Читать книгу Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 - Raphael Hülsbömer - Страница 24
Ergebnis
Оглавление1. Die Grundproblematik, welche die Kandidatensuche für den Meißener Bischofsstuhl in Pacellis Augen kompliziert machte, war der schwelende Nationalitätenkonflikt im ostdeutschen Grenzgebiet Sachsen. Der neue Oberhirte musste die deutsch-wendischen Spannungen aushalten und letztlich für beide Seiten akzeptabel sein. Für wie heikel und entscheidend Pacelli dieses Problem hielt, lässt sich augenfällig daran ablesen, dass er bei den Gründungsfeierlichkeiten den schon längst feststehenden Oberhirten nicht publik machte, weil er national motivierte Unmutsäußerungen fürchtete, die den Festakt hätten überschatten können. Angesichts der klar deutsch dominierten Bevölkerungsstruktur des Bistums suchte er einen deutschen und keinen wendischen beziehungsweise sorbischen Kleriker – ein Kriterium, das durch den entsprechenden Wunsch von Reichs- und sächsischer Regierung für Pacelli noch verstärkte Bedeutung erlangte und den Vorteil barg, ihnen gegenüber als Entgegenkommen deklariert werden zu können (vgl. Nr. 3). Gleichzeitig suchte er den deutschen Geistlichen aber nicht in Sachsen selbst, denn abgesehen davon, dass ein namhafter sächsischer Priester vermutlich bereits in irgendeiner Weise in den Nationalitätenkonflikt involviert war, glaubte er nicht, hier einen tauglichen Kandidaten zu finden.317 Als Konzession an die wendische Minderheit hielt er es für wünschenswert, wenn der deutsche Oberhirte der wendischen Sprache mächtig wäre. Doch letztlich war ihm dieses Kriterium zweitrangig, da er schlussendlich davon absah. Um der Opposition und dem Missfallen der wendischen Minorität gewachsen zu sein, ihnen „vorzubeugen“ und sie „eventuell zu ertragen“, sollte der Kandidat außerdem „gebildet, energisch, eifrig und zur selben Zeit mit Klugheit und Sorgfalt ausgestattet“ sein und daher „mit erforderlicher Kraft und Entschiedenheit die Zügel der kirchlichen Regierung in Sachsen zu führen“ vermögen.
Die hier angesprochene feste Hand und Tatkraft, mit denen sich der Bischof im Konflikt der Nationalitäten behaupten sollte, waren außerdem ganz grundsätzlich für den Aufbau der inneren Diözesanstrukturen wichtig. Insofern verlangte Pacelli vom neuen Oberhirten auch die Qualitäten, die „für die praktische Verwaltung“ der Diözese notwendig waren. Dazu gehörte für ihn nicht nur administratives Geschick, sondern auch, dass jener mit ihm einen angemessenen und seiner Rolle als päpstlicher Gesandter entsprechenden Umgang pflegte. Zwar sprach Pacelli in dieser Hinsicht vor allem davon, dass der Kandidat die Korrespondenz mit der Nuntiatur rasch erledigen sollte. Aber es ist anzunehmen, dass Pacelli dabei letztlich auch an die Unterstützung seiner Mission als Diplomat des Papstes dachte. Insofern deutet sich hier Pacellis Wunsch an, dass der Bischof eine „römische“ und den Interessen des Heiligen Stuhls zugewandte Haltung einnahm. Offensichtlich wird dies noch einmal bei der biographischen Skizze Schreibers, die Pacelli für Gasparri anfertigte: Neben dessen Tätigkeit als Seminarprofessor und Regens konstatierte der Nuntius nämlich vor allem, dass Schreiber am römischen Germanicum seine philosophisch-theologischen Studien absolviert und mit der doppelten Promotion abgeschlossen hatte. Es war also die vom päpstlichen Lehramt protegierte römisch-scholastische Theologie, die Schreiber gelernt hatte beziehungsweise von der er geprägt war und die er als Regens und Seminarprofessor für die Ausbildung des geistlichen Nachwuchses einsetzen konnte. Diese Prägung implizierte, „sich unbedingt dem Willen des Heiligen Vaters [zu] unterwerfen“, was Schreiber nach Aussage Bischof Schmitts tun werde. Von daher waren also „römische“ Ausrichtung und (römisch-) theologische Kompetenz für Pacelli weitere, wesentliche Kriterien bei der Wahl des Meißener Diözesanbischofs. Deshalb verwundert es auch nicht, dass zwei weitere von ihm in Erwägung gezogene Kandidaten ebenfalls Ex-Alumnen des Germanikerkollegs waren: Sowohl Hilfrich als auch Steinmann hatten ehemals dort studiert.
Erst nach einem längeren Sondierungsprozess kam Pacelli auf den Fuldaer Regens als tauglichsten Kandidaten. Woher nahm er die Geistlichen, die er im Verlauf des Verfahrens für die Meißener Cathedra in Erwägung zog? Mit der Person des Wiesbadener Pfarrers Hilfrich war Pacelli im fast parallel verlaufenden Mainzer Koadjutorfall in Berührung gekommen. Dort hatte er wegen äußerer Umstände von ihm abgesehen und griff insofern fast folgerichtig in Meißen wieder auf ihn zurück, da er von dessen persönlicher Eignung überzeugt war. Weil Hilfrich jedoch aus gesundheitlichen Gründen dem Kriterium der „Kraft und Entschiedenheit“ nicht gerecht zu werden schien, rückte Pacelli schließlich von ihm ab. Die Überlegung, den Breslauer Kanoniker Steinmann zu nominieren, resultierte aus einer persönlichen, nicht näher beschriebenen Begegnung, die Pacelli im Gedächtnis geblieben war.318 Dessen Kandidatur ließ der Nuntius fallen, weil Bertram ihn als ungeeignet für die Meißener Diaspora qualifizierte. Zwischenzeitlich dachte Pacelli über eine Ernennung Pater Watzls nach, der nicht nur die wendische Sprache beherrschte, sondern auch über beachtliche kanonistische Fähigkeiten und reiche Kenntnisse der Geschichte und Gegenwart der sächsischen Kirche verfügte. Weil der Ordensmann jedoch als Tschechoslowake dem essentiellen Kriterium der deutschen Nationalität nicht genügte und damit politische Schwierigkeiten vorherzusehen waren, verfolgte Pacelli diese Idee nicht weiter.
Sein schlussendlicher Favorit, Regens Schreiber, entstammte dem Vorschlag Bertrams. Auch hier lohnt wieder ein Seitenblick auf den Mainzer Koadjutorfall, da Schreiber bereits in diesem Kontext – wiederum nach Vorschlag des Breslauer Oberhirten – ein ernsthafter Kandidat des Nuntius und genau wie Hilfrich nur aus äußeren Umständen nicht zum Zug gekommen war. Darüber hinaus kannte Pacelli den Regens auch persönlich: Im Sommer 1919 hatte Schreiber in der Münchener Nuntiatur vorgesprochen, um die Frage der Errichtung einer Katholisch-Theologischen Hochschule in Frankfurt zu erörtern.319 Obwohl er damals die Schwierigkeiten dieses von Pacelli unterstützten Projekts ansprach und die Überantwortung einer solchen Fakultät in die Hände des Jesuitenordens für inopportun erklärte, war er offenbar beim Nuntius nicht prinzipiell in Ungnade gefallen. Dennoch könnte hier ein Grund dafür liegen, dass Pacelli den Regens nicht von selbst ins Gespräch brachte, ja dass er sogar noch mit Watzl und Steinmann zwei Alternativkandidaten ins Feld führte, nachdem ihn Bertram auf Schreiber aufmerksam gemacht hatte. Eine leise Skepsis oder zumindest Zurückhaltung auf Seiten Pacellis lässt sich also nicht von der Hand weisen, die jedoch offensichtlich seine grundsätzliche Überzeugung nicht aufheben konnte, dass Schreiber den oben genannten Kriterien – inklusive der Anhänglichkeit an den Heiligen Stuhl und seinen Apostolischen Nuntius – vollauf gerecht wurde.
2. Die Frage, nach welchem Modus der künftige Oberhirte von Meißen ins Amt gelangen sollte, also entweder durch eine päpstliche Ernennung oder vermittelst einer Wahl durch das Bautzener Kapitel beziehungsweise ein örtliches Wahlgremium, hing eng mit dem formalen Zeitpunkt der von Pacelli befürworteten Bistumserrichtung zusammen:
a) Zwischenzeitlich überlegte der Nuntius, ob es angesichts der vermeintlichen Unzulänglichkeit der Interimsverwaltung nicht sinnvoll war, schon vor der Bistumsgründung das Dekanat beziehungsweise die Administratur und das Vikariat mit einem Geistlichen zu besetzen, der nach der Diözesanerrichtung sofort die neue Cathedra besteigen sollte. In diesem Fall plädierte er für eine päpstliche Ernennung, obwohl die geltende Rechtslage eine Wahl durch das Bautzener Kollegiatskapitel vorsah. Watzl überzeugte den Nuntius aber davon, dass die Kanoniker eine römische Ernennung des Kapitelsdekans nicht akzeptieren würden und der Heilige Stuhl sich außerdem selbst widerspreche, wenn er ein noch wenige Jahre zuvor bei Löbmanns Einsetzung bestätigtes Privileg plötzlich missachte. Die vom Redemptoristen vorgelegte „Zwischenlösung“, das Amt des Diözesanbischofs von der Bautzener Dekanatspfründe zu trennen und den Oberhirten unter Rückgriff auf ein formalrechtlich in der Lausitz noch existierendes Bistum Meißen frei zu ernennen, lehnte Pacelli ab. Bei dieser kanonistischen Spitzfindigkeit, die zudem nur zu einem „halben“ Bistum Meißen führte, insofern die Erblande ausgeklammert blieben, sah er wohl mehr Schwierigkeiten als Vorteile. Zum Beispiel hätte man den Bautzener Domherren erklären müssen, dass ihnen – wie Watzl schrieb – trotz des noch bestehenden alten Bistums Meißen das Bischofswahlrecht nicht zustehe, weil dieses damals vom Meißener Kathedral- und nicht Bautzener Kollegiatskapitel ausgeübt worden sei. Kurzum: Pacelli sah ein, dass eine römische Ernennung vor der Bistumserrichtung rechtlich fragwürdig und in der Umsetzung zu schwierig war.
b) Stattdessen kehrte er zu seinem ursprünglichen Vorhaben zurück, zunächst die Wiedererrichtung des Bistums Meißen durch Verschmelzung der beiden Jurisdiktionsbezirke durchzuführen, wodurch die bisherige Rechtslage unwirksam und der Weg frei war, den Diözesanbischof gemäß Can. 329 § 2 des CIC 1917 durch päpstliche Nomination einzusetzen. Eine Bischofswahl kam für ihn nicht infrage, schon allein wegen der praktischen Schwierigkeiten: Eine Wahl einzig durch das Bautzener Kapitel schien unmöglich, da das hierbei unbeteiligte Dresdener Konsistorium eine solche keinesfalls gebilligt hätte. Blieb als Alternative also – entsprechend Bertrams Überlegungen – ein aus beiden Bezirken gebildetes Wahlgremium, doch wie hätte sich ein solches angesichts des dominanten Nationalitätenkonflikts auf einen Kandidaten einigen sollen? Abgesehen davon wollte Pacelli natürlich vor allem einem Geistlichen in das neue Amt verhelfen, der seinem klar konturierten Anforderungsprofil entsprach, was durch eine freie päpstliche Nomination am ehesten und sichersten möglich war.
c) Schließlich lässt sich erkennen, dass Pacelli nicht nur im aktuellen ersten Besetzungsfall das ius commune anwenden wollte, sondern dieses für Meißen als dauerhafte, ideale Lösung betrachtete. Deutlich wurde das unter anderem in seinem Briefwechsel mit Bertram Ende Dezember 1920, als beide implizit und doch offensichtlich ihre gegensätzlichen Positionen formulierten: Pacelli stufte die Kapitelswahl, der Breslauer Kardinal hingegen die römische Nomination als Ausnahme ein. Außerdem waren die Kompensationsleistungen für das Bautzener Kapitel – das Privileg zur Wahl des Dekans und die Ehrentitel – von Pacelli nicht dazu gedacht, die Domherren nur für eine einmalige römische Nomination des Diözesanbischofs zu entschädigen. Vielmehr ging es ihm um einen dauerhaften Ausschluss des Kapitels aus dem Besetzungsmodus. Dieses verzichtete zwar auf eine Beteiligung an der Erstbesetzung, ging aber offensichtlich davon aus, künftig daran mitwirken zu können. Da es jedoch diesbezüglich beim Nuntius nicht vorstellig wurde, brauchte sich dieser damit nicht auseinanderzusetzen. Höchstens im Rahmen eines Reichskonkordats war für Pacelli denkbar, dem Bautzener Domkapitel das Bischofswahlrecht zuzugestehen. Für dieses würde er vom Staat freilich nennenswerte Gegenleistungen verlangen.
3. Indem Pacelli feststellte, dass in Sachsen keine konkordatäre Vereinbarung existierte, die dem König eine Mitwirkung an der Einsetzung des Apostolischen Vikars beziehungsweise Administrators zuerkannte, deklarierte er die bisherige Einmischung des Souveräns in diese Angelegenheit als unzulässig. Noch viel weniger konnte demnach der sächsische Staat angesichts des Falls der Monarchie in den politischen Umwälzungen von 1918/19 und der in der WRV festgelegten Autonomie der kirchlichen Ämterbesetzung irgendeinen rechtlich fundierten Einfluss auf die Besetzung eines neu errichteten Bistums anmelden. Insofern bestand für Pacelli hier die verglichen mit den übrigen deutschen Teilstaaten aussichtsreichste Möglichkeit, eine völlig freie Bischofseinsetzung vorzunehmen und damit – wie Kaas formulierte – „via facti ohne jede Verständigung mit der Regierung vorzugehen“. Und tatsächlich sorgte der Nuntius dafür, dass die Bistumserrichtung ebenso wie die päpstliche Nomination Schreibers in formaler Hinsicht ohne aktive staatliche Beteiligung erfolgte.
Das bedeutete jedoch nicht, dass Pacelli die staatlichen Interessen ignoriert oder ihnen indifferent gegenüber gestanden hätte – dies konnte er sich angesichts der kirchlichen Situation in Sachsen, die er als außerordentlich schwierig beurteilte, nicht leisten: Er sprach von einem neuen Kampf, den die „sozialistische“ Regierung gegen die Kirche auf allen Feldern führe und der durch die schützenden Kirchenartikel der WRV nur entschärft, aber nicht beendet worden sei. Deshalb schien es ihm opportun, die Interessensbekundungen Dziembowskis hinsichtlich der Person des neuen Oberhirten sowie der Umstrukturierung der sächsischen Kirche diplomatisch auszunutzen. Sein Idealziel einer schriftlichen Zusicherung, die kirchlichen Verhältnisse Sachsens nicht einseitig, sondern nur konkordatär mit dem Heiligen Stuhl zu regeln, sowie die in der WRV verbürgten Rechte der Kirche zu respektieren, schien ihm angesichts der diagnostizierten Kirchenfeindlichkeit der Regierung unerreichbar. Um zumindest „größere Übel zu vermeiden“ und den „Kirchenkampf“ nicht noch zu verschlimmern, beschränkte er sich darauf, ihr lediglich die von Rom getroffene Entscheidung, einen deutschen Staatsbürger an die Spitze des neuen Bistums zu promovieren, zu notifizieren.320 Doch das war noch nicht alles: Diplomatisch geschickt stellte er die Wahl eines Deutschen als dezidiertes Zugeständnis an die staatlichen Wünsche dar, um die Regierung wenigstens moralisch auf eine versöhnliche Haltung zur Kirche zu verpflichten. Nicht weniger geschickt war es, die Bistumserrichtung gegenüber dem sächsischen Ministerpräsidenten als ausschließlich innerkirchlichen Akt und die neue Diözese als Rechtsnachfolgerin der beiden ehemaligen Jurisdiktionsbezirke zu deklarieren, um die Regierung nicht aus ihren – wenn auch geringfügigen – finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem geistlichen Konsistorium in Dresden zu entlassen.
Eine essentielle Besserung der Lage der sächsischen Diasporakirche versprach sich der Nuntius jedoch nur von einem Reichskonkordat, für das die Voraussetzungen erheblich günstiger schienen. Dass die Meißener Ereignisse auch die Reichsregierung auf den Plan riefen, ist klar: Nach verlorenem Weltkrieg und Versailler Vertrag war sie insbesondere in den Grenzgebieten an einer „nationalen Festigung“ interessiert. Weil er auf einen positiven Effekt für die Reichskonkordatsverhandlungen hoffte, nahm Pacelli die von Delbrueck in einer geheimen Absprache vorgetragenen Wünsche zustimmend auf. Das musste dem Nuntius umso leichter fallen, da die Forderungen nach einem deutschen Diözesanbischof, einer Priesterausbildung in einem deutschen Seminar und einer Eingliederung des neuen Bistums in einen deutschen Metropolitanbezirk inhaltlich keine Neuorientierung notwendig machten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Ohne eine formal-rechtliche Partizipation zuzugestehen, ging Pacelli „einvernehmlich“ mit beiden Regierungen vor und signalisierte ihnen Entgegenkommen, von dem er sich einerseits Vorteile für die sächsische Kirchenfreiheit beziehungsweise die Reichskonkordatsverhandlungen erhoffte, das aber andererseits seine tatsächlichen Entscheidungen im Besetzungsverfahren – etwa hinsichtlich des Kandidaten für das Bischofsamt (vgl. Nr. 1) – nicht wesentlich beeinflusste.
4. Zwei Gruppen von Informanten sind in diesem Fall auseinanderzuhalten: Einerseits zog Pacelli selbst Ratgeber heran, deren Urteil ihm relevant erschien, andererseits sprachen einige aus eigener Initiative und ohne vorangegangene Nachfrage bei ihm vor:
a) Zu den Erstgenannten gehörten Kaas, Bertram, Watzl und Hesslein. Allerdings war es zunächst nur sein noch frischer kanonistischer Berater Kaas, den Pacelli von sich aus zur Meißener Angelegenheit befragte. Im weiteren Verlauf des Verfahrens tauchte der Zentrumsprälat – zumindest quellenmäßig nachweisbar – als Gesprächspartner des Nuntius nicht mehr auf, da sich dieser fortan auf die Kompetenz örtlicher und in die Meißener Verhältnisse involvierter Informanten stützte. An erster Stelle ist hier der Breslauer Kardinal zu nennen, der zwar zunächst selbst die Initiative ergriff, anschließend von Pacelli aber in den gesamten Entscheidungsprozess einbezogen wurde. Der Nuntius besprach mit ihm sämtliche Überlegungen sowohl hinsichtlich der diözesanen Wiedererrichtungspläne als auch der Einsetzung des neuen Oberhirten und folgte mehrfach dessen Ratschlägen. Erwähnt sei nur, dass Bertram Schreiber für das Bischofsamt vorschlug und den Nuntius an Pater Watzl als den Experten für Geschichte und Rechtslage der sächsischen Kirche verwies. Insofern sich Pacelli beim Redemptoristen umfassend informierte, war diese Beziehung für den faktischen Verlauf des Falls ebenfalls maßgeblich. Watzls Memorandum vom 17. März 1921 beeindruckte Pacelli und bildete für ihn die „unverzichtbare“ Entscheidungsgrundlage in der Meißener Frage. Für wie wichtig er den Pater hielt, wird vor allem daran deutlich, dass er ihn kurzzeitig als Bischofsaspiranten in Erwägung zog. Informationen über die politische Lage in Sachsen holte Pacelli schließlich bei Hesslein ein, dem einzigen Zentrumsabgeordneten im sächsischen Landtag. Ebenso wie Bertram ging auch Hesslein zuerst auf den Nuntius zu, wurde dann aber auch in die Nuntiatur geladen, da Pacelli dessen Auskünfte wertschätzte. Dementsprechend basierte die Skizze der kirchlichen Lage im sächsischen Staat, die Pacelli für Gasparri anfertigte, im Wesentlichen auf den Ausführungen des katholischen Politikers.
Da mit dem Breslauer Fürstbischof, dem Redemptoristen und dem Zentrumspolitiker alle drei zentralen Ratgeber erst durch eigene Initiative in diese Position gelangten, bleibt festzuhalten, dass dem Münchener Nuntius offenbar kein festes „Informantensystem“ für die sächsische Kirche zur Verfügung stand, sondern dieser auf sich situativ bietende Gelegenheiten zurückgriff. Trotz der essentiellen Rolle, welche die genannten Informanten für den Nuntius spielten, verschwand dieser jedoch nicht hinter ihnen, sondern vertrat durchaus auch abweichende Positionen: Zum Beispiel ging Pacelli nicht „ohne jede Verständigung“ mit der Regierung vor, wie Kaas geraten hatte; in Watzls kirchenrechtliche Überlegungen und seinen modus procedendi zur Bistumserrichtung griff er mehrfach korrigierend ein und auch gegenüber Bertram vertrat er eine römische Nomination anstelle der Kapitelswahl oder die Kandidatur Schreibers, obwohl Bertram Linneborn für sogar noch geeigneter hielt. Der Nuntius besaß also klare Vorstellungen zum Verfahren, wägte dennoch klug ab und war auch bereit, eigene Überlegungen auf Anraten zu revidieren.
b) Zur zweiten Gruppe von „Beratern“, die aus eigenem Antrieb bei Pacelli vorstellig, jedoch von ihm anschließend nicht weitergehend befragt wurde, lassen sich König Friedrich August und Herzogin Mathilde, aber auch Skala und das Bautzener Kapitel sowie Hartmann und das Dresdener Konsistorium zählen. Zwar nahm Pacelli ihre Ausführungen zur Kenntnis, ließ sie sogar in seine Überlegungen einfließen – wie zum Beispiel seine Reaktion auf den Brief des Königs vom 24. Dezember 1920 zeigt –, doch waren sie für ihn nicht entscheidend und schon gar keine „Vertrauten“, denen er seine eigenen Gedanken offenbart hätte. Mit Kapitel und Konsistorium suchte Pacelli einen diplomatischen Umgang zu pflegen, sodass er sich beispielsweise das Einverständnis für eine päpstliche Nomination aus Bautzen geben ließ oder den Dresdener Konsistorialräten versicherte, sie gegenüber den Domherren nicht benachteiligt zu haben. Aber faktisch hielt er beide Gremien aus den entscheidenden Schritten des Falls in allen Belangen heraus. Die hiesige Geistlichkeit hielt er kaum geeignet, die Interimsadministration wahrzunehmen, sodass er von ihr schon gar keine hilfreichen Ratschläge für die Lösung des Verfahrens erwartete und die Selbstanpreisungen Skalas und Hartmanns für das Bischofsamt geflissentlich ignorierte.
5. Schon Hans Friedrich Fischer zog in seiner Studie über die Wiedererrichtung des Bistums Meißen den Schluss: „Der Nuntius in Deutschland, der in München residierende Eugenio Pacelli, war offensichtlich die Person, die in dieser Angelegenheit die Schlüsselfigur war, in deren Hände die Fäden zusammenliefen.“321 Wie die eingehende Untersuchung der vatikanischen Quellen zeigt, erstreckte sich Pacellis Schlüsselrolle nicht nur auf die Informationsbeschaffung oder die bündelnde Organisation und Koordination der innerhalb Deutschlands beteiligten Protagonisten, was ohnehin qua Amt zu seiner Aufgabe gehörte, sondern insbesondere auch auf das Entscheiden und Tun des Heiligen Stuhls selbst. Die Selbständigkeit und Zielstrebigkeit, mit der Pacelli diese Angelegenheit anging, wird bereits daran deutlich, dass er den Kardinalstaatssekretär zunächst überhaupt nicht davon in Kenntnis setzte, an der Wiederbesetzung respektive Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse zu arbeiten. Erst auf Nachfrage Gasparris nahm Pacelli zur Frage der Wiedererrichtung der Diözese Stellung, vertröstete seinen Vorgesetzten aber prompt mit dem Hinweis, genauere Informationen dann liefern zu wollen, wenn die vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen seien. Fast vier Monate lang agierte Pacelli daraufhin autonom und ohne Rücksprache mit Rom. Einen ersten Bericht für Gasparri fertigte er erst an, als er alle wesentlichen Fragen geklärt, ja praktisch bereits entschieden hatte: die strukturellen und kanonistischen Prämissen zur Wiedererrichtung, den Besetzungsmodus, den Unterhalt und die Personalie des Bischofs. Es war also ein fertiges Konzept, das Papst und Staatssekretär letztlich nur noch absegnen brauchten. In der Kandidatenfrage präsentierte Pacelli nicht nur das Endergebnis seiner Überlegungen, sondern lieferte zugleich eine umfassende Begründung mit: Die Nationalitätenproblematik zwinge ihn, einen deutschen Geistlichen zu erwählen, der den erwartbaren Widerständen von wendischer Seite standhalten musste. Mit Bertram und Schmitt führte er zwei Autoritäten an, welche seine Entscheidung stützten. Damit zeichnete er seine Wahl als umsichtig aus und konnte bereits vorbeugend den Vorwurf entkräften, er habe die Komplexität der Angelegenheit unterschätzt, der später möglicherweise virulent werden konnte. Eine Alternative zu Schreiber präsentierte Pacelli nicht, sodass er Papst und Staatssekretär in dieser Hinsicht realiter keine Auswahlmöglichkeit gewährte. Einzig zum Umgang mit der sächsischen Regierung legte er Gasparri zwei Optionen vor – angesichts der staatlichen Haltung zur Kirche war das eine heikle Frage, die Pacelli nicht ohne Rücksprache entscheiden wollte. Letztlich war die Rücksprache aber nur eine Formalität, denn in diesem wie in sämtlichen übrigen Punkten ließen Papst und Staatssekretär den Nuntius völlig frei gewähren322 – Pacellis Vorstellungen wurden eins zu eins zur Position des Heiligen Stuhls.