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Kapitel 12

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Sonntag, 20. September 1874, 14:00 Uhr

Dunns Wohnung, Midtown

Seitdem sie in New York war, hatte sie immer wieder das Gefühl, dass die Welt um sie herum auf eine befremdliche Art und Weise nah und klar war, als befände sie sich im Operationsraum des St Thomas’ Hospital, in welchem sie mit Argusaugen, Zeichenblock und Stift in der Hand das Geschehen aufzeichnete. Die Geräusche der Stadt drangen wie durch ein Rohr aus der Ferne in ihr Ohr. Noch immer fühlte sie sich unsicher, wenn sie unterwegs war, war in Sorge, dass sie sich verlaufen und nicht wieder nach Hause finden könnte. New York war riesig. In den ersten Wochen war sie gleich einer Katze durch die umliegenden Straßen gelaufen, hatte das Revier, in dem sie lebte, erkundet, Zeichnungen gemacht von den Häusern, als könne sie auf diesem Weg ein Gefühl von Vertrautheit schaffen. Weil ihr die Vertrautheit fehlte, die einst selbstverständlich war, die Geborgenheit, die man spürt, wenn man sich zu Hause fühlt. Die Stadtkarte, die sie sich gekauft hatte, hatte sie wieder und wieder studiert, aber New York war zu groß, um das Abgebildete mit der Realität in Einklang zu bringen, sodass sie das Gefühl der Fremde noch immer nicht von sich hatte abschütteln können. Sie war froh um ihre Studienkollegin Ruth, eine Deutsche, mit der sie sich angefreundet hatte und die mit ihr gern spazieren ging und ebenso die Stadt erkunden wollte. Ruth mit der hohen Stimme, die sich bisweilen überschlug. Ruth litt schrecklich unter Heimweh. Ihre Familie war in Deutschland und sie war – wie sie auch – allein nach New York gekommen. Manchmal zeichnete sie Ruth. Wenn sie im Park rasteten oder in ihrem Zimmer im Women’s Medical, in dem die Studierenden auch wohnten. Es war eine Nähe zwischen Ruth und ihr entstanden, die ihr guttat. Auch Victoria Woodhull, die sie auf dem Schiff kennengelernt hatte, und die sie bisweilen in ihrem Haus besuchte, half dabei, sich ein wenig zu Hause zu fühlen. Aber es reichte nicht, um sich wirklich gut zu fühlen. St Thomas fehlte, ihr Onkel, ihre Tante fehlten. Ihr altes Zuhause. Die Themse. Und sogar ihre Stiefmutter, die sie ablehnte und sie des Hauses verwiesen hatte. John Croft, ihr Vertrauter, Arzt des St Thomas’ Hospital fehlte, Ryon Buchanan, der Mann, für den ihr Herz schlug. Seltsamerweise fehlte ihr Mark Filton am allermeisten. Vielleicht, weil er der Einzige war, den sie nicht zurückgelassen hatte, denn er war mit ihr auf der Britannic nach New York gereist. Unzählige Gespräche hatten sie auf der Reise miteinander tief verbunden, eingeleitet von einem besonderen Gespräch, das sie im St Thomas’ Hospital geführt hatten. Er wusste, warum sie Medizin studieren wollte, von ihrem Schmerz. Der Einzige, der darum wusste, dass sie ihre Mutter und ihren Bruder durch einen Ärztefehler verloren hatte. Und sie wusste um seinen Schmerz, der ihn letztlich auf diese Reise gebracht hatte. Sie waren verbunden, zusammen auf fremdem Territorium gelandet. Aber Mark war weg. Einfach weg. Als sie sich am Pier im Hafen getrennt hatten, hatte sie ihm nachgesehen und geweint. Um seine Geschichte, die ihn nach New York verschlagen hatte, um ihn als Freund, der einen eigenen Weg einschlug und sie nicht weiter begleitete, wie er es tagtäglich im St Thomas’ Hospital getan hatte. Auch noch auf dem Weg zum Women’s Medical hatte sie geweint. Mit Mark war alles, was sie mit London verband, der letzte Rest Nähe, dahingegangen. Und obwohl sie ihn hatte wissen lassen, wo sie zukünftig wohnen würde, hatte er sie nicht ein einziges Mal aufgesucht. Das machte sie wütend. War ihm ihre Freundschaft denn nichts wert? Oder war ihm etwas zugestoßen?

Inzwischen war sie in Midtown angelangt. Sie blieb stehen und faltete die Stadtkarte auf. Von Victoria Woodhull hatte sie erfahren, wo Patrick Dunn wohnte. Ein kleines Kreuz auf der Karte zeigte sein Haus an. Wie sie erleichtert feststellte, war sie auf dem richtigen Weg. Energisch schritt sie die Straße entlang und bog in die nächste rechts ab. Das Haus, in dem Dunn lebte, war heruntergekommen wie die umliegenden Häuser auch. Die Straße war schmutzig und machte einen elenden Eindruck. Wie sie dem kaputten Namensschild an der geöffneten Eingangstür entnehmen konnte, wohnte er im zweiten Stock. Sie stieg die ausgetretenen Holzstufen hinauf und stand schließlich vor seiner Tür. Zweimal klopfte sie fest an.

Kurz darauf hörte sie Schritte und die Tür wurde geöffnet. Patrick Dunn blickte sie aus kleinen, müden Augen überrascht an. Offenbar hatte er seine Wohnung an diesem Sonntag noch nicht verlassen, denn er trug lediglich eine Hose und ein Unterhemd, seine schwarzen Haare waren zerzaust.

»Ms. Arlington …«, sprach er mit rauer Stimme, »das ist aber eine Überraschung …«

»Guten Tag, Mr. Dunn. Ich muss mich entschuldigen, dass ich so einfach bei Ihnen erscheine. Ich habe eine Frage an Sie und Mrs. Woodhull war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben …«

Patrick Dunn öffnete die Tür weiter und hieß sie mit einem Wink einzutreten. »Kommen Sie herein, Ms. Arlington.«

Erstaunt blickte sie auf Wände voller Bücherregale, einen großen Tisch, auf welchem weitere Bücher lagen und einen Schreibtisch, der unter einer Papierflut versank – neben einem Stapel Bücher. Die Wohnung war unaufgeräumt, über den Stühlen hingen Kleidungsstücke, benutzte Teller und Becher, offenbar von den letzten Tagen, standen auf dem Tisch. Sie schritt in Richtung Fenster, als sie unter ihren Füßen etwas zerspringen fühlte und hörte. Erschrocken blickte sie hinab auf einen zersplitterten Bilderrahmen. Hatte sie ihn zertreten? Sie beugte sich hinab und nahm das größte Stück Glas samt Bild auf. Kaum, dass sie einen Blick darauf geworfen hatte, nahm Patrick Dunn ihr die Sachen aus der Hand.

»Oh«, entfuhr es ihr. »Es tut mir so leid. Ich habe das Bild auf dem Boden nicht liegen sehen. Nun habe ich es kaputt gemacht.«

»Sie trifft keine Schuld, Ms. Arlington, keine Sorge.« Er räusperte sich. »Die Halterung am Rahmen hatte sich wohl gelöst, es ist heute Nacht hinuntergefallen und weil ich noch vieles zu tun hatte, habe ich es bislang noch nicht weggeräumt. Hätte ich gewusst, dass ich Besuch von Ihnen bekomme, hätte ich vorher aufgeräumt«, erklärte Dunn.

Alessa lächelte. »Dann bin ich beruhigt, wenn ich es nicht zerstört habe. Sie haben eine sehr hübsche Frau, Mr. Dunn«, fügte sie hinzu.

»Hatte«, gab er zurück. »Sie ist nicht mehr meine Frau.«

»Oh«, entfuhr es Alessa.

Patrick Dunn legte die Fotografie und das Glas auf den Tisch.

»Wie wäre es mit einem Kaffee, Ms. Arlington?«

Sie nickte. »Eine gute Idee.«

»Dann entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich bin gleich wieder da. Setzen Sie sich doch.«

Er nahm ein paar Kleidungsstücke von einem der Stühle und legte sie auf die Anrichte. Alessa setzte sich und Patrick Dunn ging in die Küche. Neugierig beugte sie sich über die Fotografie, als er gegangen war. Die junge Frau war von kleiner Statur. Rotbraune lockige Haare fielen über ihre Schultern, sie trug ein mit Spitzen versehenes Brautkleid. Selbst auf der Fotografie konnte man erkennen, dass sie Sommersprossen auf Nase und Wangen hatte. Eine Irin, sicherlich. Entschlossen und keck blickte sie den Betrachter an. Diese Frau versprühte Kraft. Auch Patrick Dunn war gut getroffen. Mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen, seiner schlanken Figur, stand er der Frau an seiner Seite in nichts nach. Patrick Dunn war ein attraktiver Mann. Sie löste den Blick von der Fotografie und richtete ihn auf das Bücherregal: Patrick Dunn war anscheinend jemand, der besonders viel las.

»Sie schauen so versonnen auf meine Bücher, Ms. Arlington«, sagte Patrick Dunn, ein Tablett mit Kaffeekanne und zwei Tassen in der Hand. »Lesen Sie auch gern?«

»Oh ja«, gab sie zurück. »Am liebsten Fachliteratur. Manchmal lese ich auch Edgar Allan Poe, das Gedicht The Raven gefällt mir ausgenommen gut …«

»Sie wissen, dass Poe es hier in New York geschrieben hat?«

Alessa hob die Brauen. »Das wusste ich nicht.«

Patrick Dunn strebte auf das Bücherregal zu, verharrte einen Moment und holte schließlich einen Band heraus, um ihn aufzuschlagen und vor ihr auf den Tisch zu legen.

»Sehen Sie.«

Alessa las. »Das ist ja unfassbar. Hier … in dieser Stadt ist es entstanden …«

»Ja.« Patrick Dunn lächelte. Er griff nach der Kaffeekanne und goss ihr ein. »Möchten Sie Milch oder Zucker zum Kaffee?«

»Bitte etwas Milch«, antwortete sie.

Nachdem er ihr und sich eingeschenkt hatte, setzte er sich. »Sollte ich mich vor Ihnen fürchten, Ms. Arlington? Eine junge Frau, die mit medizinischen Instrumenten hantiert, Medizin studiert und Edgar Allan Poe verehrt – das ist aus meiner Sicht eine gefährliche Kombination.«

»Ach«, gab Alessa leichthin zurück, »das eine ist Realität, das andere pure Fiktion.«

»Und Sie fürchten sich nicht, wenn Sie Edgar Allan Poe lesen? Ich kenne keine Frauen, die Poe lesen, mit Verlaub.«

»Ich weiß, es gebietet sich nicht für Frauen, derart in die Abgründe der menschlichen Psyche einzutauchen. Frauen lesen Liebesromane. Meine Erfahrung ist allerdings, dass Frauen weit mehr ertragen können als Männer. Was nicht heißt, dass auch ich mich nicht zuweilen grusele, wenn ich seine Geschichten lese. Gruselten Sie sich, als Sie Poe lasen?«

»Ich gruselte mich ein wenig. Doch es gibt andere Dinge, die mich weit mehr gruseln.«

»Die wären?«

»Unberechenbare Frauen. Die Situation in den Slums.«

»Womit wir beim Grund meines Besuches wären«, ließ Alessa prompt verlauten. Sie griff nach ihrer Tasche und holte ein zusammengerolltes Blatt Papier heraus. Die Kaffeetasse war rasch beiseitegeschoben und das Papier ausgebreitet.

Patrick Dunn beugte sich über dieses, um es genau zu betrachten. Eine tiefe Falte bildete sich auf seiner Stirn, als er die darauf abgebildete zertrümmerte Hand sah.

»Haben Sie diese Zeichnung angefertigt?«

»Ja.«

»Wen wollen Sie retten, Ms. Arlington? Und warum kommen Sie damit zu mir?«

Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Es lag eine Kühle in seinem Blick, die sie erschauern ließ – und ganz plötzlich hatte seine Frage ganz allein mit ihr zu tun, als sei es ihre Hand, die dort abgebildet sei.

»Wen ich retten will? All die Frauen, denen dergleichen passiert, hier in den Slums von New York, Mr. Dunn. Ich sehe nahezu täglich misshandelte Frauen und Kinder im Hospital. Die gab es auch in London. Jedoch nicht in dieser Vielzahl. Sie, Mr. Dunn, sind in der Lage, zu den Männern zu sprechen, die die Verantwortung hierfür tragen.«

Patrick Dunn kreuzte die Arme vor der Brust.

»Mein Bemühen zielt darauf ab, dass die Männer Arbeit erhalten, fairen Lohn und dass sie unter adäquaten Arbeitsbedingungen, einem Achtstundentag, eine Anstellung finden. Das ist die Basis für ein menschenwürdiges Leben, welches inkludiert, dass sich die Zustände in den Slums wie Hungersnot, Diebstahl und Gewalt verbessern.«

»Die meisten der Übergriffe werden im Rausch ausgeübt«, erklärte Alessa, »und obwohl die Frauen dem Elend genauso ausgesetzt sind wie die Männer, haben sie sich nicht dem Alkohol verschrieben und misshandeln ihre Männer.«

Patrick Dunn lachte auf. »Da habe ich schon anderes gehört.« Er machte eine kurze Pause. »Hören Sie, Ms. Arlington: Die Trinkerei und die damit einhergehenden Aggressionen sind ein Thema für sich. Es ist nicht mein Gebiet. Wenn Sie diesbezüglich etwas verändern wollen, rate ich Ihnen, sich an den Alkoholgegnerverband Woman’s Christian Temperance Union, kurz WCTU, zu wenden. Esther McNeil ist die Vorsitzende. Sie ist radikal, besetzt Kneipen, protestiert auf verschiedensten Ebenen. Sie ist die richtige Ansprechpartnerin für Ihr Anliegen.«

»Sie haben bereits Anerkennung bei den Männern«, konterte Alessa, »Ihnen hören die Männer zu! Diese Vereinigung sieht sich sicherlich frontal zu den Männern.«

»Das ist wohl wahr. Dennoch ist die WCTU aus meiner Sicht für Ihre Sache der richtige Ansprechpartner, nicht ich. Ich werde die Männer, die wir für unsere Sache haben gewinnen können, nicht gegen mich aufbringen. Das ist nicht mein Weg. So leid es mir tut, Ms. Arlington, Sie nicht unterstützen zu können. Ich kann Ihre Wut nachvollziehen.«

Alessa nahm einen Schluck Kaffee und rollte anschließend ihr Papier ein, steckte es zurück in ihre Tasche. »Ich hatte sehr gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Dennoch kann ich Ihre Argumente nachvollziehen. Vielleicht sollte ich mich tatsächlich an diese Vereinigung wenden. Oder es fällt mir etwas anderes ein …«

»Ich bin mir sicher, dass dies der richtige Weg ist.« Patrick Dunn sah sie intensiv an. »Doch agieren Sie vorsichtig. Wie ich weiß, gebietet es sich nicht, dass Sie als Studentin des Women’s Medical politisch aktiv sind. Allein schon, dass Sie Ihr Haar kurz tragen – denn davon gehe ich aus, aufgrund ihrer Haube – dürfte im Hospital mit Missbilligung aufgenommen worden sein, denke ich. Ist es so?«

Alessa strich sich leichthin mit der Hand über die Haube. »Zu Beginn, ja. Aber ich hatte hierfür eine gute Erklärung und inzwischen hat man sich an den Anblick gewöhnt. Jetzt zählen nur noch meine Leistungen als Studentin – und hierüber kann sich wohl niemand beschweren.«

Dunn quittierte ihre Worte mit einem leisen Lachen. »Das will ich annehmen. Unter diesem kurzen Haarschopf steckt ein kluger Kopf, will mir scheinen. Und ein mutiger noch dazu.«

»Vielen Dank«, erwiderte Alessa, »wir werden sehen, wohin er mich führt. Eine Bitte habe ich noch: Wo finde ich diese Esther McNeil?«

»Das Büro der WCTU befindet sich hier in Midtown. Am Madison Square Park.«

Alessa stand auf. »Wo dieser ist, weiß ich sogar schon. Was beinahe an ein Wunder grenzt. New York ist einfach noch nicht meine Stadt, ich kenne mich kaum aus.«

»Sie werden sie für sich einnehmen, da bin ich gewiss.« Dunn erhob sich und geleitete sie zur Tür.

»Am Donnerstag werde ich um 18 Uhr eine Rede im Tompkins Square Park halten. Es würde mich freuen, wenn Sie kommen würden.«

»Aber ich darf doch nicht politisch aktiv sein, Mr. Dunn. Erst recht nicht in der Öffentlichkeit.«

»Ich bin mir sicher, Sie finden einen Weg, unerkannt der Rede beizuwohnen, Ms. Arlington.«

»Wir werden sehen«, erklärte sie mit einem Augenzwinkern.

Gegen jedes Gebot

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