Читать книгу Das Post Mortem Phänomen - Peter M. Sauer - Страница 14
Оглавление11
Das ABA-Institut in Sankt Gallen war eines der ältesten Internate der Schweiz. Es lag in einem schönen Jugendstilviertel am Stadtrand und war von den Brüdern Art und Beat Almend gegründet worden. In dem imposanten alten Hauptgebäude mit seinen mannigfachen Erkern, Türmchen und den dunkelbraunen Läden an allen Fenstern waren die Verwaltung und eine große Mensa mit langen Esstischen untergebracht. In der direkten Nachbarschaft befanden sich in ähnlichem Stil errichtete, mehrgeschossige Wohnhäuser für die Lehrer und Internatsschüler. Alles wirkte sehr gepflegt und äußerst sauber. Die Unterrichtsgebäude und die weitläufigen Sportanlagen waren später entstanden und ergänzten durch ihre Großzügigkeit den positiven Gesamteindruck. Eine mannshohe, begrünte Mauer umgab das Anwesen und der alte Baumbestand ließ das Gelände wie ein Park erscheinen.
Der Tagesablauf der Schüler war in vielerlei Hinsicht reglementiert. Das bedeutete, dass sie um sechs Uhr morgens aufstanden, danach frühstückten und sich pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 7:45 Uhr in der Klasse einfanden. Das Internat gefiel Philipp und es ging ihm dort sehr gut. Die Lehrer bemühten sich sehr fürsorglich um ihn und es traten tatsächlich keine Anfälle mehr auf.
Die Stofffülle war eher noch umfangreicher als bisher, was ihn aber nicht abschreckte, sondern anspornte. Noch interessanter jedoch fand er die Herausforderung, die die Schweizer Sprache mit sich brachte. Er dachte zuerst, hier werde Deutsch gesprochen, aber vieles wurde doch anders und so sehr verschieden ausgedrückt, dass manchmal Verständnisschwierigkeiten auftraten, die aber schnell aufgelöst wurden. Dass sein Waschbecken hier ein Lavabo war, konnte er noch leicht einsehen, dass aber das Motorrad hier Töff hieß, dass die Polizei verzeigte statt anzeigte und Zuwiderhandlungen nicht bestraft, sondern als Fehlbare gebüßt wurden, und vor allem, dass sein Handy hier Natel hieß, war für Philipp sehr gewöhnungsbedürftig. Eher lustig fand er die Bezeichnung der Hundebesitzer als Hündeler oder den Begriff der Hospitalisierung für die Krankenhauseinweisung. Er lernte sehr schnell dazu und zwang sich, die Betonung auf die erste Silbe zu legen, wie es der Schweizer Sprachgebrauch im Gegensatz zum deutschen gerne vorsieht. Im Unterricht und in der Schrift galt allerdings strenger Zwang zum Hochdeutschen und darin war er sattelfest.
Eines Tages aber holte ihn durch ein überraschendes Ereignis das Schicksal erneut ein, und die schon fast vergessene Todesproblematik tauchte erneut auf. Ausgerechnet auf dem Weg vom Internat in die Stadt sah er in einer Seitenstraße ein Hinweisschild von PAX MORTIS, einer schweizerischen Sterbehilfeorganisation, die dort angesiedelt war. Irgendetwas in ihm zog ihn unwiderstehlich dorthin und er folgte diesem Drang. Er bog in die Straße ein und schritt neugierig auf ein großes altes, ehrwürdiges Patrizierhaus zu. Vor der mächtigen Eingangstür blieb er stehen und betrachtete die darüber angebrachten Symbole. Es waren die beiden seltsam ineinander verschlungenen Buchstaben P und M, die von zwei Handflächen feierlich gemeinsam getragen wurden. Über allem schwebte eine weiße Taube.
Philipp hatte von der Existenz solcher Sterbehilfeorganisationen schon gehört, und wunderte sich jetzt, dass diese hier so offen mit christlichen Symbolen arbeitete, obwohl die katholische Kirche strikt gegen die Sterbehilfe war. Er glaubte aber, dass dies den Menschen, die hier Erlösung von ihren Leiden suchten, bestimmt ziemlich egal war. Die Taube als Symbol des Heiligen Geistes stand für Erleuchtung und vielleicht auch für Erleichterung und helfende Hände, die zur Erlösung führten, erschienen ihm jetzt durchaus logisch.
Während er noch seinen Gedanken nachhing, öffnete sich langsam das Tor und eine junge Frau zwängte sich mit einem großen Fahrrad durch die Lücke. Sie war sehr zierlich und sah ein wenig gebrechlich aus. Philipp lief sofort zum Tor, um ihr zu helfen, denn sie war offensichtlich zu schwach, um es selbst wieder zu schließen. Sie bedankte sich freundlich für die Hilfe und Philipp konnte in ihren Augen eine tiefe Traurigkeit erkennen. Mühsam kletterte sie aufs Rad, wobei das Vorderrad alsbald in eine dort verlaufende Tramschiene geriet und es zum unvermeidlichen Sturz kam. Philipp rannte sofort zu ihr. Die junge Frau hatte sich am Knie verletzt und blutete an den Handflächen. Komisch, schoss es ihm durch den Kopf, hier bluten die betenden Hände vom Eingangsschild. Sie weinte und wollte sofort zurück ins Haus.
Philipp half ihr beim Aufstehen und war erstaunt, wie leicht sie war. Ihr Gesicht war auffallend hübsch. Er bot ihr an, das Fahrrad für sie zu führen und sie ins Institut zu begleiten. Wortlos nahm sie an. Er stellte sich mit seinem Namen vor und erzählte ein bisschen von sich und dass er Schüler im ABA-Internat war. Mehr Zeit hatte er nicht, denn sie waren bereits wieder am Tor angekommen. Die junge Frau sah ihn freundlich an, worauf er schnell hinzufügte, dass er jeden Mittwochnachmittag kurz vor 15 Uhr hier vorbeikomme, weil er dann Ausgang habe und in die Stadt gehe. Und wenn sie wolle, werde er nächste Woche hier auf sie warten und sie könnten zusammen einen Ausflug in die Stadt machen.
„Ich heiße Marie, Marie Siebenkorn“, sagte sie. „Ich fühle mich im Moment nicht besonders gut, aber wenn es mir nächsten Mittwoch besser geht, werde ich kommen. Danke für alles.“
Dann verschwand sie durch die Tür und Philipp zog das Tor hinter ihr wieder zu.