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Kapitel 10

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18:20 Uhr

Dunns Wohnung, Lower Eastside

Patrick Dunn saß an seinem Schreibtisch, die Flügel seines Fensters vor ihm waren weit geöffnet. Ein Streit unten auf der Straße unterbrach die Gedankenflut, die er gerade zu Papier brachte. Von seinem Sitzplatz aus konnte er die Handgreiflichkeiten zwischen vier jungen Männern verfolgen. Es war kein ungewöhnliches Bild in der Lower Eastside.

Er stützte die Stirn wieder auf seine Hand und blickte auf das Papier und die Feder in seiner anderen Hand. Nachdem er den Tag damit verbracht hatte, Benjamin Franklin Butlers Texte und Victoria Woodhulls Übersetzung von Karl Marx Manifest nochmals zu studieren, war er dazu übergegangen, weitere Forderungen für seine Rede, die er am Donnerstag im Tompkins Square Park vor den Arbeitern und Arbeitslosen halten wollte, aufzustellen. Der Achtstundentag stand im Zentrum seiner Rede. 1833 hatten die Gewerkschaften den Zehnstundentag gefordert, nun war es an der Zeit, den Achtstundentag zu fordern. Des Weiteren hatte er an verschiedenen Aktionsplänen gearbeitet, sollte die Forderung für das Bauvorhaben abgelehnt werden. Anders als Peter McGuire würde er nicht weiter auf Dialoge setzen, die aus seiner Sicht ohnehin Monologe waren, sondern auf Taten, da die Gegenseite sich in der Vergangenheit keineswegs verhandlungsbereit erwiesen hatte.

Seine Anspannung wurde durch den immer lauter werdenden Streit auf der Straße verstärkt. Jeder Muskel in seinem Körper war seit Stunden angespannt und schmerzte. Obwohl er sich vorgenommen hatte, nicht mehr daran zu denken, kam ihm die Begegnung mit seiner ehemaligen Frau Kitty im Hinterhof von Tony Pastors Opera House vom Vortag in den Sinn und verdrängte augenblicklich alle anderen Gedanken.

Kitty.

Er konnte sie einfach nicht vergessen, nicht aufhören, sich nach ihr zu sehnen. Was hatte sie im Hinterhof des Vaudeville-Theaters zu suchen gehabt? Sie hatte dort mit einem jungen Mann gesprochen. Wollte sie gar in einer Hosenrolle auftreten? Das würde zu ihr passen! Wieso fühlte sich das noch immer so an, als gehöre sie ihm? Kitty war nicht mehr seine Frau! Sie hatte irgendeinen McGowan geheiratet und zwei Kinder in die Welt gesetzt, wie er von anderen erfahren hatte. Bei McGowan war sie aber anscheinend auch nicht geblieben. Auch da hatte sie sicherlich einen Scherbenhaufen hinterlassen. Mit wem sie jetzt zusammen war oder lebte, wusste er nicht. Nicht einmal, in welchem Viertel der Stadt sie wohnte. Der kurze Dialog, den er mit ihr geführt hatte, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt:

»Du lebst also noch«, hatte sie ihn spöttisch begrüßt. »Und treibst dich hier herum.«

»Wie du«, hatte er geantwortet. »Was machst du hier?«

Sie hatte ihren Körper kokett gewiegt, wie früher. »Das geht dich nichts an. Du bist nicht mehr mein Mann.«

Nachdem er lediglich die Brauen hochgezogen hatte, war sie mit einem zufriedenen Lächeln fortgefahren: »Hab gehört, du bist jetzt bei der Organisation aktiv.«

Das hatte er sogleich bestätigt, stolz.

»Gut. Da kommst du ja mal raus aus der Bude. Immer nur Bücher lesen bringt ja eh nichts.«

»Sehe ich anders, Kitty«, hatte er ihr widersprochen.

»Klar. Du hast immer alles anders gesehen. Und deine Sichtweise war Gesetz. Ist anscheinend immer noch so.«

»Ich arbeite mit anderen zusammen, Kitty. Wir ziehen an einem Strang.« Er hatte große Wut gespürt, weil sie nichts von ihrer Frechheit eingebüßt hatte, sie war sogar noch dreister geworden. Als er ihr mitgeteilt hatte, dass er bloß im Hof eine Zigarette hatte rauchen wollen und ihr sogar eine angeboten hatte, weil sie schließlich immer geraucht hatte, hatte sie den Kopf geschüttelt und ihm mitgeteilt: »Ich rauch nicht mehr. Bin schwanger. Mir hat jemand gesagt, is nich gut fürs Kind.«

Sofort hatte er sie gefragt, ob sie einen neuen Mann habe. Und sie hatte keck geantwortet:

»Du bist nicht mehr mein Mann, wie gesagt, deshalb geht dich das nichts an.« Und auf seinen Kommentar »Ich hoffe, er sorgt für dich«, hatte sie ihn einfach wissen lassen, dass sie niemanden bräuchte, der für sie sorgt. Dass sie allein gut klarkäme. Er hatte sich erneut gefragt, was sie bei Tony Pastors Opera House suchte und sie gefragt, ob sie eine Arbeit hätte oder bei Tony nach Arbeit suche. Die Fragerei war ihr jedoch zu viel gewesen. Sie hatte geschmunzelt. Und er hatte ihre zarten Gesichtszüge, ihre leuchtend grünen Augen, die kecken Sommersprossen auf ihren Nasenflügeln und die roten lockigen Haare intensiv in sich aufgenommen.

»Weißt du, Patrick, is’ nett, dich mal wieder gesehen zu haben. Aber die Fragerei ist mir zu viel. Glaube, es ist besser, wenn wir uns verabschieden.« Nach diesen Worten hatte sie ihm einfach den Rücken zugedreht und ihn verlassen.

Sie hatte ihn einfach stehen lassen.

Er stand auf und schritt in die Mitte des Zimmers, um vor der Fotografie, die sie beide lächelnd am Hochzeitstag zeigte, stehen zu bleiben. Sein Brustkorb hob und senkte sich in raschen Zügen, während sich draußen der Streit hochschaukelte – lautes Gekreische, vermischt mit dem Aufschluchzen von Frauenstimmen und Rufen nach Polizei, drang durch das offene Fenster. Ohne zu überlegen, nahm er die Fotografie von der Wand und schmiss sie auf den Boden. Das Geräusch des zerspringenden Glases übertönte den Lärm von der Straße nur für einen Moment. Er trat mit dem Schuh in die Scherben und spuckte schließlich darauf.

Danach ging er ins Badezimmer und wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser ab. Er stützte die Hände auf den Waschbeckenrand und betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die er selbst kaum ertragen konnte. Immer wieder kam dieses unfassbare Verlangen nach ihr auf, obwohl Jahre vergangen waren. Mit keiner Frau war das Gefühl von Nähe intensiver gewesen. Die Leichtigkeit, mit der sie sich einander hingegeben und Grenzen überschritten hatten, trat in seine Erinnerung, Kittys sprudelnde, frech-frivole Fantasie und Worte, ihre Töne, ihre fordernden Hände und Lippen, ihre weiche, sanfte Haut, ihre Finger, die ihn gestreift, gezeichnet und Spuren hinterlassen hatten …

Der Blick in den Spiegel ließ ihn erschrecken: die Kühle, die geröteten Augen, die Einsamkeit, die in seinem Blick lag.

Er presste die Kiefer fest aufeinander, bis es schmerzte. In seinem Kopf tobte ein Tornado. Sie war schwanger. Sie trieb es mit einem anderen Mann. Oder mit mehreren. Bei Kitty konnte man sich da nicht sicher sein.

Was hatte sie in Tony Pastors Opera House gewollt? Er war regelmäßig dort. Nie hatte er sie dort gesehen. Sie war ja einfach verschwunden … irgendwo in dieser Stadt.

Er sog die Luft tief durch die Nasenflügel ein.

Kitty machte nichts umsonst. Sie war in Tony Pastors Opera House gewesen, weil es in irgendeinen ihrer Pläne passte. Tony Pastors Opera House war aber sein Revier. Er war dort Stammgast. Er kannte so ziemlich alle dort, vom Chef bis zum Küchenjungen.

Er zog das Hemd aus und wusch sich. Es war Zeit, auszugehen in Tony Pastors Opera House und herauszufinden, was Kitty dort gewollt hatte.

Gegen jedes Gebot

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