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Kapitel 18

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19:30 Uhr

Woman’s Christian Temperance Union, Trinity Church, Wall Street, Lower Manhattan

Alessa stand vor der schmalsten Kirche, genau genommen vor dem schmalsten Gebäude, das sie jemals gesehen hatte. Die Kirchentür war besonders schwer, sodass Alessa ihre Schulter zu Hilfe nahm, um sie aufzudrücken. Ein Chor von Frauenstimmen schallte aus dem Kirchenraum zu ihr. Wie sie in Erfahrung hatte bringen können, traf sich die WCTU montags in der Trinity Church zur Chorprobe. Da sie aufgrund ihres Studiums keine Gelegenheit hatte, zu deren Bürozeiten zu kommen, hatte sie diesen Weg gewählt, in der Hoffnung, Esther McNeil hier sprechen zu können. Über den steinernen Boden betrat sie den Kirchenraum. Bis auf zwei ältere Frauen gab es keine Zuhörer. Alessa nahm in einer der hinteren Bänke Platz. Es war für sie ungewöhnlich, in einer Kirche zu sein. Nur manchmal hatte sie die Kapelle des St Thomas’ Hospital aufgesucht, wenn die Geschehnisse im Krankenhaus allzu bewegend gewesen waren und sie für sich hatte sein wollen. Aufmerksam lauschte sie dem Gesang.

The Demon of Rum is about in the land,

His victims are falling on every hand,

The wise and the simple, the brave and the fair,

No station too high for his vengeance to spare.

O women, the sorrow and pain is with you,

And so be the joy and the victory, too;

With this for your motto, and succor divine,

The lips that touch liquor shall never touch mine.

Es lag etwas Hartes und Kompromissloses auf den Gesichtern der Frauen. Anders als in der Royal Albert Hall, in der sie der herzhaften Rede Josephine Butlers zugehört hatte, die gegen die Doppelmoral und für die Abschaffung der Contagious Diseases Acts sowie für eine bessere Stellung der Frauen in der Gesellschaft gekämpft hatte, ging keinerlei Wärme von den Gesichtern der Frauen aus. Allerdings musste sie hier nicht befürchten, dass die Dinge ausuferten und sie in Gefahr geriet, wie es ihr in der Royal Albert Hall geschehen war. Hier gab es keinen Disput, keine Konfrontation. Die Frauen sangen für sich.

Wie ein kalter Schauer legte sich das Gefühl, einsam zu sein, um sie. Fest umfing ihre Hand die Zeichnungen, die sie mitgebracht hatte, um mit Esther McNeil über diese in den Dialog zu treten. Immer wieder hatte sie in den letzten Wochen Zeichnungen von den misshandelten Frauen und Kindern gemacht. Nebenbei hatte sie in einem kleinen Büchlein deren Geschichten notiert. Ihre Hoffnung, dass in Amerika die Situation der Frauen in der Gesellschaft besser wäre als in England, war dahin. Aber immerhin durfte sie hier als Frau studieren. Und während sie in England nur Beobachterin und Zuhörerin gewesen war, war sie nun aktiv. Etwas hatte sich verändert. Aus Träumen und Hoffnungen wurden Taten. Nur fühlte es sich unglaublich einsam an, am anderen Ende der Welt in einer fremden Kirche zu sitzen und diesen Frauen zuzuhören, die eine geschlossene Gemeinschaft bildeten und wenig einladend wirkten. Wie gerne hätte sie sich mit Mark ausgetauscht. Er hätte ihr sicherlich das Gefühl, fremd zu sein, allein schon durch seine Anwesenheit genommen und ihr bei dieser Sache einen guten Rat geben können.

Etwa eine Stunde später endete die Chorprobe. Alessa stand auf und stellte sich in den Gang zwischen die Bänke. Gleich die erste Frau, die an ihr vorbeischritt, sprach sie an.

»Guten Abend, mein Name ist Alessa Arlington. Ich suche Esther McNeil.«

Die Frau musterte sie eingehend und wandte sich dann um. »Esther? Die junge Dame hier fragt nach dir.«

Esther McNeil mochte Mitte dreißig sein. Sie war von kleiner Statur, ihre tiefschwarzen Haare kräuselten sich leicht um ihre Stirn. In ihren Augen lag etwas Feuriges und ihre Mundwinkel zuckten leicht, während sie Alessa betrachtete. »Ich bin Esther McNeil. Sie möchten mich sprechen?«

»Ja. Mein Name ist Alessa Arlington. Ich bin Studentin am Women’s Medical. Wir versorgen eine hohe Anzahl von Frauen, die von ihren alkoholisierten Männern misshandelt werden. Auch viele Kinder sind betroffen. Deshalb möchte ich gern mit Ihnen sprechen …«

»Kommen Sie mit«, erklärte Esther McNeil, »wir gehen nach der Chorprobe stets noch in den Gemeinschaftsraum, um uns auszutauschen.«

Alessa nickte und folgte Esther in den angrenzenden Raum. Mehrere kleine Tische standen zusammengestellt in diesem und die Frauen nahmen plaudernd Platz.

»Eine Medizinstudentin …«, sprach Esther, mehr zu sich selbst als zu Alessa, »das ist ja interessant. Dass die Folgen des Alkoholkonsums sich im Spital zur Gänze zeigen, weiß ich, wir sind immer wieder einmal vor Ort, um uns ein Bild von der Realität zu machen.«

Alessa rollte ihre Zeichnungen auf. »Ich habe einiges dessen, was mir unter die Augen kam, festgehalten …«

Auf Esther McNeils Gesicht breitete sich augenblicklich Erschütterung aus. »Mein Gott«, entglitt es ihren Lippen, während sie die Zeichnungen besah. Auch die Frau, die Alessa zur Linken saß, richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Zeichnungen und konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. »Sie sollten sehen, dass Sie diese Zeichnungen in die Zeitung bringen, junge Dame.«

Alessa blickte die Frau an. Sie mochte über fünfzig Jahre alt sein, ihre Haare waren weiß wie Schnee und ihre Haut, die sich über das schmale Gesicht spannte, war von Falten gezeichnet.

»Eine ausgezeichnete Idee, Fredericka«, ließ Esther McNeil verlauten. »Und wir könnten Sie mit einem Artikel hierzu unterstützen.«

Alessa sann nach, den Blick auf die Zeichnungen gerichtet.

»Als Studentin des Women’s Medical ist es mir nicht gestattet, politisch aktiv zu sein. Deshalb glaube ich nicht, dass ich mit meinem Namen an die Öffentlichkeit herantreten darf …«

»Wie in Elizabeth Blackwell’s Women’s Medical, so auf Erden.« Die ältere Frau verzog das Gesicht abschätzig. »Mir sind die strikten moralischen Vorgaben des Colleges bekannt. Ich persönlich halte nichts von diesen. Und Sie offenbar auch nicht, denn wenn Sie sich an die Gebote des Colleges halten würden, wären Sie nicht hier. Sind Sie nicht bereit, den Weg, den Sie beschritten haben und der Sie zu uns geführt hat, weiterzugehen?«

Alessa schüttelte den Kopf. Nein, das wollte sie nicht! Sie wollte etwas bewegen, in die richtige Richtung, aber nicht riskieren, ihren Studienplatz zu verlieren.

»Nein. Ich habe lange und hart gekämpft, um Medizin studieren zu dürfen. Und das würde ich niemals aufs Spiel setzen. Sie sind eine Organisation, groß und stark. Sie haben die Möglichkeit, Dinge zu bewegen – ohne dass Sie Ihren Lebensplan in Gefahr bringen.«

»Fredericka«, wandte Esther McNeil ein, »es wäre doch gar kein Problem, dass wir sie schützen, indem wir ein ›Anonym‹ unter die Zeichnungen setzen.«

»Wie ist Ihr Name, junge Dame?«, fragte die ältere Frau.

»Alessa Arlington. Und der Ihrige?«

»Fredericka Mandelbaum. Ich unterstütze die WCTU, weil ich es schätze, dass die Frauen hier ohne Wenn und Aber dem Alkoholkonsum der Männer die Stirn bieten. Halbe Sachen sind aus meiner Sicht der falsche Ansatz.« Sie sah Esther McNeil an. »Es passt nicht zu unserem Leitbild, würden wir die Zeichnungen von Ms. Arlington mit einem Artikel aus unserer Feder an die Öffentlichkeit bringen, ohne ihren Namen zu nennen.«

Offenbar wogen die Worte der alten Dame viel, denn auf Esther McNeils Gesicht breitete sich Enttäuschung aus. Alessa spürte einen tiefen Stich in ihrem Herzen. Und wieder war das Gefühl von Fremde da: Sie stand allein.

»Wenn Sie uns unterstützen wollen, Ms. Arlington«, hob Fredericka Mandelbaum wieder an zu sprechen, »kommen Sie doch zu unserer Versammlung nächsten Mittwochabend in unseren Büroräumen. Vielleicht findet sich eine andere Möglichkeit, Ihr Anliegen, den Auswirkungen des Alkoholkonsums etwas entgegenzuhalten, umzusetzen. Oder Sie kommen nächsten Samstag zu unserer Wohltätigkeitsveranstaltung in die Grace Church.« Sie reichte ihr ein Blatt mit der Einladung.

Alessa presste die Lippen aufeinander, als sie die Einladung entgegennahm. Die Stirn krausgezogen, antwortete sie: »Ich werde sehen. Im Moment war es zunächst meine Hoffnung, dass Sie mit diesen Zeichnungen an die Öffentlichkeit gehen.«

»Das werden wir tun, wenn Sie bereit sind, sich zu diesen Zeichnungen zu bekennen, Ms. Arlington«, erwiderte Fredericka Mandelbaum.

Alessa rollte die Zeichnungen ein. »Ich werde darüber nachdenken. Haben Sie Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für mich.«

»Sehr gerne. Es würde uns freuen, Sie wiederzusehen«, antwortete die ältere Frau lächelnd.

Esther McNeil blickte sie ernst an. »Ihre Zeichnungen haben mich sehr bewegt, Ms. Arlington. Es wäre zu schade, Sie nicht zu publizieren. Haben Sie einen guten Abend.«

Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich voneinander.

Beim Hinausgehen stieß sie fast mit Sophie Lyons, die sie bei Victoria Woodhull kennengelernt hatte, zusammen. Diese blickte sie überrascht an.

»Ms. Arlington … sind Sie nicht nur gewerkschaftlich interessiert, sondern auch noch an der Tätigkeit der WCTU?«

»Mrs. Lyons, guten Abend. Sicherlich interessiere ich mich für das Engagement der WCTU, das war der Grund meines Besuches. Allerdings muss ich nun nach Hause, vielleicht haben wir ein anderes Mal Gelegenheit, miteinander zu sprechen.«

»Natürlich«, entgegnete Sophie Lyons. »Ich wünsche einen schönen Abend, Ms. Arlington.«

Sie nickte zum Gruß. Als sie auf die Straße trat, überkam sie Wut. Es war noch immer warm, Staub lag in der Luft. Die Geräusche der Passanten und Kutschen schienen weit weg. Sie fühlte bittere Enttäuschung.

Während sie den Weg zurück zum Women’s Medical nahm, die Gedanken in ihrem Kopf herumwirbelten, wurde ihr bewusst, dass ihr Weg zur Woman’s Christian Temperance Union nicht umsonst gewesen war: Die Idee, mit den Zeichnungen an die Zeitung zu gehen, ließ sich realisieren, vermutlich, ohne dass ihr Name erschien. Sie konnte Victoria Woodhull, die die Gazette Weekly betrieb und die sich vor provokanten Beiträgen nicht scheute, fragen. Wieso nur war sie nicht gleich auf die Idee gekommen, Victoria anzusprechen?

Gegen jedes Gebot

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