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Flow

Flow“ nennt man den Zustand völliger Konzentration, der puren Hingabe an etwas. Wenn man diesen „Flow“ fühlt,

verliert man jedes Gefühl für Zeit.

Genauso ging es Rico in diesem Moment. Wie in Zeitlupe nahm er die leicht im Wind wehenden Blätter des Waldes wahr und das feine Antlitz eines wunderschönen Rehs, das ihn mit großem, sanftem Blick ansah. Als könne es durch Rico hindurch auf sein Spiegelbild blicken, so sah es ihn an. Sein Blick strahlte Weisheit, Verlässlichkeit, Integrität, Intelligenz und eine ungeheuerlich wirkende zarte Erhabenheit aus.

Alles, was sich Rico für seine Zukunft vorgestellt hatte, alles, was er für sich wünschte zu sein, schien als Person vor ihm zu stehen. Kein grober Gorilla, der von Wutanfall zu Wutanfall stolperte. Sondern ein graziles Wesen, das vor allem eines ausstrahlte: Würde.

Mit einem Ruck riss es ihn aus seinem Tagtraum. Er drehte sich schnell nach hinten, um zu sehen, wo genau das Rehlein war. Für einen Moment stand es ihm direkt gegenüber. Es blickte ihn mit leicht geneigtem Kopf an und sagte mit französischem Akzent: „Enschuldigen Sie, Monsieur, isch möschte nach ’ause – können Sie mir sagen, wo …?“

Plötzlich knisterten einige Zweige, denn George Hampelton raschelte durch das Gebüsch. Schon war das Reh verschwunden.

„George?“, rief Rico aufgeregt, während er sich zurück in den Wald bewegte. „Bist du das? Hast du das gesehen?“

Hampelton tauchte vor ihm auf. „Was denn, ähm, Jean-Pierre, Sir“, antwortete er etwas unsicher, denn wenn Rico etwas gesehen hatte, das Eichhörnchen aber nicht, bedeutete dies wohl unweigerlich, dass es etwas übersehen hatte. George, sichtlich nervös, wollte sein Gesicht nicht verlieren und entschied sich daher in aller Kürze der Zeit zu einer korrigierenden Lüge, die ihm das Leben nicht unbedingt leichter machen sollte.

„Ach das? Ja, das hab’ ich natürlich gesehen, Jean-Pierre, Sir, Sie, du weißt ja, mir entgeht nichts!“

„Hast du gesehen, wo es hingelaufen ist?“, antwortete Rico.

„Nun ja, also, in diese Richtung“, sagte George und deutete auf den vor ihnen liegenden Weg.

„Sicher?“, entgegnete Rico, der die deutliche Unsicherheit in Georges Stimme bemerkte.

„Hundertprozentig!“, sagte George nun im Brustton der Überzeugung, wenngleich diese auch nur gut gespielt war. „Das, äh, Ding ist in diese Richtung gelaufen“, fügte er wieder etwas unsicher hinzu, denn von was dieser cholerische Gorilla genau sprach, war ihm ein Rätsel.

„Du meinst das junge Reh“, erwiderte Rico und wunderte sich, mit wem er sich da nur eingelassen hatte, denn dieser George wusste offensichtlich noch nicht einmal, was ein Reh war.

„O ja, natürlich, ich kannte den Namen für diese Tierart nur nicht!“, erwiderte George mit gespielter Verwunderung, die Chance ergreifend, lieber Unwissenheit gegen Unaufmerksamkeit einzutauschen. Würde Rico ihm glauben, dass er noch nicht mal wusste, was ein Reh war? Sicher, denn dieser knurrige Gorilla war anscheinend eh davon überzeugt, dass alle kleineren Tiere ungebildete Dummköpfe waren.

Dieses Spiel funktionierte problemlos mit Rico. Unkritisch nahm er die Verteidigung des Eichhörnchens grummelnd zur Kenntnis. „George, dieses Reh war etwas Besonderes. Es war nicht nur wunderschön – es kam aus Frankreich! Es hat sogar nach dem Weg nach Hause gefragt! Es ist ganz sicher auf dem Weg nach Frankreich und mir wurde jetzt eines klar: Ich muss auch dorthin. Nicht nur raus aus dem Wald – ich muss tatsächlich nach Hause! Der Ort, wo ich hingehöre, ist Frankreich, mein Freund!“

George dachte blitzschnell nach. „Hier entlang, Jean-Pierre, vertrauen Sie mir. Das Rehlein ist genau in die Richtung gelaufen, in die wir eh gehen müssen! Denn Frankreich ist ein ganzes Stück entfernt – wir werden zum Flughafen laufen, um dort hinzugelangen.“

„Also, ähm, fliegen? Meinst du nicht, wir könnten einfach ein wenig schneller gehen?“ fragte Rico zögerlich.

„Tz, tz, tz“, entgegnete George. „Da gibt es leider keine Alternative, Jean-Pierre.“

Rico antwortete dieses Mal nur mit einem Schnaufen. Fliegen? Er? Am Ende würde ihn dieses ganze Vorhaben noch das Leben kosten! Aber für Frankreich musste man eben einiges auf sich nehmen. Frankreich war nicht leicht zu erreichen. Das Rehlein aber hatte ihm die Augen geöffnet. Dieses Land voller Träume, dieses Land voller Schönheit und Edelmut. Es war Zeit, dieses Frankreich zu sehen.

Berlin liegt in Frankreich

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