Читать книгу Haft - Oleg Senzow - Страница 33

Tag 24

Оглавление

Zu Ehren meiner Verlegung hat der alte Stift seinen Geist aufgegeben, also nehme ich einen anderen. Wegen der interkonfessionellen Auseinandersetzungen, meines Umzugs und Einrichtens auf der Krankenstation habe ich meine Infusion erst am Abend bekommen, und die ganze Prozedur hat sich bis nach Mitternacht hingezogen. Das ist aber nicht so schlimm, im Revier geht es nicht so streng zu, und der Doktor ist hier der Boss.

[…]

Der Krankentrakt ist ein zweistöckiges, eher kleines Gebäude. Im Erdgeschoss sind die Behandlungs- und Untersuchungsräume, der Zahnarzt, das Röntgen und andere Funktionsräume. Im ersten Stock sind ein paar Büros, in einem davon sitzt mein Doktor, ein kleines Sprechzimmer, und die andere Hälfte der Etage, hinter einer vergitterten Stahltür, ist die Station. Sie ist ebenfalls nicht groß: fünf Zimmer, ein kleiner Speisesaal, ein Fernsehraum und ein Waschraum mit Toilette und Dusche.

Ich habe ein eigenes Vierbettzimmer in der Nähe des Eingangs zugeteilt bekommen, die bisherigen Patienten kamen raus, dafür kamen zwei Videokameras rein, extra für meine Wenigkeit. Das Zimmer ist recht geräumig, vier Betten und genauso viele Nachtschränke und Hocker. Mir reicht eins von jedem. Außerdem gibt es zwei große Fenster, wie zu Hause, ohne Gitter. Die Aussicht ist allerdings nicht besser, da nützt auch der erste Stock nichts, dieselbe zentrale Allee und vis-à-vis eine Baracke, eine andere allerdings. Die Hälfte des Ausschnitts ist Himmel, das ist gut, heute gibt’s allerdings nichts Spannendes zu sehen: grau in grau und Sprühregen, fein dosiert. Gewöhnliches Herbstwetter, ungewöhnlich nur für Anfang Juni. Das geht aber nur mir so, die Einheimischen finden nichts dabei. Die Heizkörper wärmen zwar nicht, aber immerhin ist es hier drin nicht kalt.

In der letzten Nacht habe ich – das erste Mal seit drei Wochen – ohne Socken geschlafen, ein seliges Gefühl. Geschlafen habe ich an dem neuen Ort allerdings schlecht, gegen Morgen habe ich sogar leicht gefroren. Ich bat um eine zweite Decke, die mir sofort gebracht wurde. Unter der liege ich jetzt, trinke heißes Wasser aus einem Becher, der neben mir auf dem Fensterbrett steht, und schreibe diese Zeilen. Es fühlt sich so an, als wäre ich nicht aus einer Einzelzelle in den Krankentrakt verlegt worden, sondern hätte mich in einem Fünf-Sterne-Hotel behaglich eingerichtet. Mein Befinden ist auch normal, aber der Doktor hat mich vorgewarnt, das würde nicht mehr lange anhalten, eine Woche höchstens, dann käme es zu einer Verschlechterung mit ungewissen Folgen: eine Krise. Ich lasse es auf mich zukommen und genieße den Moment.

Im Krankentrakt arbeiten drei rote Häftlinge und mehrere Entwürdigte17. Die Roten sind als medizinische Fachkräfte (einer hat eine Ausbildung für EKG und Röntgen), Krankenpfleger und Sanitäter beschäftigt. Die Entwürdigten putzen die Räume und die Toilette und entsorgen den Müll. Das Übliche also. Die Leute sind aber ganz in Ordnung, der Doktor duldet hier keine unangenehmen Typen. Gerade mal ein Dutzend Häftlinge liegen auf Station, darunter vier Muschiki18: Einer liegt fest, einer sitzt im Rollstuhl, einer hat keine Beine und geht an Krücken, und der letzte hinkt bloß. Ein Trupp aus Versehrten sozusagen. Da habe ich wenigstens ein bisschen Unterhaltung, anders als mit dem schweigenden Schlüsselwart. Auf der Station sind auch noch andere erkrankte Häftlinge aus den verschiedenen Kasten: Rote, ehemalige Aktivisten, Entwürdigte und andere Wolle19. Aber die halte ich mir vom Leib. Mit denen habe ich keine Themen. Sie sind angehalten worden, sich nicht mit mir einzulassen, na klar. Ich bin hier auch nicht auf der Suche nach Freunden, das Gefängnis ist dafür der denkbar schlechteste Ort, die zwischenmenschlichen Beziehungen sehen hier anders aus. Die Jungs nehmen ihre Mahlzeiten im Speisesaal ein, mir wird das Essen – dem Ritual gemäß – aufs Zimmer gebracht und im Beisein des Vollzugsbeamten auf den Nachttisch gestellt. Der Suppenkapo ist einer von hier, auch er wirft sich einen weißen Kittel über, und nun ist endlich auch die weiße Mütze als Requisite da. Zwar noch keine Kochhaube, aber immerhin.

Das Temperaturmessungsritual ist vereinfacht worden – das Thermometer, das angenehme 21 Grad zeigt, hängt direkt im Zimmer, der Wert wird allerdings trotzdem mit dem Registriergerät dokumentiert. All inclusive. Im Fernsehzimmer gibt es natürlich einen Fernseher, eingeschaltet wird er nach Plan, zweimal pro Tag, morgens und abends. Das finde ich eigentlich in Ordnung, da kann ich mir die Nachrichten ansehen, alles andere interessiert mich kaum. Am Sonntag würde ich mir allerdings gern Kisseljows Talkshow ansehen, seine Grimassen habe ich in den letzten drei Wochen wirklich vermisst.

Heute Morgen waren hier alle auf den Beinen und haben die Station auf Hochglanz gebracht. Hoher Besuch aus Moskau wird erwartet. Die Frau Oberst kommt wahrscheinlich wegen mir, sie ist auch eine medizinische Koryphäe. Der Doktor ist von ihrem Besuch ganz und gar nicht begeistert, offenbar hat man ihr die Hölle heiß gemacht, denn, ich zitiere: »Nicht jeder Natschalnik wagt bei diesem Wetter eine Überfahrt auf dem Ob.«

Die unangenehme Natschalniza ist dann gar nicht gekommen. Es kursieren Versionen von einem gekenterten Kanu und einem defekten Fallschirm. Dafür erschienen Heerscharen anderer Delegationen. Zuerst kamen die ranghöchsten Milizbeamten mit einem Fotoapparat und einem grauhaarigen Onkel mit gefärbtem Schnurbart. Ich hatte ihn zuvor schon ein paar Mal gesehen – er ist der oberste Menschenrechtsbeauftragte hier in der Region. Während seiner früheren Besuche versuchte er mir immer weiszumachen, er sei gerade zufällig vorbeigekommen und habe einfach mal reinschauen wollen, obwohl er bis dato hier höchstens ein bis zwei Mal pro Jahr gesehen wurde. Dieses Mal verheimlichte er nicht, dass sein Weg oder besser gesagt die gerade wieder in Betrieb genommene Fähre ihn direkt zu mir geführt hatte. Wir sprachen über mein Befinden, die Haftbedingungen und das Übliche. Der Mann bietet immer wieder Anlass zum Staunen. Erst sagte er, ich hätte mich in den drei Monaten seit unserem letzten Treffen gar nicht verändert, stimmt schon irgendwie, mir ist in der Zeit kein zweites Paar Ohren gewachsen, und 15 Kilo weniger fallen ja nicht wirklich ins Auge. Dann sagte er, er könne es nicht gutheißen, dass ich hier eine privilegierte Behandlung erfahre. Woraufhin ich wissen wollte: welche genau? Ich habe nicht um ein Einzelzimmer gebeten, und die zwei installierten Videokameras sind nicht mein Eigentum, also bin ich auch nicht besser gestellt als die anderen Häftlinge hier im Revier. Zum Schluss sagte er, ich sei kein politischer Gefangener, sondern ein ganz gewöhnlicher Verbrecher, da ich nach einem Paragrafen des Strafgesetzbuches verurteilt worden sei. Seiner Meinung nach käme deshalb ein Austausch politischer Gefangener gegen Straftäter nicht in Frage. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: Hat das russische Recht denn spezielle Paragrafen, nach denen politische Gefangene verurteilt werden? Von dieser Frage fühlte er sich mitsamt seiner Logik in die Enge getrieben, befreite sich aber kurzerhand, indem er an seinem schwarzen Schnurbart zog. Noch so ein »Verwaltungsbeauftragter«, nur ohne Uniform, aber die hatte er wahrscheinlich nach langem Tragen vor nicht allzu langer Zeit abgelegt, denn sie hatte ihm ihren bleibenden Stempel aufgedrückt. Irgendwann lief das Gespräch dann in ruhigeren Bahnen, er musste feststellen, dass ich nicht vorhatte, den Hungerstreik früher oder später abzubrechen, und gab mir zum Abschied die Hand.

Genau eine halbe Stunde später erschien eine leicht veränderte Delegation, dieses Mal mit zwei Rechtsaufsichtsbeamten an der Spitze. Ihre Äußerungen waren förmlicher und kürzer. Wieder kam die Frage nach den Haftbedingungen und danach, ob meine Meldungen und Beschwerden abgesandt würden. Ich sagte, dass ich bislang keine Meldungen und Beschwerden verfasst hätte, und schon gar nicht an ihre Organisation. Darüber waren diese Personen, die Äußerungen von Gefangenen prinzipiell ignorieren, etwas erstaunt, sie zuckten mit den Schultern und traten ab.

Ihnen folgten, beinahe auf dem Fuß, zwei Beamte niederen Ranges, der Chef des Sicherheitsdienstes und ein Mitarbeiter. Sie wollten wiederum wissen, wer mich auf die Idee gebracht hat, meinem Anwalt einen Brief an die Führer der G7 zu übergeben. Sie glaubten, die Regierungschefs hätten auf meine Initiative hin ihre Tagesordnung so geändert, dass sie anstatt über das Klima nunmehr über politische Gefangene aus der Ukraine sprachen. Immerhin haben sie mich nicht verdächtigt, ich hätte die Einberufung des Treffens zu verantworten. Das würde ihnen ähnlich sehen, so indoktriniert, wie sie sind. Gegen Ende kam die Frage: »Gegen wen führt die Ukraine einen Hybridkrieg?« Ich sagte, ich sei außerstande, auf rhetorische und dumme Fragen zu antworten. Andere Themen hatten sie nicht vorzubringen und machten sich langsam ans Verabschieden. Auf meine Frage bezüglich der Briefe erhielt ich die Antwort, die Post – auch der Mailverkehr – würden schlecht funktionieren, ich solle warten. Was nun glaubwürdiger war – ihr Lächeln oder ihre Worte –, wusste ich nicht. Die Natschalniki gingen weg, und ich blieb auf dem Bett sitzen. Dieses Mal hatte ich während des Gesprächs gesessen, und sie hatten gestanden. Normalerweise war es umgekehrt, für hungernde terroristische Verbrecher waren heute andere Regeln zur Anwendung gekommen.

Gegen Ende des Tages bat mich der Doktor, die Urinmege zu erfassen und zu notieren. Das konnte ich ihm nicht abschlagen, zumal wenn es erforderlich war. Ich bekam einen kleinen Eimer mit Markierungen und ein Tagebuch zur Erfassung der ausgeschiedenen Flüssigkeit. Ab morgen führe ich Buch.

17Die unterste Kaste (Schlag): Hähne (Schwule) und Unberührbare (Vergewaltiger)

18Anständige Häftlinge, die schwarze Kaste, die Masse, der Stamm der Unterwelt

19Wolle – Häftlinge, die nicht mehr zu den Muschiki, den Anständigen, gehören, weil sie sich irgendetwas haben zuschulden kommen lassen.

Haft

Подняться наверх