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Kapitel 15

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Montag, 21. September 1874, 0:40 Uhr

Tony Pastors Opera House, Bowery

Die Augen weit geöffnet, blickte Mark Filton, dessen Name jetzt James Doyle war, an die Decke. Selbst im Halbdunkel war der große Riss darin zu erkennen. Seitdem er in Newgate bewusstlos geschlagen worden war, hatte er massive Schlafstörungen. Obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war. Es war, als hätte er zwei Leben. Sein erstes in England war bloße Erinnerung, sein zweites: vereinzelte Bilder von der Überfahrt, dem Anlegen der Britannic im Hafen, seine ersten Aufenthalte in New York und letztlich dieses Zimmer, mehr nicht. Er fühlte sich wie ein Wanderer ohne Ziel.

Sollte er Alessa schreiben? Sich mit ihr treffen? Er hatte Angst vor ihren Fragen, wo er lebte, was er tat. Er hatte Angst, durch sie Nähe zu seinem abgetrennten Leben zu haben – zu John. Und zu dem, was er liebte, was sein Leben bestimmt hatte: seine Arbeit.

All die Jahre, die er als Assistenzarzt im St Thomas’ Hospital verbracht hatte, waren wie weggefegt. Sein Geliebter, John Croft, glaubte ihn tot. Und er durfte ihm nicht schreiben, ihn zu sich holen, zu ihm reisen, er durfte ihn nicht einmal wissen lassen, dass er lebte. Das hatte er Inspector Baker versprochen. Nachdem man ihn als homosexuell entlarvt und ins Zuchthaus gesteckt und schwer misshandelt hatte, hatte er sich verloren geglaubt. Bis Inspector Baker ihn herausgeholt und auf die Britannic gesetzt hatte mit den unmissverständlichen Worten: »Setzen Sie nie wieder einen Fuß auf Englands Boden. Brechen Sie alle Kontakte ab. Sie sind offiziell tot. Legen Sie einen Deckel auf Ihr bisheriges Leben. Sie wären nicht der Erste, der dies tut. Ich entlasse Sie als freien Mann in das sogenannte Land der Freiheit. Machen Sie was draus. Sie wollen mich nicht kennenlernen, wenn Sie meinen Anweisungen zuwiderhandeln.«

Wochen über Wochen waren seitdem vergangen. Inspector Baker hatte ihm neue Papiere besorgt. Sein Leben als Mensch und Assistenzarzt Mark Filton war von dem einen auf den anderen Tag vorbei. Mit starken Verletzungen, die ihm in Newgate zugefügt worden waren, hatte er die Britannic betreten und die siebentägige Reise nach New York angetreten. Als James Doyle. In ein neues Leben.

Alessa Arlington, die beste Freundin seines Freundes, war ebenfalls auf dem Schiff gewesen, denn sie beabsichtigte, am Women’s Medical of the New York Infirmary, dem Lehrhospital Elizabeth Blackwells, Medizin zu studieren. Alessa hatte seine Wunden auf der Britannic versorgt. Sie wusste um seinen Wandel zu James Doyle. Sie war ihm eine gute Freundin gewesen. Er mochte und schätzte Alessa, obwohl er sie lange Zeit gehasst hatte, weil sie John nah gewesen war – als Freundin, wie sich später erst herausgestellt hatte. Sie war zielstrebig, sie kämpfte für ihre Träume. Und er spürte Wärme, wenn er mit ihr zusammen war.

Er wusste: Wenn er sich mit Alessa treffen würde, würde er nach John fragen. Wie sehr er sich danach sehnte, einen Brief von John zu lesen, von ihm zu hören.

Er konnte Alessa aber nicht treffen. Sie würde wissen wollen, warum er sich nicht gemeldet hatte.

Nicht wie Wochen, sondern wie Jahre zurückliegend erschien ihm, was er erlebt und durchgemacht hatte. Im Land der Freiheit. Als freier Mann. Ohne einen Penny in der Tasche. Ohne ein Dokument, das ihn als Arzt auswies.

Überall, wo er nach einer Arbeit gefragt hatte, hatte man ihn abgewiesen. Wir brauchen richtige Männer, das hier ist harte Arbeit, hatte man ihm mehr als einmal an den Kopf geworfen. Er war zierlich, er war nicht für körperliche Arbeit geeignet.

Er hatte gebettelt. Halb verhungert war er in einem Viertel in SoHo gelandet, in dem Jungen und Männer ihre Körper feilboten. Er hatte dort Geld verdient. Überlebt. Und war in einem House of Boys gelandet. Nur eine Woche hatte er es dort ausgehalten. Dann war er wieder durch die Straßen gestrichen auf der Suche nach einer anderen Lösung. Als er an Tony Pastors Opera House vorbeikam und das Schild gelesen hatte, dass sie eine Putzfrau suchten, hatte er nicht gezögert. Tony Pastor hatte ihn belächelt, aber das war ihm egal gewesen – er hatte die Arbeit annehmen dürfen. Ein Zimmer erhalten. Dieses Zimmer. Und inzwischen hatte er sich hochgearbeitet, seine Situation verbessert. Allerdings war er mit dieser Arbeit meilenweit entfernt von seiner eigentlichen Profession als Arzt.

Er sollte Alessa schreiben. Sich mit ihr treffen. Den Anker auswerfen, der ihn erden würde. Von ihnen dreien war sie die Einzige, die frei war und leben konnte, wie sie leben wollte.

Doch was sollte er ihr erzählen?

Gegen jedes Gebot

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