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Kapitel 2

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15:46 Uhr

Women’s Medical College of the New York Infirmary, Stuyvesant Square

Durch die kleinen Fenster des Lehrsaales im obersten Geschoss des Women’s Medical Colleges of the New York Infirmary blickte Alessa auf einen wolkenverhangenen Himmel. Sie hatte die Fragen der Prüfungsarbeit im Fach Pathologie beantwortet und spielte mit ihrer Feder. Die anderen Studentinnen saßen noch mit gebeugten Köpfen über ihren Schreibpulten und schrieben. Es war warm im Raum und roch nach frisch gewienertem Holzboden.

Ihre Gedanken schweiften ab zu Mark Filton, dem ehemaligen Assistenzarzt des St Thomas’ Hospital in London, in dem sie als Krankenschwester und Lehrerin gearbeitet hatte, und zu John Croft, dem Oberarzt, ihrem Freund und Lehrer. Seit zweieinhalb Monaten war sie in New York und dennoch konnte sie die beiden nicht vergessen. Nichts war im Women’s Medical College of the New York Infirmary, wie es im St Thomas’ Hospital gewesen war. Es waren nicht nur die Räumlichkeiten, ihre veränderte Stellung – es waren vor allen Dingen die Menschen. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Wunsch, die Tür möge aufgehen und John würde eintreten. Aber er war in London, weit weg. Es schmerzte sie zutiefst, dass sie die Briefe ihres besten Freundes, der um seinen totgeglaubten Geliebten Mark trauerte, mit Lügen strafte, wenn sie ihm schrieb und ebenfalls Trauer bekundete. Mark lebte. Doch der Preis für sein Überleben war, dass niemand wissen durfte, dass er lebte – dass er England hatte verlassen müssen, für immer. Mark war mit ihr auf der Britannic gewesen. Zusammen hatten sie an der Reling gestanden und auf New York geblickt. Kaum an Land, hatten sich ihre Wege getrennt. Sie hatte ihm gesagt, wo er sie finden könne, doch er hatte sich seitdem nicht mehr bei ihr gemeldet. Wo mochte Mark, dessen neuer Name jetzt James war, sein? Was tat er, wie mochte es ihm ergehen?

Auch Ryon Buchanan, der Halbindianer und Schiffsbauingenieur, den sie in London kennen- und lieben gelernt hatte, war aus ihrer Welt entschwunden, zumindest fast. Er lebte in Kennebunkport, nördlich von Boston, hatte ihr einen Brief geschrieben und sie eingeladen, ihn zu besuchen. Aber das wollte sie nicht, also hatte sie ihm abgesagt. Durch Zufall hatte sie erfahren, dass er Vater werden würde – sie hatte es einem Telegramm seines Bruders entnommen, als sie ihn in seinem Hotel besucht hatte. Liz ist schwanger. Wann kommst du heim? Das, obwohl er sie geküsst, ihr Liebesbekundungen gemacht hatte! Nein, sie würde Ryon Buchanan nicht aufsuchen. Auch wenn sie sich nach ihm sehnte.

Alessas Blick wanderte nach vorn zum Pult, an dem die Professorin saß. Sie versteifte sich augenblicklich, als sie erkannte, dass diese sie äußerst kritisch musterte. Sogleich stieg ihr die Röte ins Gesicht. Es schien ihr, als könne Mary Putnam Jacobi ihre Gedanken lesen. Und für niemanden, wirklich niemanden, waren diese Gedanken bestimmt! Warum nur musste sie immer unangenehm auffallen? Zudem belastete es sie, dass sie ein Kopftuch trug, dass sie sich allein schon äußerlich abhob von den anderen Schülerinnen.

Bei ihrer Ankunft im Women’s Medical hatte die Leiterin, Emily Blackwell, die Schwester der berühmten Ärztin Elizabeth Blackwell, sie von oben bis unten gemustert und sie gefragt, warum sie die Haare gekürzt trug. Sie hatte vorgegeben, die Haare seien in Flammen geraten, als sie zu nah an einer Kerze gestanden habe. Misstrauisch hatte Emily Blackwell sie beäugt. »Eines möchte ich klarstellen: In unserem Haus dulden wir keine Suffragetten. Die kurzen Haare lassen darauf schließen, dass Sie diese gekürzt haben, um Ihre politische Meinung kundzutun. Sie werden ein Kopftuch tragen, bis die Haare lang genug sind, um sie hochstecken zu können.«

Die Worte Emily Blackwells waren jedenfalls alles andere als ein Willkommensgruß für sie gewesen. Dabei war mit dem Studium ihr langjähriger Traum in Erfüllung gegangen. Was für eine Rolle spielten da ihre kurzen Haare? Alles im Women’s Medical war strengen Auflagen unterlegen. Es gab so gut wie keine individuellen Handlungsspielräume und beim Übertreten von Regeln folgte in kürzester Zeit ein Gespräch bei der Leiterin, in welchem eine Maßregelung erfolgte. Die Studentinnen hatten eine einwandfreie moralische Haltung zu zeigen, es wurde Disziplin in jeder Hinsicht verlangt. Für sie, die es gewohnt war, eigene Entscheidungen zu treffen und Schülerinnen in der Krankenpflegeschule anzuleiten, war die Art und Weise, wie mit den Studentinnen umgegangen wurde, vergleichbar mit den unhaltbaren Erziehungsmethoden ihrer Stiefmutter in London. Die meisten der Regeln konnte sie nicht nachvollziehen und empfand sie als schlichte Disziplinierungsmaßnahmen. Das Women’s Medical war das einzige College in New York, das Mediziner­innen ausbildete. Offenbar fürchtete man, dass der geringste Anlass zu Spekulationen und Verruf führen könne – und dies galt es, im Keim zu ersticken. Folglich wurden auch ausschließlich Frauen und Kinder im Women’s College behandelt.

Alessa blickte erneut aus dem Fenster, ungeachtet des skeptischen Blickes ihrer Professorin. Auch wenn alles anders war, als sie es sich vorgestellt hatte, so war sie doch hier. Und hatte gerade eine Prüfung in Anatomie abgelegt. Sie würde Ärztin werden, koste es, was es wolle.

Gegen jedes Gebot

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