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Kapitel 3

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19:10 Uhr

Woodhulls Haus, Park Avenue

Schon im Foyer hörte Alessa eine Vielzahl von Stimmen aus dem Salon. Sie war regelmäßig zu Gast bei Victoria Woodhull, der Herausgeberin der Weekly, einer Wochenzeitschrift. Es fühlte sich nach Zuhause an, wenn sie hier war – das hatte es schon beim ersten Mal. Sie hatte Victoria und ihre Tochter Zulu Maud auf der Britannic kennengelernt und rasch festgestellt, dass sie gemeinsame Themen bewegten: Die Frauenbewegung, die Klassenunterschiede und mehr. Victoria umgab eine Aura von Kraft, Freiheit und Klarheit. Sie war um einiges älter als Alessa, 35 Jahre alt, hatte viel erlebt und bewegt: Sie war zwei Jahre zuvor Präsidentschaftskandidatin gewesen, ebenso war sie Brokerin gewesen und Beraterin von Vanderbilt. In der Weekly, welche sie mit ihrer Schwester Tennessee betrieb, hatte sie als erste Amerikanerin Texte von Karl Marx publiziert. Sie war eine Anhängerin der freien Liebe und erinnerte Alessa daher an Madame Meaux, die sie in London in den letzten Monaten kennengelernt hatte, und die in naher Beziehung zu ihrem Onkel stand. Die Gegenwart von Victoria ließ sie die rigiden Strukturen im Women’s Medical College vergessen, hier konnte sie sein, wie sie war und sein wollte.

Freudig und neugierig schritt sie auf den Salon zu. Warum waren heute so viele Menschen hier? Nicht, dass es sonst wenige wären – Victoria lebte mit 16 Personen in diesem Haus: ihrem Mann, ihrem ehemaligen Mann, ihrem Geliebten und ihrer Familie mit Anhang – aber heute schien tatsächlich eine größere Gesellschaft in Victorias Haus zusammengefunden zu haben.

Im Salon herrschte Hochstimmung: Viele Männer und Frauen standen mit Gläsern in den Händen in angeregten, hitzigen Gesprächen beieinander.

»Alessa!« Zulu Maud trat zu ihr und umarmte sie. »Wie schön, dass du gekommen bist! Wir feiern gerade …«

»Hallo Zulu! Ich wundere mich gerade … Habe ich etwas verpasst?«

»Die Leute von der Gewerkschaft sind da. Wie Victoria uns letzte Woche erzählt hat, fordern sie von der Stadt die Zusage für ein Bauprojekt, wofür dem Sicherheitskomitee 100.000 Dollar für die Arbeiter zugestanden werden sollen. Die Forderung ist heute Bürgermeister Havemeyer zugestellt worden. Und Victoria hat die Forderungen des Sicherheitskomitees in der Weekly veröffentlicht, um die Gewerkschaft zu unterstützen. McGuire, der Vorsitzende des Sicherheitskomitees, sagt, dass sich heute über 700 Arbeiter eingefunden haben, die die Forderungsliste unterschrieben haben und bereit sind zu kämpfen!«

»Das ist ja unglaublich!«, stieß sie aus. »Was für ein Erfolg!«

»Komm mit zu Victoria«, sprach Zulu und zog sie mit sich. Alessa folgte ihr quer durch den Raum.

»Ich denke, dass Havemeyer sehr bald reagieren wird«, hörte sie gerade einen der Männer sprechen, die Victoria umringten, »die Zeit ist reif für Zugeständnisse und er weiß es.«

»Die Frage ist, ob er sich gegen Tammany Hall durchsetzen wird. Tweed wird sicherlich dagegen sein. Aber: Wir werden sehen«, erklärte Victoria Woodhull. Als sie Alessa erblickte, unterbrach sie das Gespräch. »Meine Lieben … ich möchte euch meine Freundin Alessa Arlington vorstellen. Alessa: Das sind Peter McGuire, der Vorsitzende des Sicherheitskomitees, Patrick Dunn, Martha Anderson und Sophie Lyons …«

Alessa erwiderte den Gruß der anderen, die sie aufmerksam betrachteten und deren Blicke allesamt ihr Kopftuch in Augenschein nahmen, mit einem Nicken und den Worten: »Zulu sagte mir, dass es gute Nachrichten gibt …«

»Die Forderung des Sicherheitskomitees, von der ich neulich zu dir sprach, ist heute im Rathaus abgegeben worden und Peter McGuire hatte mich zuvor gebeten, hierüber in der Weekly zu berichten. Die Zahl der Anhänger ist mit dem heutigen Tag auf über 6000 gestiegen. Der Druck auf die Stadtregierung erhöht sich immens. Wir sind guter Dinge, dass der Forderung nachgekommen und sich die Situation in den Vierteln bald verbessern wird. Du weißt, was das bedeutet, auch für dich.«

»Bitte kläre uns auf, Victoria«, forderte einer der Männer.

»Wieso ich, Patrick? Frage sie selbst!«, gab Victoria augenzwinkernd zurück.

Alessa spürte, wie sie unruhig wurde. »Ich studiere im Women’s Medical. Die Zustände in den Slums sind mir wohlbekannt, denn wir versorgen täglich Frauen und Kinder aus diesen. Neben der unzureichenden Nahrungsversorgung und der Verwahrlosung haben wir viele misshandelte Frauen und Kinder, in deren Familien die Situation eskaliert ist, was mich zutiefst betroffen macht. Deshalb hoffe ich sehr, dass sich die Verhältnisse in diesen Vierteln bald verbessern.« Sie hielt inne und schaute in die Runde.

»Vielleicht sollte man hierüber ebenfalls in der Weekly berichten«, hob Patrick Dunn an zu sprechen.

»Das wäre in der Tat eine gute Idee«, fand Alessa. »Allerdings könnte ich selbst hierzu wenig beitragen, denn wir Studentinnen sind angehalten, ausschließlich unseren Pflichten nachzukommen und nicht politisch aktiv zu sein.«

»Umso schöner, dass Sie heute zugegen sind«, erklärte Dunn rasch, »eine Widerspenstige unter Widerspenstigen sozusagen.«

Alessa spürte, wie sie errötete. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.

»Alessa ist eine Freidenkerin, Patrick, die die Dinge, die sie umgibt, sieht, und zugleich ihr Ziel verfolgen möchte. Das Medizinstudium bedeutet ihr alles. Von daher, glaube ich, gibt es Grenzen der Widerspenstigkeit, nicht im Sehen, aber im Handeln.«

»Wer frei denkt, sollte auch in der Lage sein, frei zu handeln. Das freie Denken entfaltet sich erst zur vollen Blüte im Handeln«, meldete sich Sophie Lyons zu Wort. Ihre Stimme klang kühl und belehrend, doch ihre Worte erreichten Alessa im tiefsten Inneren. Interessiert blickte Alessa auf die etwa 30-jährige Frau mit ernstem Gesichtsausdruck. Irgendwie schien sie sich von der sie umgebenden Fröhlichkeit und Ausgelassenheit nicht gleichermaßen mitreißen lassen zu können oder zu wollen. »Es ist möglich, zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen, Ms. Arlington. Offenbar tun Sie dies bereits, sonst wären Sie nicht hier.«

»Wir alle verfolgen mehrere Ziele, die nach Gehör verlangen – und wenn wir im Chor unser gemeinsames Ziel lautbar werden lassen, dann liegt darin die Kraft, die Bewegung und Veränderung nach sich ziehen wird«, sprach Peter McGuire in feierlichem Ton. Er hielt sein Glas hoch. »Willkommen in New York, Ms. Arlington!«

Gegen jedes Gebot

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