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Tag 21

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In der Nacht habe ich geträumt, ich bin bei der Amtseinführung von Putin dabei und stehe in einer vorderen Reihe vor der Bühne. Mit Tränen in den weit aufgerissenen Augen singt der Führer ein Lied, und die Menge singt mit. Ich singe nicht, obwohl ich wie viele andere auch ein Mikro vor mir stehen habe. Danach kommt ein Ethnofilm über zwei indianische Mädchen aus Mittelamerika, die sich im Wald eine Hütte bauen. Nur das eine Mädchen wohnt dort, das andere kommt mit dem Fahrrad zu Besuch, um ihr zu helfen. Zum Schluss bin ich auf einem Empfang in einem Luxushotel, mit Taschen aus dem Knast, die Dame an der Rezeption will mich nicht einchecken lassen, obwohl sie sagt, es sei alles in Ordnung, das Zimmer sei bis zum Ende des Festivals für mich reserviert und ich würde schon von allen erwartet. Dann kommen Dmitri Malikow und seine Frau oder Freundin. Wir begrüßen uns, er setzt sich neben mich auf einen Hocker, sie umarmt mich von hinten, sie sagen, wie froh sie seien, mich zu sehen. Was wollen die denn hier? Träume haben ja ihre eigene oder besser gesagt keine Logik. Es lohnt sich nicht, nach einem tieferen Sinn zu suchen.

Am Morgen hatte der Schnee wieder alle Flächen in Beschlag genommen und nur wenige schwarze Punkte und Streifen in der Landschaft unberührt gelassen. Dann folgte sein hartnäckiger Kampf gegen die Feuchtigkeit, die sich ein Stück Straße und einen Teil der Dächer zurückeroberte. Die eingeteilten Häftlinge kratzten mit ihren Schaufeln und Schlitten über die zentrale Allee. Sie waren kaum zu sehen, dafür aber gut zu hören. Die gestrige Vertretung des Diensthabenden, ein baumlanger Dagestaner, kam heute gegen Ende der Schicht ein letztes Mal, um die Essensausgabe zu kontrollieren und die Raumtemperatur zu messen. In seinen riesigen Pranken wirkte das ziemlich große Außenthermometer spielzeugklein. So viele nette Bemerkungen, wie er in den letzten vierundzwanzig Stunden geäußert hat, hat er mit Sicherheit während seiner gesamten Dienstzeit nicht von sich gegeben. Normalerweise gebraucht er ganz andere Ausdrücke, und wenn ihm die Worte ausgehen, nimmt er die Fäuste zu Hilfe. Aber hier ist er ein ganz anderer.

Gestern und heute musste ich in den Krankentrakt zur Untersuchung, also eigentlich alles wie immer, nur dass ich dieses Mal nicht von meinem Doktor, sondern von anderen Ärzten untersucht wurde. Der Doktor hatte nämlich gestern Geburtstag, fünfundvierzig ist er geworden, ein kleines Jubiläum. Er hat zwar behauptet, er trinke nicht besonders viel und wolle nicht groß feiern, vor allem damit ihm der Kater am Tag danach erspart bleibt, aber nach seiner zweitägigen Abwesenheit zu urteilen, muss irgendwas schiefgelaufen sein. Gestern hat die Krankenschwester die Untersuchung vorgenommen. Eigentlich war das gar keine richtige Untersuchung: Blutdruck, Puls, Temperatur, Gewicht, »wie ist Ihr Befinden?« Als einzige medizinische Fachkraft ist sie für eine Viertelstunde in die Rolle des Arztes geschlüpft, hat nachgefragt, sich erkundigt und banale und uns beiden ohnehin bekannte Tatsachen verkündet. Jeder will wichtig aussehen, besonders wenn der Chef nicht da ist. Heute war ein junger Arzt in derselben Weise zugange, ewig verschlafen, wie ein Hamster, den man aus dem Winterschlaf gerissen hat. Ich habe ihn im Krankentrakt schon ein paar Mal flüchtig gesehen, er sah immer gleich aus: aufgedunsen und angeschlagen. Muss irgendwo hier, ganz in der Nähe seinen Bau haben. Er hat dieselben Messungen vorgenommen, dabei aber keinen übermäßigen Eifer an den Tag gelegt. Wer ein Arztdiplom in der Tasche hat und ständig im Halbschlaf ist, gibt sich nicht mit solchen billigen Zurschaustellungen ab. Ich wiege heute nur noch 77 Kilo. Der Doktor hat das junge Murmeltier angerufen und gesagt, er käme gegen Abend und würde mich an den Tropf hängen. Alle Anwesenden äußersten einvernehmlich ihre Zweifel an dieser Ankündigung. Umso besser. Von den dauernden Infusionsnadeln und Blutabnahmen tun mir schon die Venen weh, die am linken Arm ist sogar entzündet und verhärtet.

Der Doktor und ich sind praktisch befreundet. Ich habe zwar eigentlich in den vier Jahren in diesem System nie den Wunsch gehabt, jemandem näherzukommen, der Schulterklappen trägt, mir Befehle erteilt und mich beaufsichtigt. Aber der hier ist in erster Linie Arzt, militärisch ist an ihm nur die Unform, nicht sein Wesen. Zu Beginn war es allerdings anders. Im ersten halben Jahr hier im Lager sind wir uns nur ein paar Mal begegnet und immer aneinander gerasselt. Er wollte sich mit verbalen Interventionen hervortun, aber ich bin keiner, der den Kopf einzieht und irgendwelche Bemerkungen schweigend über sich ergehen lässt. Deswegen waren unsere ersten Gespräche kurz und explosiv. Auch die erste Unterhaltung, nachdem ich in Hungerstreik getreten war, kann ich nicht als angenehm bezeichnen. Der Doktor sagte, er hätte für solche Sachen nichts übrig, es wäre sowieso alles für die Katz. Dann hielt er einen Monolog zu politischen Themen: dass die Ukraine für ihn kein richtiger Staat sei, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, dass wir unsere Nationalisten abschütteln und reumütig in den mütterlichen Schoß zurückkehren sollten. Solche Sprüche bin ich von russischen Milizionären gewöhnt. Meistens sind sie aber auch noch glühende Anhänger der Sowjetunion und von WWP, der ihnen die Illusion gibt, die Sowjetunion werde zu neuem Leben erwachen. Der Doktor steht auch auf Putin, aber für die Sowjetunion und die Kommunisten hat er nichts übrig, denn er ist Monarchist, verehrt Nikolaus II. und ist orthodox. Bei derart entgegengesetzten Positionen war die Lage für uns eigentlich ziemlich aussichtslos. Mit der Zeit – wir hatten ja dann oft und lange miteinander zu tun – hat sich herausgestellt, dass wir uns in anderen, alltäglichen Dingen sehr ähnlich sind. Politische Themen meiden wir seither, ich zumindest, ansonsten ist mir der Doktor sehr gewogen, und ich erwidere diese Aufgeschlossenheit. Er hat zwei Kinder im selben Alter wie meine. Er ist auch nicht von hier, sondern aus dem Süden. Seinen Wehrdienst hat er in der Ukraine abgeleistet und nur gute Erinnerungen an die Leute dort. Wir haben ähnliche Vorlieben, was Essen und Trinken, Lebensart und Lebensansichten angeht. Zu guter Letzt haben wir festgestellt, dass wir beide leidenschaftlich gern das ukrainische Computerspiel S.T.A.L.K.E.R. spielen. Da ging das Herz des Doktors auf. Ich bin ja ein alter Gamer, S.T.A.L.K.E.R. ist einfach klasse, es ist eins meiner Lieblingsspiele. Der Arzt war Anfänger, S.T.A.L.K.E.R. war sein erstes Spiel und seine einzige Cyberliebe. Dann hat er sich über mich im Internet informiert, weil ihm, wie ich später erfuhr, plötzlich Zweifel kamen an meinem Urteil, nun wusste er alles einzuordnen. Ich habe ihn gewarnt, dass sich ein allzu vertraulicher Umgang mit mir negativ auf seine Karriere auswirken könnte. Woraufhin er sich eine Zigarette ansteckte und sagte: »Drauf geschissen. Wenn ich will, kann ich jederzeit in Rente gehen.« Damit war die Sache geklärt.

Trotz aller Unkenrufe erschien der Doktor am Nachmittag bei der Arbeit. Frisch, munter und fröhlich, wie es sich für ein Geburtstagskind gehört. Gestern hat er nicht gefeiert, sondern will heute, aber nur im engsten Familienkreis. Auch das haben wir gemeinsam: Ich feiere auch lieber im engen Familienkreis als in einer großen lauten Runde. Also hat er mich flugs untersucht, die entzündete Vene mit einem Jodgitter bepinselt und gesagt, es sei alles halb so wild, solange die Nieren nicht versagten, er würde aber versuchen, diesen Moment vorherzusehen, und riet mir, auf der Hut zu sein, immerhin ginge es ja um mich. Der Doktor gab seinem jüngeren Kollegen eine Anweisung für die Infusion und trollte sich Richtung Heimat. Der junge Arzt erwies sich als geschickt und war gar nicht mehr so jung, sein Sohn kam in diesem Jahr in die Schule, er sah einfach nur aus wie ein ewig verschlafener Student. Wie der Doktor zu sagen pflegte: »Ein kleiner Hund ist auch im Alter noch ein Welpe.«

Draußen hatte es inzwischen aufgehört zu schneien, alles taute und matschte. Der Sommer in Labytnangi erinnerte an den Winter auf der Krim.

Haft

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