Читать книгу Das Post Mortem Phänomen - Peter M. Sauer - Страница 13
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Philipp war zwar ein hervorragender Schüler, der die besten Noten nach Hause brachte, war aber in seiner Klasse nicht integriert. Er hatte keine Freunde und er galt als Eigenbrötler, der oft seltsamen, morbiden Gedanken nachhing. Der Junge war sehr sensibel, machte sich aber auf ironische Art und Weise gern über seine Mitschüler lustig. Die Lehrer hielten ihn für einen hochintelligenten, tiefsinnigen, aber auch meist unzugänglichen Schüler. Mit 15, 16 Jahren begannen bei ihm jedoch, wie bei vielen anderen auch, die Noten zu sinken.
Das alte Argelander-Gymnasium in der Bonner Südstadt war naturwissenschaftlich orientiert, was Carolin sehr gefallen hatte. Da sie glaubte, dass ihr Sohn die Talente seines Vaters geerbt hatte, erschien ihr die Wahl dieser Schule logisch. Friedrich Wilhelm Argelander war einer der großen Gelehrten Bonns gewesen. Er hatte als erster Wissenschaftler die komplette Durchmusterung des Sternenhimmels vorgenommen. Carolin kannte an diesem Gymnasium außerdem einige Lehrer, insbesondere den jetzigen Klassenlehrer von Philipp, Herrn Brackmann, mit dem sie einen Teil ihrer Referendarzeit an einer anderen Schule verbracht hatte. Brackmann war dafür bekannt, dass er seine Schülerinnen und Schüler außerordentlich genau beobachtete, war sehr beliebt und galt als anspruchsvoller, gerechter und vor allem als überaus menschlicher Lehrer. Er war unverheiratet und engagierte sich besonders für seine Klasse und die Schule.
Manchmal, wenn persönliche Probleme eines Schülers einer intensiveren Besprechung bedurften, lud er ihn zu sich nach Hause ein. Es gab Kaffee oder Kakao und Kuchen und wenn Brackmann im Laufe des Gespräches den Eindruck gewonnen hatte, dass jetzt wieder alles im Lot war, pflegte er dem Schüler auf die Schulter zu klopfen und in jovial-väterlichen Ton zu sagen: „Und denk dran, du bist nicht nur zum Vergnügen hier!“
Das „hier“ war universell gemeint: Hier und jetzt, immer und in der Schule, im Leben und auf der ganzen Welt. Nach diesem Ritterschlag, der immer auch eine Absolution war, durften die Jungen und Mädchen wieder nach Hause gehen,
So wie viele andere, saß jetzt auch Philipp bei seinem Lehrer. Nicht nur wegen seiner schlechteren Noten, sondern auch wegen eines bestimmten Vorfalls in der Schule. Brackmann war allein stehend und lebte zusammen mit seiner Mutter im Elternhaus. Die Mutter wohnte im Souterrain, das Haus stand am Hang. Herr Brackmann betrat jetzt mit der gewünschten Limonade und ein paar Keksen das Wohnzimmer. Seiner Mutter ging es im Moment nicht gut und war deshalb nicht in der Lage gewesen, ihren allseits beliebten Kuchen zu backen. Der Lehrer hatte den Jungen kommen lassen, weil es vor ein paar Tagen auf dem Heimweg eine Auseinandersetzung zwischen Philipp und einigen Mitschülern gegeben hatte. Es war dabei um Regine gegangen, Brackmanns Nichte. Er wusste, dass die beiden befreundet waren, wobei Regine ihm anvertraut hatte, dass Philipp nicht ihr Typ sei. Der sei manchmal so komisch traurig und wortkarg und küsse so „kalt“, wie sie sich ausdrückte. Es ging Brackmann aber in erster Linie nicht um Regine, sondern um eine ganz bestimmte Reaktion von Philipp. Er wusste, dass Philipp Pazifist war und Gewalt ablehnte. Bei einer Auseinandersetzung mit ein paar Mitschülern, die ebenfalls ein Auge auf Regine geworfen hatten, hatte sich Philipp nicht gewehrt, sondern sich mit Fußtritten und Fauststößen traktieren lassen. Er schwor sogar von Regine ab, weil die anderen das von ihm verlangten. Daraufhin ließen sie ihn in Ruhe.
„Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!“, hatte er ihnen nachgerufen. „An euch werde mich auf meine Art rächen.“ Die Jungs lachten ihn zwar aus, dennoch war diese Drohung an Brackmann weitergegeben worden.
Der Lehrer ließ sich die Geschichte von Philipp noch einmal erzählen. Er wollte ihm klarmachen, dass er mit dieser Einstellung im Leben große Probleme bekommen werde. Er sollte auch als Pazifist für sein Wohl und sein Leben eintreten. Sich zu wehren, sei notwendig. Philipp reagierte nicht. Er war ziemlich blass geworden, zitterte und antwortete nicht mehr. Vielmehr war er es, der nun die Fragen stellte:
„Herr Brackmann, wie geht es Ihnen? Gut?“
„Na klar. Warum fragst du? Es geht hier nicht um mich, sondern um dich!“
„Ihrer Mutter auch?“
„Was soll das? Was hat meine Mutter damit zu tun? O.K., wenn es dich beruhigt: Ich glaube ja. Sie liegt unten im Bett. Sie hat sich hingelegt, weil ihr die üblichen Herzbeschwerden wieder einmal zusetzen.“
„Bitte gehen Sie zu ihr und helfen ihr. Ich für meinen Teil verspreche Ihnen hier jetzt alles, was Sie wollen – auch dass ich mich demnächst wehren werde. Aber bitte gehen Sie jetzt zu Ihrer Mutter. Das wäre besser. Jetzt sind Sie nicht zu Ihrem Vergnügen hier“, versuchte er zu spaßen, „aber es gibt Wichtigeres. Irgendetwas ist da unten los, hören Sie das nicht?“
Brackmann wunderte sich zwar, aber Philipp konnte durchaus Recht haben. Vielleicht hatte er wegen seiner inzwischen fortgeschrittenen Schwerhörigkeit das Rufen der Mutter nicht gehört, aber Philipp hatte etwas bemerkt.
In der folgenden Nacht erlitt Brackmanns Mutter einen schweren Herzanfall, der Notarzt konnte sie reanimieren und sie war ins Krankenhaus gebracht worden. Diesmal überlebte sie, war aber zwei Monate nach diesem Vorfall zu Hause an einer weiteren, diesmal tödlichen Herzattacke gestorben.
Brackmann bat Carolin ein paar Tage nach Philipps Besuch zu sich und sprach mit ihr über die Situation und wie er den Jungen erlebt hatte.
„Carolin, der Abfall der Noten und die beginnende Isolation in der Schule lassen nichts Gutes ahnen.“
„Ich weiß, Philipp hat sich verändert. Er ist so eigensinnig und manchmal lustlos, so als ob ihn dauernd etwas quält. Mir sagt er nichts und ich komme auch nicht an ihn heran.“
„Du musst handeln. Der Junge ist intelligent und kann sein Abitur locker schaffen. Nur hier bei uns nicht, denn er wird nicht integriert und will das auch gar nicht. Es scheint, als ob er keine Lust mehr dazu hätte. Ich glaube, dass er sehr einsam ist. Demnächst beginnt die Oberstufe, deshalb musst du etwas tun.“
„Wie stellst du dir das vor? Einen Schulwechsel halte ich für äußerst schwierig. Ich weiß nicht, wie Philipp darauf reagieren würde. Er ist sensibel und hätte an einer neuen Schule sicher noch mehr Probleme.“
„Es sollte ein richtiger Wechsel sein, einer, der Philipp komplett verändert. Der ihn ganz neu herausfordert. Weißt du was ich meine?
„Ich ahne es. Du meinst ein Internat.“
„Genau, und um es ganz rund zu machen – im Ausland. Ich denke da an England. Dort gibt es hervorragende private Internate. Oder du wählst die klassische Variante – die Schweiz.“
Das alles klang sehr überzeugend und Carolin sah ein, dass mit Philipp etwas geschehen musste. Sie dankte Brackmann für seine Hilfe und fuhr erleichtert nach Hause. Die notwendige Lagebesprechung beschränkte sie zunächst auf eine Diskussion mit ihrem Mann. Philipp wollte sie später dazu fragen. Da Mäc ihrer Einstellung beipflichtete und zustimmte, begannen die beiden damit, nach guten Schulen in England und der Schweiz zu suchen. Schließlich entschieden sie sich für St. Gallen, wobei der Schulwechsel bereits zur nächsten Versetzung stattfinden sollte.
Als Philipp erfuhr, was die Eltern bereits entschieden hatten, war er traurig und lehnte alles komplett ab. Nachdem er jedoch intensiv darüber nachgedacht hatte, fand er langsam Gefallen an der Vorstellung, von der Schule, den Menschen und vielleicht auch von seinen Problemen wegzukommen. Und schließlich freute er sich sogar auf den Schulwechsel.
San Francisco, den 04.August 2007, 11:45 p.m.
Lieber Philipp,
ich hatte heute Abend ein ausführliches und sehr fruchtbares Gespräch mit Professor Kerrington. Uns beiden liegt es sehr am Herzen, Dir zu helfen und Du kannst Dir denken, dass wir nichts unüberlegt und unversucht gelassen haben, diesen rätselhaften Phänomenen auf die Spur zu kommen. Für ihn als Neurophysiologen gab es nutzbringende Erklärungsansätze in dieser Richtung und er machte sich wirklich fundierte Gedanken darüber. Ich glaube, er ist dabei auf einen Zusammenhang gestoßen, der wirklich alles erklären würde. Eine faszinierende Kombination aus einer außergewöhnlichen Kausalhandlung und deren zwangsläufiger biologischer Weiterentwicklung mit ungeahnten Folgen. Du bist in gewisser Weise ein besonders einzigartiger Mensch. Es tut mir leid, dass es dir bisher mehr Kummer als Vorteile gebracht hat. Wir werden das ändern. Morgen werden Professor Kerrington, Mama und ich zu dir kommen und ich werde Dir alles erklären. Ich schreibe dir das heute, obwohl wir uns schon morgen an deinem 20. Geburtstag sehen, weil ich das dringende Bedürfnis habe, mein Glück über die gelungene Aufklärung hier und jetzt niederzuschreiben.
Sei du herzlich gegrüßt und ich freue mich auf morgen!
Dein Onkel Chris