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Ende Mai 2006

Unmittelbar nach dem Ende des zweiten Akts fiel der Bühnenvorhang überstürzt und hastig, obwohl das Züricher Publikum begeistert applaudierte. Man gab „Giselle“, ein Ballett, das über Monate ausverkauft war. Der Tänzer, der den jungen Adligen Albrecht darstellte, hatte sich bei seinem schwierigen Grand Pas de deux vollkommen verausgabt, weil er mit seinen virtuosen Sprungfolgen an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gegangen war. Janos war der Star des Züricher Ballettensembles und wollte, da viele Zuschauer gerade seinetwegen gekommen waren, wie immer sein Bestes geben. Jiri, der Choreograf zog den Erschöpften hinter die Bühne, gab ihm zu trinken und fächelte ihm Luft zu. Nach einer langen Atempause präsentierte er sich schließlich mit eleganten Sprüngen wieder auf der Bühne. Janos genoss den Applaus und spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Vor drei Jahren hatte er sich mit dem AIDS-Virus infiziert, aber mit Hilfe von wirksamen Medikamenten seine tänzerischen Qualitäten und die enorme Sprungkraft erhalten können. Er wusste, dass das Ende seiner Karriere irgendwann kommen würde, wollte das aber durch eine strenge disziplinierte Lebensweise hinausschieben. Dazu gehörte neben einer bewussten Ernährung vor allem auch der Sport. Als Kind war er oft mit seinem Vater in Tschechien gewandert und mit ihm auch in die Slowakei gefahren, um im Gebiet der Hohen Tatra zu klettern. Seitdem faszinierte ihn das Bergsteigen. Trotz seiner zierlichen Figur war er sehr kräftig und besaß eine gute Ausdauer, sodass er hier in der Schweiz so oft wie möglich in die Berge ging.

Janos war froh, dass dies die letzte Aufführung vor der Sommerpause gewesen war, sodass nun eine Erholungspause folgte. Mit Jiri, dem Choreographen, den er schon aus seiner Prager Zeit kannte, war er seit mehreren Jahren liiert. Die beiden waren ein erfolgreiches Team, das die Grundfesten des Züricher Balletts bildete. Auch über die Grenzen der Stadt hinaus waren sie in der Kulturszene aktiv und beteiligten sich an diversen Aktionen für ein neues Partnerschaftsgesetz. Ihre eigene Beziehung war jedoch immer wieder schweren Belastungsproben ausgesetzt, da Janos es mit der Beständigkeit nicht so genau nahm und Jiri zu schwach war, um konsequente Treue einzufordern. Dennoch hielten sie an ihrer Beziehung fest, zumal Jiri ebenfalls das Bergsteigen liebte. Beide hatten sogar im vergangenen Jahr einen beinahe erfolgreichen Versuch gestartet, das Matterhorn zu besteigen. Wegen des schlechten Wetters mussten sie jedoch kurz vor dem letzten Gipfelanstieg umkehren. Ihre eher einfache Ausrüstung hatte bei diesen Witterungsverhältnissen den Anforderungen nicht standgehalten. Sie hatten nicht genügend Geld, sich gutes professionelles Equipment zu besorgen.

„Weißt du Jiri, ich fühle mich total ausgepowert und mein Kopf ist nach der langen Saison ganz leer. Ich brauche Ablenkung und endlich wieder andere Herausforderungen.“

„Janos, lass uns später darüber reden, wenn du wieder bei Kräften bist. Anfang Juli ist sicherlich ein guter Zeitpunkt. Du weißt, wir hatten uns etwas vorgenommen: Das Matterhorn wartet auf uns.“

„Das ist eine tolle Idee. Dann haben wir jetzt noch gute vier Wochen und können uns in aller Ruhe vorbereiten.“

„Hast du auch die Kraft dazu, Janos, ich meine, wegen deiner Krankheit? Das kann sehr anstrengend für dich werden!“

„Mach dir keine Sorgen. Wenn ich die ganze Saison bis zum abschließenden Höhepunkt heute tanzen konnte, kann ich auch auf den höchsten Punkt klettern. Wir brauchen aber sehr gutes Wetter, nicht so wie letztes Mal. Matterhorn, ich komme!“

Schon am nächsten Tag begannen sie mit ihren Vorbereitungen.

Das Post Mortem Phänomen

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