Читать книгу Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 - Raphael Hülsbömer - Страница 10
Päpstliche Nomination oder Kapitelswahl? Pacelli und Bertram
ОглавлениеDer Nuntius nahm die Anmerkungen des Königs durchaus ernst. Da er aber keine voreiligen Schlüsse ziehen oder vorschnell Entscheidungen treffen wollte, legte er seine Gedanken Bertram vor, um sich rückzuversichern.47 Ihm übersandte er das Schreiben Friedrich Augusts und hakte darüber hinaus bei einem konkreten Punkt ein: Der König hatte die Fähigkeit des Bautzener Kapitels im Allgemeinen und des Seniors Skala im Besonderen, die kirchliche Verwaltung bis zur Neubesetzung des Vikariats zu bestreiten, vehement in Zweifel gezogen. Für Pacelli war klar, dass eine Wiederherstellung des Meißener Bistums noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde, zumal Pater Watzl die erforderliche Denkschrift nicht stante pede abfassen konnte: „Wenn nun erst nach Erledigung letzterer Angelegenheit [sc. der Bistumsrestauration, R.H.] oben erwähnte Neubesetzung erfolgen soll, so frage ich mich, ob die jetzige interimistische Administration in den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen ohne Schaden lange bestehen kann.“48 Unbeabsichtigt hatte Bertram diesen Zweifel bestärkt, als er am 8. Dezember von den mangelnden kanonistischen Kenntnissen der Domkapitulare in Bautzen und der Konsistoriumsmitglieder in Dresden gesprochen hatte. Angesichts dieser Konstellation überlegte Pacelli, ob es nicht opportun sei – gemäß dem Vorschlag des Königs –, „schon jetzt die Ernennung des Apostolischen Vikars von Sachsen und Administrators der Lausitz ins Werk zu setzen“49.
Für letztgenannten Fall stellte sich dem Nuntius die Folgefrage, wie die Einsetzung stattzufinden habe. Entweder wie bislang üblich durch Wahl des Domkapitels – was im konkreten Fall nur pro hac vice zugestanden würde – oder wie seinerzeit Bischof Aloys Schäfer durch eine vorgreifende Ernennung des Heiligen Stuhls.50 Aufgrund der gegenwärtigen kirchenpolitischen Veränderungen und der Nationalitätenproblematik glaubte der Nuntius, dass sich die zweite Variante empfahl. Er zog demnach die Konsequenz aus der Überzeugung, dass die Bautzener Kapitulare mit der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen überfordert waren. Indem der König diese Einschätzung betont hatte, hatte er unbeabsichtigt auch das von ihm gewünschte Wahlrecht des Kapitels diskreditiert. Über das Wahlthema ging Pacelli daher zügig hinweg. Für die geplante päpstliche Nomination brauchte er einen geeigneten Kandidaten und den hatte er: Pacelli votierte für den Wiesbadener Pfarrer Antonius Hilfrich aus der Diözese Limburg. Dass eine Persönlichkeit aus dem sächsischen Klerus – wie die Geistlichen aus Dresden dies gewünscht hatten – gefunden werden könnte, „die, den gegenwärtigen Verhältnissen gewachsen, mit erforderlicher Kraft und Entschiedenheit die Zügel der kirchlichen Regierung in Sachsen zu führen“51 vermöge, hielt Pacelli für höchst zweifelhaft. Mit der genannten Person bestimmte er einen Deutschen zum neuen Ordinarius, sodass er in dieser Hinsicht den Vorstellungen Friedrich Augusts entsprach.
Die Anfrage Pacellis an Bertram transportierte also schon sehr präzise Überlegungen: kein Wahlrecht des Bautzener Kapitels, keine Konzessionen an die wendische Minderheit unter den sächsischen Katholiken oder die wendischen Tendenzen im Domkapitel, keine Aufnahme des Wunsches aus Dresden, einen sächsischen Kleriker zu wählen und auch keine Einbindung der sächsischen Staatsregierung. Wie kam der Nuntius ausgerechnet auf einen Pfarrer aus dem westlichen Wiesbaden für die ostdeutsche Kirche? Die Antwort ergibt sich bei einem Seitenblick auf die beinahe parallel verlaufenden Ereignisse um die Besetzung eines Koadjutors cum iure successionis für die Diözese Mainz. Dort war Hilfrich der Favorit Pacellis für den Posten gewesen – übrigens von Kardinal Bertram Anfang September 1920 vorgeschlagen –, aber aufgrund seiner preußischen Herkunft fallen gelassen worden. Hatte der dortige Domdekan Bendix festgestellt, dass der Hilfrich zugeschriebene „bürokratisch-enge Geist aus Limburg für uns nicht passt“52, war die Personalie nach Meinung des Nuntius für die katholische Kirche Sachsens genau das richtige.
Der Fürstbischof von Breslau, der schon zwei Tage später seine Antwort an den Nuntius zurücksandte, stimmte Pacellis Gedankengang unumwunden zu: „Ich neige immer mehr der Ansicht zu, dass es gut ist, wenn der Heilige Stuhl in Sachsen vollendete Tatsache schafft …“53 Zwar habe er dem Bautzener Domkapitel ein eingeschränktes Wahlrecht zugestehen wollen, damit der künftige Bischof einen leichteren Einstand habe, aber es sei durchaus korrekt, „dass man bei den Strömungen im Bautzener Kapitel mit unerwarteten Überraschungen rechnen muss. Und dann? – – – – Posteriora pejora prioribus“54. Damit nicht hinterher alles schlimmer werde als vorher, sei es am besten, wenn der Papst einen Nachfolger Löbmanns ernennen würde. Als finanzielle Grundlage müsste dieser aber die Pfründe des Dekanats erhalten. Hinsichtlich der Kandidatenwahl offenbarte Bertram eine Geistesverwandtschaft mit Pacelli, da er auch bereits an Hilfrich als geeigneten Mann für die sächsische Kirche gedacht habe.55 Die Ernennung eines Auswärtigen habe ihm auch die Schwester des Königs, Herzogin Mathilde von Sachsen, empfohlen, die bei ihm am Vortag vorgesprochen habe.56 Er glaubte, dass in diesem Fall zwei weitere episkopable Attribute benötigt würden, nämlich Geduld und Ausdauer, um die Schwierigkeiten, welche die Diaspora und die „kühle[n] und verdrossene[n] Haltung“57 der Kapitulare mit sich brächten, überwinden zu können.
Zur Vorlage bei der Kurie übersandte Bertram darüber hinaus ein Schriftstück, in dem er grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Bischofseinsetzung in Sachsen niederlegte.58 Darin fasste er zunächst die Problematiken zusammen, die seiner Ansicht nach der Wiederbesetzung des bischöflichen Amtes in Sachsen im Weg standen und die hier schon zur Sprache gekommen sind.59 Seine ursprüngliche Lösung für den Modus der Bischofsbestellung sah vor, dass beide Teile an der Bischofswahl beteiligt werden sollten: Aus dem Bautzener Kapitel und den Vertretern des erbländischen Klerus sei ein Wahlgremium zu bilden, das sich mit dem Heiligen Stuhl über einen Korpus von (eventuell drei) Kandidaten verständigen sollte, aus dem es dann den neuen Oberhirten zu wählen habe. Auf diese Weise würde der Bischof durch Kapitelswahl auch zum Dekan – und damit zum Inhaber der Dekanatspfründe – berufen. Schwierig erschien Bertram dabei jedoch die Frage, wie das Wahlgremium genau zusammengesetzt werden sollte: Falls man die Seelenzahl der beiden Bistumsteile als Kriterium für die Stimmengewichtung heranziehen sollte, „drückte [dies] die Stiftskanoniker zu einer minimalen Minorität herab“60. Belasse man jedoch die Wahlbefugnis einzig beim Bautzener Stiftskapitel, so käme es mit aller Wahrscheinlichkeit zur „Wahl eines Wenden, der bei den neun Zehnteln der Diözesanen wenig Vertrauen fände“61. Zu allem Überfluss sei Eile angesagt, weil laut Bertram „in Sachsen die schlimmsten Verfassungs-, Kirchen- und Schulkämpfe mit Landtag und Regierung vor der Türe“62 standen. Deshalb votierte er entgegen den soeben skizzierten Überlegungen jetzt doch dafür, dass der Papst einen Titularbischof mit den Rechten des Apostolischen Vikars beziehungsweise des Präfekten für ganz Sachsen ernannte, der zugleich die Dekanatsstelle des Bautzener Kapitels bekleidete. Die Nomination eines auswärtigen Kandidaten habe dabei den Vorteil, keinen der beiden Bezirke zu bevorzugen.
Es herrschte also zwischen Friedrich August, Bertram und Pacelli Einigkeit, dass es vor der diözesanen Umstrukturierung einen neuen Bischof deutscher, aber nicht sächsischer Provenienz geben sollte, der den aktuellen Herausforderungen wirksam begegnen konnte. Während der Monarch dabei eine Besetzung durch Wahl anstrebte, sprachen sich Bertram und Pacelli für eine päpstliche Intervention aus. Aber bei genauem Hinsehen zeigen sich auch zwischen den beiden Kirchenfürsten unterschiedliche Ausrichtungen: Der Nuntius hatte als – für ihn letztlich nicht infrage kommende – Alternative zur päpstlichen Besetzung die Kapitelswahl (!) für dieses Mal, also gewissermaßen ausnahmsweise und vorbehaltlich endgültiger Regelungen, die dieses bislang geltende Recht gegebenenfalls aufheben würden, dargestellt. Im Gegensatz dazu qualifizierte Bertram die päpstliche Ernennung (!) fast übertrieben deutlich als Ausnahmeregelung und damit die Wahl als Normalfall, der durch die anvisierte einmalige Abweichung nicht verändert würde: „Das Beste ist, wenn pro hoc exceptionali casu et in hisce urgentissimis momentaneis angustiis der Heilige Vater Selbst für das ganze Gebiet sorgt, indem Er, unter Vorbehalt künftiger statutarischer Regelung, pro hoc tantum vice einen Titularbischof ernennt …“63 Dieser deutliche Wink zeigte Pacelli unmissverständlich, dass Bertram nicht bereit war, auf das Wahlrecht des Bautzener Kapitels zu verzichten, selbst wenn er in diesem Fall die andere Praxis als opportun erachtete. Schematisiert könnte man also sagen: Friedrich August mochte trotz der schwierigen Verhältnisse der sächsischen Kirche im Allgemeinen und des Bautzener Kapitels im Besonderen – Bertram hatte von „nationalistischer Engherzigkeit“64 im Kapitel gesprochen, welcher der König aber wohl in nichts nachstand – das Kapitelswahlrecht mit anschließender päpstlicher Ernennung für die Bestellung des neuen Bischofs erhalten; Bertram präferierte eigentlich das Wahlrecht, aber wegen besagter Umstände die päpstliche Nomination; Pacelli schließlich wollte ursprünglich das freie Besetzungsrecht des Heiligen Stuhls, wurde darin dann noch bestärkt durch die vorhandenen Probleme, die eine Wahl mit sich brachte.