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Tag 23

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Seit dem Morgen ist es sonnig und ziemlich warm. Das Wetter ist wirklich umgeschlagen. Mein Befinden ist gut. Die Nacht war auch ruhig, trotzdem bin ich für meine jetzigen Verhältnisse ziemlich früh aufgestanden.

Die ersten zwei Stunden habe ich damit zugebracht zu überlegen, wie der Regisseur heißt, der »Odyssee im Weltraum«, »Uhrwerk Orange«, »Shining« und andere Meisterwerke gedreht hat. Seine Arbeiten gefallen mir, er hat ganz unterschiedliche Filme gemacht, ich habe viel über ihn gelesen, aber sein Name war mir entfallen, und ich konnte mich partout nicht erinnern. Irgendwann ließ die Gedächtnisschwäche nach, und die Erleuchtung kam: Stanley Kubrick! Natürlich! Manchmal fallen einem tatsächlich die großen Namen nicht ein. Ich musste an ihn denken, weil ich gestern meine Bücher getauscht und ein paar Science-Fiction-Werke bekommen habe: Stanisław Lem und Arthur C. Clarke. Weil ich in Einzelhaft bin, darf ich nicht in die Bibliothek, deswegen habe ich aus dem Gedächtnis was von dem bestellt, was vorhanden ist. Für eine Lagerbibliothek ist der Bestand gar nicht schlecht, ich habe schon fast die gesamte Klassik durch, jetzt will ich mal was Leichteres. Science Fiction habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Als sowjetischer Teenie mochte ich Science-Fiction und historische Romane, wie jeder Jugendliche. Ich habe den traditionellen Ray Bradbury, den spannenden Robert Heinlein und den mitreißenden Harry Harrison gelesen und noch viele andere, aber diese drei haben mir besonders gut gefallen. Die Erwachsenen haben immer fasziniert von den Brüdern Strugazki gesprochen und sie »legendär« genannt. Ich habe »Der Knirps« und »Picknick am Wegesrand« gelesen, fand es aber nicht besonders spannend. Als ich dann in der zweiten Hälfte der Dreißiger war, wenige Jahre, bevor meine Gefängnis-Odyssee begann, habe ich sie wieder zur Hand genommen, war begeistert und habe praktisch alles gelesen, gedruckt oder als E-Book, das war mir egal, ein Jahr lang war ich im Strugazki-Fieber. Für mich sind sie »große Schriftsteller«. Bessere Science-Fiction-Autoren habe ich nicht gefunden, wahrscheinlich gibt es auch keine. Nicht alles hat mich in absolute Begeisterung versetzt, aber die meisten Werke haben mich sehr berührt. Typisch für die Strugazkis ist ein minimalistischer Stil, in dem der Mensch, seine Welt und seine Beziehungen im Vordergrund stehen und die erfundene Umgebung lediglich dazu dient, all das zu enthüllen, das ist es, was mich an ihren Büchern reizt. Ihrem Renommee nach zu urteilen, geht es anderen auch so. Jetzt will ich mal Lem und Clarke lesen. Bislang habe ich nur die klassischen Verfilmungen ihrer Werke gesehen: Tarkowski und Kubrick. Allerdings haben die Regisseure die Originaltexte stark verändert. Jetzt möchte ich sie und die anderen Werke in den beiden Sammelbänden lesen. Mit Ostap Bender bin ich fertig. »Die Antilope«, die ich als älteres Kind schon einmal gelesen hatte, ist natürlich nicht so lustig wie »Die zwölf Stühle«, dafür aber spannender. Das Buch hat einen starken Schluss, in dem der Protagonist sein Wesen offenbart. Trotz seiner Leichtigkeit und Sorglosigkeit ist er einsam und unglücklich. Er sucht die Nähe zu seinen eigentlich geringgeschätzten und erbärmlichen Mitstreitern! Eine Waise will eine Familie, egal welcher Art. Bender hat gemerkt, dass ein Leben ohne Liebe, Familie, Freundschaft und nahestehende Menschen sinnlos und unbefriedigend ist, selbst wenn man einen Koffer mit einer Million hat. Warum haben die Autoren Benders Abenteuer eigentlich nicht noch auf einen dritten Band ausgeweitet? Hatten sie das Gefühl, dass sie das Niveau nicht halten können, oder haben sie gedacht, ihr Protagonist müsse so und nicht anders enden? Leider kann ich sie nicht mehr fragen.

Gegen Mittag ging der zweite Teil der Serie über Miliz und Geistlichkeit über die Bühne. Die pikierten Beamten rückten mit ihrem Geistlichen an und löcherten mich eingehend, warum ich gestern noch nicht an Gott geglaubt habe, heute aber plötzlich glaube und einen Geistlichen sehen will. Ich konnte nur auf die Erleuchtung meiner sündigen Seele verweisen sowie darauf, dass mir tags zuvor niemand erklärt hat, dass ich Geistliche immer empfangen darf, unabhängig von den geltenden Besuchsregeln. Es entspann sich eine recht rege Diskussion über Geistliches und Administratives. Besonders eifrig beteiligte sich der Priester, den mir die Miliz anstelle des angereisten empfehlen wollte, wo ich doch nun den Wunsch geäußert habe, mich in den Schoß der Kirche zu begeben. Ich sagte, Pope sei nicht gleich Pope und der mit der Uniform unter der Kutte stünde für mich nicht zur Debatte, ich wollte den sehen, der von der Krim gekommen sei. Die Diskussion wurde hitziger und engagierter. Am meisten ereiferte sich ein Oberstleutnant, der als »Menschenrechtsbeauftragter« gekommen war, sich also eigentlich für mich hätte einsetzen sollen, aber er benahm sich so, als sei er der »Verwaltungsbeauftragte«. Ich verfasste eine Verzichtserklärung für diesen Geistlichen, und die beiden Seiten des Konfessionskonflikts gingen auseinander. Daraufhin fragte der Pope empört, was denn der Priester der Ukrainischen Orthodoxen Kirche auf dem Gebiet der Russischen Orthodoxen Kirche zu suchen habe? Er hätte ja gar keine Befugnisse, hier irgendwelche Handlungen auszuüben. Dieser Diener Gottes war, wie sich herausstellte, in erster Linie ein Diener des Staates. So geriet ich aus Versehen in die große Schlacht zwischen dem Moskauer und dem Ukrainischen Patriarchat. Und da anschließend einen halben Tag lang Schweigen herrschte – ich wurde weder zu dem Priester noch zu meinem Anwalt gebracht –, nahm ich an, dass sich das Epizentrum der Auseinandersetzungen in höhere Sphären verlagert hat.

Und so war es auch. Erst gegen Abend konnte ich meinen Anwalt treffen. Zusammen mit dem Priester hatte er einen ungleichen Kampf gegen die Mächte der Finsternis geführt und versucht, zu mir vorzudringen. Die Natschalniki hatten unter den verschiedensten Vorwänden Zeit geschunden und fast noch den Metropoliten bemüht, zu guter Letzt verweigerten sie dem Priester von der Krim und mir ein Treffen. Sie beriefen sich auf das Fehlen entsprechender Dokumente und Genehmigungen, es ginge eben nicht. Zu anderen Gefangenen in anderen russischen Gefängnissen war er bereits vorgelassen worden, aber diesen Versuch hier hatte die Russische Orthodoxe Kirche erfolgreich verhindert. Sei’s drum. Ich setzte ein kurzes Schreiben für den heldenhaften Priester von der Krim auf und übergab es meinem Anwalt, ich entschuldigte mich für die entstandene Situation, bat ihn, wieder zurückzufahren und die ukrainischen politischen Gefangenen vor Ort und auch andere zu unterstützen, nicht noch länger vor dem Lager auszuharren und hier anzuklopfen, weil das im Moment keinen Sinn hatte. Er war gekommen, um mich zu unterstützen, ich schrieb ihm, dass ich eigentlich keine Unterstützung brauche, dass ich innerlich stark sei und – falls nötig – selbst noch ein gutes Dutzend Leute unterstützen könnte. Ich tauschte mich kurz mit meinem Anwalt über unsere Angelegenheiten aus, schrieb für einige wichtige Personen noch ein paar Zeilen, und dann musste er auch schon mit Askold und dem Priester zum Flugzeug. Er versprach, in zwei, drei Wochen wiederzukommen. Seine heutigen Nachrichten waren nicht erfreulich: das Hin und Her mit dem Priester, meine Tochter konnte ihre Auslandsreise nicht antreten und an anderen Stellen gab es auch Probleme.

Draußen fiel den ganzen Tag ein feiner Herbstregen. Das musste an dem Tag liegen.

Am Abend ist das wichtigste Ereignis des Tages eingetreten – ich wurde aus der Einzelzelle in den Krankentrakt verlegt! Der Doktor hatte gesagt, er werde sich darum bemühen, aber ich habe nicht geglaubt, dass er das schafft, hat er aber, also habe ich meine Habseligkeiten zusammengepackt und bin dem Diensthabenden gefolgt. Hier ist es natürlich besser. Aber darüber schreibe ich morgen, jetzt ist es schon zu spät.

Haft

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