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Tag 22

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Seit dem Morgen ist draußen wieder Neujahr. In der Nacht hat es geschneit, und wieder ist alles zugeweht. Es fehlt nur noch der Weihnachtsmann auf seinem Schlitten mit den Glöckchen. Statt des Weihnachtsmanns kommt der Awtosak, und ab geht’s ins städtische Krankenhaus zu einem wissenschaftlichen Symposium, das sich mit der Gesundheit von O. G. Senzow befasst.

Ich war vor einem halben Jahr schon mal hier, weil mein Herz untersucht und ich wegen meines Rheumas geröntgt wurde. Damals waren zwei Kleintransporter unterwegs: im ersten fuhr ich in einem Käfig unter Aufsicht, im zweiten saß die Verstärkung: eine Spezialeinheit in schwarzen Sturmhauben mit Maschinengewehren und Hund. Als wir in dieser Besetzung am Haupteingang der Klinik aufkreuzten, pressten sich die Patienten gegen die Wand, schließlich wurde ein gefährlicher Terrorist eingeliefert, den man wie den Bär an der Kette hereinführte. Heute hatte ich etwas Ähnliches erwartet und mich schon auf das unangenehme und fast vergessene Gefühl von Handschellen eingestellt. Doch alles war viel simpler, ohne Spezialeinheit und Maschinengewehre. Ich wurde in einer GAZelle transportiert, einer kleinen grünen Minna, Handschellen wurden keine angelegt. Zugeständnis an einen Hungerstreikenden. Vielleicht hatten sie auch verstanden, dass ich es trotz des roten Flieger-Bändchens nicht darauf ankommen lassen würde. Begleitet wurde ich im Wesentlichen von leitenden Beamten, alle mindestens im Rang eines Majors. Der Sicherheitschef, der Kommandeur der Wachkompanie und sogar der Lagerleiter empfingen uns am Klinikeingang und waren bis zum Abschluss aller Untersuchungen anwesend. Die Natschalniki verhielten sich außergewöhnlich höflich und korrekt. Besonders bemüht war ein junger Sicherheitsdienstler, wie der Kornett auf seinem ersten Ball. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte vergessen, wie er, als ich nach meiner Ankunft im Lager registriert und gefilzt wurde, mich nackt ausziehen und hinkauern musste, damit sie überprüfen konnten, ob ich etwas im Darm versteckt habe, von der Seite an mich herantrat und mich hysterisch anschrie, ich hätte ihm noch keinen Gruß entboten. Er schrieb dazu sogar einen Bericht, aber in der Dunkelzelle konnte er mich nicht einbunkern, ich war nämlich schon in Einzelhaft, deswegen bin ich ohne Strafe davongekommen. Heute ist er ein anderer. Die Menschen können sich ändern, wenn sie wollen. Hier ist es allerdings nicht die Änderung der inneren Einstellung, sondern die äußere Anpassung.

Wir mussten nicht lange fahren, vorn lief die ganze Zeit Krug. Ich wundere mich nicht, dass die Beamten häufig Chanson, Gangsta-Rap hören. Der Knast mit seinem ganzen Drum und Dran durchdringt ihr Leben bis in die kleinsten Poren, sie haben den Knastslang besser drauf als alle Knackis. Deswegen ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn man in der Grünen Minna Songs von Krug hört. Zumal er immer authentisch ist, das geht ans Herz, da spielt es keine Rolle, in welcher Kluft du steckst: in der eines Milizionärs oder in der eines Häftlings. Diesmal betrat unser netter Trupp das Gebäude durch den Hintereingang und kam in die Aufnahme, in der das gesamte Konzil dann auch abgehalten wurde. Ich gab Proben ab, überall und nirgends wurden irgendwelche Werte genommen, ein EKG-Gerät wurde gebracht, ein Ultraschallgerät hereingerollt. Das volle Programm. Der Raum war ziemlich groß, außer den Beamten in Uniform und ein paar Genossen in Zivil waren auch noch etliche MTA der verschiedensten Fachrichtungen in den unterschiedlichsten Kitteln zugegen. Ein Dutzend Untersuchungen und mindestens genauso viele Messungen. Alle Ärzte waren freundlich und zuvorkommend, wie es sich für Ärzte gehört. Nur einer war grob und taktlos, er duzte mich, als hätten wir zusammen schon eine Kiste Kognak geleert und sähen uns hier nicht zum ersten Mal. Als ich ihm Paroli bot, stutzte er, nicht jeder kann halt das Echo vertragen. Wie sich herausstellte, war das der Intensivmediziner, die sind große Zyniker, der hier war einer von der schlimmsten Sorte, weswegen ihn alle im Krankenhaus hassten, was er mit ebensolchem Hass erwiderte. Die Anwesenden wollten wissen, warum ich in Hungerstreik getreten war, und keiner glaubte an einen Erfolg. Ich kam mir vor wie auf einem Fließband, nach zwei Stunden war alles vorbei. Berichte gibt es noch keine, aber das Grundergebnis ist klar: Noch ist nichts Schlimmes passiert.

Auf dem Rückweg sah ich mein Spiegelbild in der polierten Scheibe des FSVD14-Busses: ein Knacki, ein Knastbruder reinsten Wassers, die Fresse, die Jacke, die Mütze. Kein Wunder, dass so viele Ärzte zusammengelaufen waren, um dieses merkwürdige Wesen in Augenschein zu nehmen, das man auch noch anfassen konnte, schließlich war man hier im Streichelzoo. Nach drei Wochen Hungerstreik fühlte ich mich jetzt besser als zu Beginn. Angeblich hat sich mein Organismus umgestellt, entschlackt und regeneriert, es war nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Leichtigkeit eingetreten, die das Heilfasten hervorbrachte. Aber das würde höchstens noch eine Woche andauern, dann käme der Abfall: Von da an würde sich der Organismus langsam selbst verzehren, Azeton und Eiweiß würden in den Nieren vermehrt auftreten und weitere negative Effekte würden sich einstellen. Aber was soll’s. Lassen wir es auf uns zukommen, momentan ist alles noch im grünen Bereich.

Ein Natschalnik war da, ich wurde in sein Büro im ersten Stock zitiert. Es ging darum, dass zwei Personen auf einmal gekommen waren und mich besuchen wollten. Da ich aber nur eine Person empfangen durfte, sollte ich mich entscheiden. Der erste war der Erzbischof der Krim, der offenbar auf Anweisung von Filaret, dem Kiewer Patriarchen, und meiner Mutter angereist war. Der zweite war Askold, mein Freund in der Ferne und Kollege, der einen Film über mich dreht15. Ich sagte dem Geistlichen ab und entschied mich für Askold, er stand mir näher und würde mir vielleicht ein paar interessante Dinge erzählen, mit den Popen habe ich es nicht so, im Gegensatz zu Gott, außerdem weiß ich da ohnehin schon, worauf das Gespräch hinausläuft.

[…]

Gleich im Anschluss an das Treffen mit Askold kam Dima, mein Anwalt. Wir haben bis acht Uhr abends geredet. In diesem dreistündigen Gespräch habe ich mehr erfahren als im ganzen letzten halben Jahr. Die Aktien von mir und den anderen politischen Gefangenen sind auf der ganzen Welt im Umlauf. Breit gestreut, angefangen von den einfachen Leuten bis hin zu den Führern der G7, die auf ihrem nächsten Treffen unter anderem auch diese Frage besprechen wollen. Die Welle rollt an, ich hätte nicht erwartet, dass sie so groß wird. Vier andere politische Gefangene haben sich mit mir solidarisiert und sind ebenfalls in einen Hungerstreik getreten, unter anderem Sascha Koltschenko, mein Mitstreiter und Berater, ein echter Revolutionär, mit dem ich zusammen vor Gericht stand. Aber wie will Tundra16 denn hungern! Er hatte schon immer eine labile Gesundheit und sah aus wie ein Darsteller aus einer Massenszene in einem Film über Konzentrationslager. Aber er ist innerlich stark, und das ist viel wichtiger. Ich habe niemanden aufgefordert mitzumachen, aber sei’s drum, herzlich willkommen, Leute! Zusammen und bis zum Ende!

Der Tag heute war sehr ausgefüllt: Klinik, die Rolle im FSVD-Film, Askold, mein Anwalt, neue Zeitungen sind da, ich habe ausgelesene gegen neue Bücher getauscht, auf meine Bitte hin die Körperhygieneutensilien aus meiner alten Einheit ausgehändigt bekommen, dafür Zeitungen, die ich durchgelesen habe, dorthin abgegeben, da sitzen auch ein paar Jungs, die ganz wild sind auf ein paar Happen verspäteter Wahrheit. Gerade mal zwei Stunden war ich heute in meiner Zelle, die ganze restliche Zeit irgendwo unterwegs. Sechs Visitationen musste ich über mich ergehen lassen. Jetzt brauche ich ein paar Tage Zeit, um alle Informationen und Eindrücke zu verdauen. Morgen kommt mein Anwalt noch mal kurz vorbei, und zwar mit diesem Popen. Die heutige Information der Natschalniki, ich müsse mich für einen Besucher entscheiden, war falsch, denn Geistliche darf ich jederzeit empfangen. Der Priester ist mit Askold und meinem Anwalt angereist, er will mich nicht von meinem Vorhaben abbringen oder bekehren, sondern mich kennenlernen und mit mir ins Gespräch kommen. Er missioniert nicht, sondern unterstützt viele ukrainische politische Gefangene, er ist so was wie ein orthodoxer Menschenrechtler. Also wurde ein neuer Antrag aufgesetzt. Vielleicht darf der Priester dann morgen zu mir.

Inzwischen ist es Frühling geworden: Seit Mittag scheint die Sonne, sie hat den Schnee schon fast zum Schmelzen gebracht. Es heißt, das Eis auf den Flüssen sei getaut und nun würde es bald warm werden. Heute habe ich gemerkt, dass in der Ferne dicke Eisschollen bersten. Das Geräusch hört man bis hierher.

14FSVD für Föderaler Strafvollzugsdienst, Strafvollzugsbehörde in der Russischen Föderation

15Es handelt sich um Askold Kurow und seinen Film »The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov«, der die Inhaftierung und den Schauprozess gegen Oleg Senzow thematisiert (Anm. d. Übersetzerin).

16Spitzname des ukrainischen politischen Gefangenen Alexander Koltschenko noch aus Zeiten vor der Haft

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