Читать книгу Berlin liegt in Frankreich - Philipp Skoeries - Страница 9
ОглавлениеRico – oder Jean-Pierre?
Wenn die Sonne durch die Baumwipfel blitzte und auf Ricos Fell schien, dann konnte man sehen, dass er bereits die ersten silbernen Haare am Rücken hatte, und das bedeutete nicht etwa, dass er alt war (um Himmels willen, nur das nicht!); es bedeutete vielmehr: Er war auf dem Weg, ein echter Silberrücken-Gorilla zu werden.
Er war größer und muskulöser als seine Artgenossen und manche fürchteten ihn, denn Rico konnte schnell wütend werden, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte.
Er mochte es außerdem überhaupt nicht, wenn man ihn bei seinem richtigen Namen rief, er hielt ihn für viel zu gewöhnlich. Er wollte immer schon einen besseren Namen finden, einen passenderen, edlen. Am besten etwas Französisches. Aber wenn er den Versuch wagte und laut sagte: „Vielleicht Jean-Pierre?“, dann lachten die anderen Affen schrill und machten sich über ihn lustig.
Für gewöhnlich verstummten sie aber schnell wieder und rannten davon, denn Rico nahm so etwas nicht gerade mit Humor. Er trommelte mit seinen Fäusten auf seine Brust und spannte seine Muskeln an, um jedem zu zeigen, wie stark er war.
Allerdings war Rico nicht besonders brutal oder gar gefährlich, er war einfach nur sehr aufbrausend. Er war auch ein wenig eitel, aber das durften die anderen nicht erfahren, da sie nur wieder lachen würden.
Manchmal ging Rico an eine Wasserstelle mit dem Vorwand, etwas trinken zu wollen, aber eigentlich wollte er nur prüfen, ob sein Gesicht sauber war und die Haare glatt anlagen. Dafür hatte er immer eine Glasscherbe dabei, in der er sein Gesicht wie in einem Spiegel betrachten konnte.
Wann genau Rico seine Vorliebe für Frankreich und französische Namen entwickelt hatte, ist unbekannt. Manche, die ihn kennen, meinen, er war schon immer etwas seltsam. Andere sagen, wir sind grundsätzlich alle etwas seltsam und Frankreich, das romantische Paris, der Eiffelturm – das gefällt doch eigentlich jedem, jeder träumt doch ab und zu davon, in einer Stadt zu leben, die schöner ist als die eigene. Oder davon, vielleicht selbst ein klein wenig bemerkenswerter zu sein als andere.
Ein Ereignis war aber besonders prägend für ihn und mit dieser Geschichte soll es erzählt werden:
Es war ein warmer Herbsttag, Rico zog allein und wütend durch den Wald. Es war nur eine Kleinigkeit gewesen, aber er hatte sich heute einfach nicht unter Kontrolle gehabt. Ein Affe hatte ihn provoziert, eins war zum anderen gekommen. Er war furchtbar zornig geworden und wollte sich prügeln. Letztendlich aber rangelten sich die beiden Affen nur ein wenig und gewonnen hatte am Ende keiner.
Rico war das alles im Nachhinein peinlich. Auch wenn er von den anderen Tieren durch seine aggressive Art respektiert wurde, sah er in ihren Augen auch Furcht – manche dachten wohl über ihn, er sei ein gefährlicher Wahnsinniger. Wer ihn respektierte, weil er ihn fürchtete, ja ihn sogar für einen Wahnsinnigen hielt – was für eine Art Respekt wäre das? Jedenfalls nicht der Respekt, den er sich wünschte.
Aber was sich Rico wünschte, war für die anderen und sogar für ihn selbst nur schwer zu verstehen. Es schien so, als würde er etwas suchen, das er nicht im Wald finden könnte.
Wie unrecht er haben sollte!
Nun schlurfte er niedergeschlagen vor sich hin, missmutig, traurig. Er fühlte sich nicht nur allein, er fühlte sich einsam. Von etwas weiter weg drang leise Musik zu ihm hinüber. Es klang ganz nach einer wilden Tanzparty in einiger Entfernung.
Für einen Moment überlegte er, ob er sich einfach davon wegbewegen sollte, Tanzen war nichts für ihn. Tanzen war ihm zu doof. Dieses sinnlose Herumgewackel!
Aber aus Neugier fasste er dann doch den Entschluss, sich in Richtung der Klänge zu bewegen.
Als er ankam, lugte er durch ein paar Zweige, um einen Blick auf das Treiben zu bekommen. Er sah eine große Lichtung vor sich. Große Gorillas tanzten mit ihren Gorillamädchen wild zur Musik. Schrille Gitarrenklänge schallten durch den Wald und ein DJ mit einer übermäßig dicken Goldkette konnte sich vor Mitwippen zur Musik kaum noch auf den Beinen halten.
Was für ein schrecklicher Ort! Alles voller oberflächlicher Proleten! Wer weiß, vielleicht war es sogar gefährlich?! Schließlich sahen diese Affen ungewöhnlich groß aus und er war als Fremder ganz allein hier. Zeitgleich passierte etwas Seltsames: Ein fremdartiger, süßlicher Duft machte sich breit. War er nicht allein? Hatte sich hinter ihm unbemerkt ein fremdes Wesen angeschlichen, ohne dass er es wahrgenommen hatte? Er schauderte und zögerte sich umzudrehen, denn er ahnte, dass er in eine Falle getappt war.
Plötzlich bewegte sich spürbar ein Finger hinter seinem Rücken, um ihn anzutippen. Wutentbrannt und bereit, sich seinem Schicksal und einer Übermacht an fremden Wesen zu stellen, drehte sich Rico nach hinten, um gleichzeitig mit seiner rechten Pranke zum tödlichen Schlag auszuholen.