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Kapitel 5

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Samstag, 19. September 1874, 9:00 Uhr

New York City Police Department, Detective Bureau, Schurkengalerie

Thomas Byrnes’ Schurkengalerie hatte seit seinem letztem Besuch Gestalt angenommen: Eine meterlange hölzerne Tafel mit aufwendigen Schnitzereien und einem Adler obenauf und unzähligen Carte de visite’s in einem Raster in Klapptafeln darunter präsentierte sich Inspector Cochranes Auge. Beeindruckt blieb er stehen und ließ den Anblick auf sich wirken, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Vor wenigen Wochen noch waren die Fotografien in Kisten sortiert gewesen. Nun konnte man sie auf einen Blick studieren.

»Guten Morgen, Henry«, begrüßte Thomas Byrnes ihn gut gelaunt von seinem Schreibtisch aus.

»Guten Morgen, Thomas.« Er schritt auf die Tafel zu. »Mein Gott. Damit revolutionierst du die Polizeiarbeit.«

Thomas stand auf, schritt zu ihm und platzierte sich neben ihm. »4000 Fotografien sind es inzwischen. Henderson hat die Tafel nach meinen Vorgaben gebaut und kaum, dass sie aufgestellt war, hat sie sich gefüllt. Ich habe bereits eine zweite in Auftrag gegeben.«

»Wenn das so weitergeht, brauchst du bald einen zweiten Raum für deine Schurkengalerie«, kommentierte Cochrane.

Byrnes lachte laut auf. »Natürlich.« Er deutete auf mehrere Kisten, die neben seinem Schreibtisch standen. »Ich werde wohl eine extra Abteilung für die Italiener machen müssen. Diese hier«, er deutete mit dem Finger auf die Tafeln, »sind fast ausschließlich irische und deutsche Schurken. Die drüben in den Kisten sind über die Hälfte Italiener. Da kommt was auf uns zu, Henry.«

»Die Flut an italienischen Einwanderern trägt also Früchte.«

»Ja. Und sie sind anders aufgestellt als die Iren und Deutschen. Bei denen zählt ein Mord so viel wie ein abgekautes Ohr bei einem Iren.«

»Sieht nicht gut aus. Farrell hat mich schon darüber informiert. Er hat vor, Italienisch mit ins Ausbildungsprogramm zu nehmen.«

»Ach«, brummte Byrnes, »so weit sind wir schon, dass wir uns auf ihre Ebene begeben. Irgendwann ist es so weit, dass wir uns in ihre Zellen einsperren lassen, um ihre Gefühlslagen zu studieren. Was für ein Nonsens! Die Jungs sprechen die Sprache der Gewalt, das ist die Sprache, die sie verstehen, also sollte man ihnen in dieser auch antworten.«

Henry Cochrane zwirbelte an seinem Schnurrbart. »Du weißt, dass Polizeiarbeit anders aussieht, Thomas.« Er konnte Byrnes grobe Ansichten nicht teilen. Die Italiener verließen ihre Heimat nicht aus Spaß, sondern aus Not. Armut und Übervölkerung trieben sie in die Ferne, nach New York. Und hier mussten sie ums Überleben kämpfen, die Stadt empfing sie nicht mit offenen Armen.

»Ich habe jedenfalls gleich eine zweite Tafel in Auftrag gegeben«, wiederholte Byrnes mit ironischem Unterton. Für einen Moment war es still. »Warum bist du hier, Henry?«

»200 Fässer sind aus einer Bierbrauerei gestohlen worden. Ich suche nach Verdächtigen.«

»Du hast den Hell-Gate-Brewery-Fall übernommen?«

»Ja.«

Byrnes lachte erneut. »Ausgerechnet du! Freiwillig hast du den Fall mit Sicherheit nicht übernommen. Den hat dir Farrell aufgedrückt, nicht wahr?«

»Ach, das ist ein Fall wie jeder andere. Jedenfalls behandele ich ihn so.«

Byrnes beugte sich zu ihm. »Ich rieche Malz an dir …«

Cochrane grinste. »Wenn du einen so überaus ausgeprägten Geruchssinn hast, sollte ich dich bei meinen Ermittlungen vielleicht als Spürhund einsetzen.«

»Das könnte dir so passen«, blaffte Byrnes. Er stemmte die Fäuste auf seine Hüften und ließ seinen Blick über die Tafel gleiten. »Kläre mich mal über den Ermittlungsstand auf, damit ich mir ein Bild davon machen kann, wer von denen hier infrage kommen könnte.«

»Die Malzmaschinen sind zerstört, der gesamte Bierbestand ist gestohlen worden. Die Nachtwächter sind verschwunden und ihre in den Personalakten vermerkten Adressen stimmen nicht. Keiner kennt sie näher. Es gab kein Verkehrsaufkommen und keinerlei Auffälligkeiten rund um die Fabrik. Die von der Schifffahrtsmeldebehörde sagen, dass keine Schiffe in der Nacht den Hudson River passiert haben. Das wäre nämlich eine Möglichkeit gewesen, das Diebesgut abzutransportieren, denn die Brauerei liegt am Hudson River. Ich stehe also vor einem Rätsel. Und das heißt, das Ganze ist sowohl gut geplant als auch durchgeführt worden. Dahinter steckt mindestens ein schlauer Kopf. Und viele Helfershelfer. Ich gehe von einem Netzwerk aus. Verdächtig könnten Konkurrenten sein – oder eine Gang.«

»Nichts da, sonst keine weiteren Spuren?«

Cochrane schüttelte verneinend den Kopf.

»Ist ja herzlich wenig.« Byrnes rümpfte die Nase. »Schlaue Köpfe gibt es hier nur wenige. Schurken, die zusammenarbeiten, einige. Willst du die lokalisiert haben, auf den Stadtteil?«

»Nein. Die müssen keineswegs aus Hell’s Kitchen sein.«

Byrnes überlegte nicht lange. Er führte Cochrane weiter rechts an die Tafel. »Slipsey Ward. Ist einer von der Hook Gang. Hat einen Schoner entführt und sitzt ein.« Er ging weiter und deutete auf eine andere Fotografie. »Das ist Eddie Wallace. Er gehört auch zur Hook Gang. Hat ein Ruderboot entführen wollen. Auf dem waren aber ein paar unserer Kollegen in Zivil drauf. Der sitzt auch ein. Wie du siehst, betreibt die Hook Gang Piraterie. Könnte gut sein, dass sie dahinterstecken. Nicht inhaftiert sind …«, er lief weiter, »James Coffee, der Anführer, Terry Le Strange und Tommy Shay, die sind wegen früherer kleinerer Delikte in unserer Kartei. Wir wissen, dass sie zur Hook Gang gehören, aber sie sind bislang noch nicht gefasst worden.«

Cochrane sah sich die Aufnahmen genau an.

»Dann gibt’s noch die Gegner der Hook Gang, die auch in Sachen Piraterie unterwegs sind«, Byrnes schritt weiter. »Die Patsy Conroy Gang. Da haben wir nur eine Aufnahme von Larry Griffin. Der hat mal wegen eines Diebstahls eingesessen. Wir wissen, dass er für Patsy Conroy arbeitet. Die Gang könnte auch infrage kommen.«

Cochrane betrachtete ihn eingehend. »Ich will die Akten von allen haben.«

»Natürlich.« Byrnes schritt weiter. »Der Nächste: Danny Lyons. Er war früher bei der Five Points Gang. Dort war er einer von denen, die gelenkt haben. Vor fünf Jahren wurde er mit einem Überfall auf eine Bank in Chicago in Verbindung gebracht. Gefunden haben sie ihn aber nicht. Es heißt, er sei wieder in der Stadt. Kann aber auch ein Gerücht sein. Was er treibt, sofern er hier ist, weiß man nicht.« Als Nächstes deutete er mit dem Finger auf einen Mann, der grobschlächtig in die Kamera blickte. »Michael Lloyd, auch ein ehemaliges Mitglied der Five Points Gang, Taschendieb und Betrug sind sein Gebiet. Gehört vielleicht zur Whyos Gang, die allerdings nichts mit Piraterie am Hut haben. Die machen in Sachen Glücksspiel, Prostitution, Straßenraub.«

Cochrane schmunzelte. »Am besten, du suchst mir die Akten von allen raus, die infrage kommen, und lässt sie in mein Büro bringen. Hierzu …«, er deutete mit dem Finger auf die Fotografie einer Frau, »habe ich eine Frage. Sophie Lyons … sie war doch vor über zehn Jahren wegen eines Einbruchs verurteilt, wenn ich mich recht entsinne. Warum ist sie hier noch aufgeführt? Soweit ich weiß, hat sie doch ein Buch herausgebracht und sich mit diesem deutlich vom Verbrechermilieu distanziert?«

»Warum Verbrechen sich nicht lohnt ist der Titel des Buches. Ja, sie hat sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Sie bekehrt jetzt Straftäter. Trotzdem: Wer einmal eine Straftat begangen hat, bleibt vermerkt.«

»Na, dann hoffe ich mal, dass sie mit ihrem Buch Erfolg hat. Das macht uns weniger Arbeit im Nachhinein.« Neugierig blieb sein Blick an der Fotografie einer weiteren Frau hängen.

»Battle Annie oder The Sweetheart of the Gopher Gang«, klärte Byrnes ihn auf. »Ihr richtiger Name ist Annie Walsh. Sie führt die Lady Gophers an, also einen Abzweig der Gopher Gang. Man nennt sie auch The Queen of Hell’s Kitchen. Das ist eine Schlaue. Wegen Diebstahls war sie vor Jahren mal im Gefängnis. Kaum frei, hat sie Karriere gemacht. Lässt sich sogar von Unternehmen und Gewerkschaften anheuern, um dann mit mehreren hundert Frauen aufzuräumen. Und Hell’s Kitchen – das könnte passen. «

»Eine zweite Hell-Cat Maggie …«

»Schlauer. Und ohne angespitzte Zähne und Messing­nägel«, kommentierte Byrnes. »Soll ich die Akte von ihr auch für dich raussuchen?«

»Ja. Kannst du mir die Akten heute noch zukommen lassen?«

Byrnes nickte. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Ich danke dir, Thomas. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen.« Cochrane deutete mit dem Kopf auf die Kisten, die am Schreibtisch standen. »Die Italiener sollten wir bei diesem Fall nicht außer Acht lassen. Wenn du glaubst, unter ihnen Verdächtige zu finden, hätte ich auch von diesen gerne die Akten.«

»Ja«, gab Byrnes langgezogen zurück. »Sie sind nämlich nicht nur doppelt so brutal, sondern auch doppelt so schnell und clever wie die Iren und Deutschen. Allerdings haben sie sich noch nicht zusammengerottet und Gangs gebildet. Jedenfalls soweit ich weiß.«

»Wir behalten sie im Blick.«

Gegen jedes Gebot

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