wimmern in den leeren Gehirnkästen.
Das Wichtigste ist, dass ich mich heute wirklich besser fühle. Als wäre ich aus einer Höhle gekrochen und auf einen Hügel gestiegen. Der Blutdruck ist zwar niedrig (80/60), aber nicht kritisch, der Puls ist auch sehr schwach, aber immerhin vorhanden. Es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn keine Verbesserung eingetreten wäre, wenn man bedenkt, was sie mir gestern alles infiltriert haben. Die Nährpräparate entfalten natürlich auch ihre Wirkung. Zuerst dachte ich, das sei so was wie Babynahrung oder Proteine, weil es so aussieht. Aber als ich die Zusammensetzung auf der Packung gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass die Substanz nur wenig Eiweiß und Kalorien enthält und zu achtzig Prozent aus Vitaminen, Mineralien und anderen für einen geschwächten Organismus wichtigen Substanzen besteht. Umso besser, ich dachte, ich hätte mit dem Beginn der oralen Ernährung meinen Hungerstreik schon zur Hälfte abgebrochen. Es ist aber keine Nahrung, es sind nur stärkende Substanzen, das ist in Ordnung. Deswegen spare ich mir das Theater mit dem Füttern vom Löffel und nehme die Masse selbstständig ein. Die Substanz wird mit ein paar Löffeln Wasser aufgelöst und mir alle vier Stunden verabreicht. Die Portionen sind klein, aber es reicht, um die Hosen oben zu halten. Die warme Flüssigkeit kleidet den Magen angenehm aus und schützt zugleich die Schleimhaut, die bei einem Hungerstreik extrem in Mitleidenschaft gezogen ist. Der Brei schmeckt nach Milch und Chemie. Wonach genau, kann ich nicht sagen, die Rezeptoren im Mund bilden sich langsam zurück. Der Doktor sagt, der Geschmack käme irgendwann zurück, wenn auch vielleicht nicht ganz. Meine Zunge hat jedenfalls die Farbe der Zimmerwände: helles Beige. Das Azeton im Mund spürt und riecht man. Es wird bleiben, mich bis zum Schluss begleiten, denn es fehlt dem Organismus ja weiter an Nahrung, er verzehrt sich selbst, und das ausgeschiedene Azeton ist nur ein sekundäres Symptom dieses unerfreulichen Prozesses.
In den letzten vier Wochen habe ich sozusagen auf praktischem Wege sehr viel über die Medizin im Allgemeinen und über den menschlichen Organismus im Besonderen gelernt. Ich will immer wissen und verstehen, was um mich herum passiert, im vorliegenden Fall ist es das, was in mir drin passiert. 76 Kilo. Das Gewicht nimmt jetzt nur sehr langsam ab, aber im fortgeschrittenen Stadium eines Hungerstreiks ist das immer so. Ich hatte nie Übergewicht, und Muskeln werden langsamer verbrannt als Fett.
Der Arzt hat mich untersucht und gesagt, ich solle mich nicht zu früh freuen, das Herz sei noch immer schwach und instabil, aber die Situation sei auf jeden Fall schon besser als gestern. Die Kontrollärztin hat im Übrigen, wie es so schön heißt, einen angenehmen Eindruck hinterlassen und ist gestern Nacht nach Moskau zurückgeflogen, um ihre Vorgesetzten davon zu unterrichten, wie unter ihrer aktiven Mitwirkung der Hungerstreikende gerettet wurde. Heute bekomme ich wieder eine mehrstündige Infusion. Dieses Mal hat mir eine Schwester kurz vor der Rente, die ich noch nicht kannte, den Zugang gelegt. Sie ist vielleicht ein guter Mensch und schafft es, den Häftlingen Analgin zu verabreichen, aber eine Infusion, noch dazu mit einem Katheter, ist nichts für sie: Sie hat sich und mich reichlich gequält. Dafür hat sie zu mir gesagt, nach den sechs Stunden Tropf sähe ich schon viel besser aus und mein Gesicht hätte nicht mehr diesen erdbraunen Ton vom Morgen. Ein Glück, dass sie mich gestern nicht gesehen hat …
Ich habe mich geduscht und rasiert. Aus dem Spiegel schaut mich noch immer dieser ausgezehrte knochige Kerl an. Im Vergleich zur letzten Woche sieht er nicht besser aus, im Gegenteil. Er hat einen überproportional großen Kopf, dafür aber kein Gesicht mehr. In den letzten Tagen hatte ich gar keinen Sinn für Körperhygiene, also nutze ich jetzt den Moment, in dem es besser geht. Normalerweise brauche ich für die beiden Verrichtungen zwanzig Minuten. Heute habe ich mehr als eine Stunde damit zugebracht. Ich habe mich gefühlt wie ein hundertjähriger Greis: kraftlos, alles dauert lange und kostet Mühe. Außerdem fand ich den Plastiktütenarm mit dem Katheter hinderlich. Aber halb so wild, es ging schon.
Ich habe das Bett frisch bezogen und mich hingelegt. Die heutige Linderung ist natürlich keine grundlegende Verbesserung. Das ist klar. Der Zustand ist momentan stabil, hat der Doktor gesagt, aber wie lange es dauert, bis der nächste Zusammenbruch kommt, weiß keiner. Und dass er kommen wird, ist sicher, und sicher ist auch, dass die zweite Krise heftiger werden wird als die erste, dann werde ich der diabolischen Intensivstation nicht entkommen. Ich hoffe, dass der Organismus noch zwei Wochen durchhält. Ich glaube, in den nächsten zwei Wochen entscheidet sich die Sache. Hoffentlich schaffe ich das.
Einschluss. Das elektrische Licht wurde abgeschaltet, aber im Zimmer ist es so hell, dass ich lesen und schreiben kann, auch wenn ich mich nicht ans Fenster setze. In den Abendnachrichten hieß es, die Präsidenten der Ukraine und Russlands hätten miteinander telefoniert. Die Themen sind immer die gleichen: Donbass, Waffenstillstand, Kriegsgefangene. Sie sind übereingekommen, dass Besuche von Bürgerbeauftragten in den Gefängnissen organisiert werden sollen: ihre Leute bei ihren Gefangenen, unsere bei uns. Wenn es das erste Gespräch gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht gefreut, aber das gab es schon so oft im Laufe der vier Jahre, dass ich seit Langem nur noch an mich selbst glaube und mich nur noch auf mich verlasse. Abwarten. Zwei Wochen.