Читать книгу Das Post Mortem Phänomen - Peter M. Sauer - Страница 23

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Chris quartierte sie beide in einem der besten Hotels in Zermatt ein. Inzwischen waren sie gut informiert, hatten die möglichen Routen ausfindig gemacht und sich mit einer guten Ausrüstung versehen. Proviant gab es auch genügend und am nächsten Morgen starteten sie auf dem markierten Höhenweg in Richtung Schwarzsee, wo sie zum ersten Mal übernachten wollten.

Der Aufstieg war zwar mühsam, aber bei herrlichem Wetter belohnte sie das imposante Panorama der Walliser Bergwelt mit ihren majestätischen Viertausendern. Am späten Nachmittag erreichten sie die Hütte und richteten sich ein. Ein traumhafter Blick auf das Matterhorn im Abendrot und den kristallklaren Schwarzsee mit seiner Kapelle „Maria zum Schnee“ tat sich auf. Nach und nach fanden weitere Wanderer den Weg und die Hütte füllte sich. Als Philipp sein duftendes Käsebrot mit Cornichons und den kleinen Essigzwiebeln verspeist hatte, überfielen ihn ganz plötzlich Übelkeit und die ihm wohl bekannte Erregung. Seine Angst und das innere Zittern wurden immer stärker und unweigerlich zog es Philipps Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung, hin zu zwei Bergsteigern, die gerade den Weg erklommen.

Es waren zwei hagere junge Männer in Bergsteiger-Kluft, die eher wie Tageswanderer relativ einfache Wanderschuhe trugen. Dennoch führten sie Seile und Haken mit sich, als ob sie Größeres vorhätten. Philipp fühlte sich regelrecht zu dem kleineren der beiden Männer hingezogen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und es drängte förmlich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Chris bemerkte nichts davon, da er in ein intensives Gespräch mit einem Schweizer Bergführer vertieft war. Philipp wandte sich ihnen zu und fragte den Bergführer, ob er die beiden Männer kenne.

„Ja, ich war mit den beiden schon mal unterwegs. Sie kommen ursprünglich aus Tschechien und wenn morgen das Wetter gut ist, wollen sie den Aufstieg zum Matterhorn wagen.“ Er sah Philipps skeptischen Blick und fügte grinsend hinzu: „Täusch dich nicht, die beiden sind gut trainiert und bestimmt bestens vorbereitet, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht.“

Aber Philipp fühlte ganz deutlich, dass da etwas nicht stimmte. Er sprach die beiden an und versuchte mit allen Mitteln den kleineren Tschechen von ihrem geplanten Aufstieg abzubringen. Da er aber vom Bergsteigen selbst keine Ahnung hatte, wirkten seine Argumente blass und sein Gegenüber lachte ihn am Ende sogar aus. Philipp konnte ihm ja nicht seine Sicht der Dinge mitteilen, denn das hätten andere erst recht nicht geglaubt. Trotzdem ertrug Philipp es nicht, dass seine Warnungen einfach so abgetan wurden.

Als er zurück an den Tisch kam, stieß er auf einen skeptisch dreinblickenden Onkel, der den letzten Teil der engagierten Auseinandersetzung gehört hatte. Chris bat Philipp, sich zu beruhigen, die Leute wüssten schon, was sie täten, auch wenn ihm das jetzt fremd erschiene. Schließlich akzeptierte Philipp die Situation widerwillig und verzichtete auf weitere Einwände.

Die folgende Nacht war kurz, denn Bergsteiger stehen sehr früh auf und das bleibt auch nicht unbemerkt. Dennoch warteten Chris und Philipp noch etwas länger in ihren Betten, bis die meisten Bergsteiger fort waren. Da sie selbst nur einfache Bergwanderer waren, konnten sie alles gemütlicher angehen.

Als sie den Speisesaal zum Frühstück betraten, waren die beiden Tschechen schon weg. Das beunruhigte Philipp sofort wieder. Chris redete erneut auf ihn ein, aber Philipp blieb nervös.

Sie packten die Rucksäcke und machten sich auf den Weg zur Hörnlihütte. Es gab einen anspruchsvollen und gut ausgeschilderten Zickzackweg dorthin. Die Route führte sie über 600 Höhenmeter an sehr felsigen und lockeren Geröllfeldern entlang nach oben. Trotz der Höhenlage war es sehr heiß und sie gerieten ab und zu außer Atem. Sie befanden sich jetzt oberhalb der Baumgrenze, wo es kaum noch Schatten gab. Die einzelnen Etappen, die sie zum Aufstieg inzwischen zurückgelegt hatten, wurden mit zunehmender Tageslänge immer kürzer und die Pausen dazwischen immer länger. Sie merkten, dass sie körperlich nicht auf diese Höhe eingestellt waren, dennoch kamen sie recht gut voran und blieben im vorgegebenen Zeitplan.

Bei der Überquerung eines der vielen Geröllfelder geriet Philipp über ein paar lockere feuchte Steine plötzlich ins Rutschen und stürzte kopfüber ungefähr 10 Meter über unbefestigte Felsbrocken hinunter, wobei er sich mehrfach überschlug, bis er regungslos liegenblieb. Er schien bewusstlos zu sein. Chris stieg sofort und so schnell wie möglich am Rande des Feldes ab, um dann quer zum Hang zu Philipp vorzudringen. Philipp war bei Bewusstsein und schaute ihn an. Er lachte und fand das Ganze eher lustig. Chris war erleichtert, sah aber gleichzeitig, dass Philipp heftig am Kopf blutete. Er nahm sofort den Erste-Hilfe-Kasten aus seinem Rucksack und legte ihm fachmännisch einen Kopfverband an. Erst als Philipp aufstehen wollte, merkte er, dass seine Knie schmerzten, und dass er sich wahrscheinlich die rechte Schulter geprellt hatte. Chris untersuchte ihn vorsichtig mit dem Ergebnis, dass vor allem die Schulter oder das Schlüsselbein etwas abbekommen hatten, weswegen er Philipp den rechten Arm mit einer Binde an den Körper band. Danach nahm er sein Handy und rief die Bergrettung an. Eine Fortsetzung ihrer Tour war nun ausgeschlossen. Hier oben gab es nur die Rettung per Hubschrauber, was die Bergrettungsgesellschaft Air Zermatt perfekt beherrschte.

Nachdem der Einsatz des Helikopters bestätigt worden war, setzte Chris sich neben seinen Neffen und sie redeten lange kein Wort miteinander. Es war sehr still um sie herum. Sie schauten zum Matterhorn hinauf, diesem imposanten, riesigen, einzeln stehenden, monumentalen Idealbild eines Berges. Nach ihrem Erlebnis von vorhin fühlten sie sich in Anbetracht dieses Naturwunders klein und verstört.

Chris redete schließlich als erster.

„Philipp, du hast vorhin so gelacht, hast du denn keine Angst gehabt, als es dich da hinunterriss? Das war doch eine gefährliche Situation. Und hast du nicht auch jetzt noch Angst, dass mit dir etwas Schlimmes passiert sein könnte? Schließlich warst du in größter Lebensgefahr und bist es vielleicht sogar noch.“

Philipp blieb ganz ruhig.

„Nein, wieso? Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass mein Leben nicht in Gefahr ist. Hier und jetzt kann mir nichts Ernsthaftes passieren, da bin ich mir ganz sicher.“

„Woher willst du denn das wissen? Das hätte auch ganz anders ausgehen können, und du hättest das nicht beeinflussen können.“

„Ich kann halt fühlen, wenn der Tod kommt – bei anderen schon lange und nun bei mir selbst offensichtlich auch. Ich habe vielleicht so etwas wie einen besonderen Sinn, wenn es um den Tod geht. Ich kann ihn spüren. Es ist komisch und ich weiß nicht, warum das so ist. Oft habe ich damit schon Recht gehabt, wie z.B. bei Omas Tod, bei Andreas damals und bei meiner Freundin Marie Siebenkorn. Aber das kannst du noch nicht wissen, ich erzähle dir das demnächst mal genau. Gestern habe ich diese Ahnung auch bei dem kleinen Bergsteiger gehabt. Der kommt nicht wieder lebendig zurück, das sag ich dir!“

Chris war bestürzt. Das war unmöglich, so etwas konnte doch kein Mensch vorher wissen.

Er schob Philipps Ahnungen auf die Höhenluft, die seinen Geist verwirrte oder aber auf ein Hirntrauma, das er sich durch den Sturz zugezogen haben könnte. Oder hatte das am Ende doch etwas mit Philipps Kindheit und dem vorzeitigen Tod seines Vaters zu tun? Immerhin war er mit der Intention aufgebrochen, auf der Wanderung mit seinem Neffen darüber zu reden. Nein, das musste er nun fürs Erste verschieben. Nach dem Bergunfall waren jetzt und hier nicht mehr der rechte Ort und die passende Gelegenheit für ein ausführliches, persönliches Gespräch. Sie mussten auf den Helikopter warten. Und während Chris den Blick bewundernd zum Matterhorn hob, erinnerte er sich an das, was er niemals vergessen würde:

Das Post Mortem Phänomen

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