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Das Memorandum Pater Watzls

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Watzls Beurteilung von Bertrams Vorschlag, Domdekanat und Bischofsamt voneinander zu trennen, erfolgte prompt: Am 12. Februar übersandte er Bertram das von Pacelli erwartete und auf den 10. des Monats datierte Memorandum über die kirchliche Situation in Sachsen, das auch die Finanzierungsfrage des künftigen Oberhirten behandelte.114 In der gründlich durchdachten Denkschrift versuchte Watzl darüber hinaus einen gangbaren Weg aufzuzeigen, wie unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen und staatskirchlichen Voraussetzungen eine Wiedererrichtung der Diözese Meißen samt der Ernennung eines Diözesanbischofs möglich wäre.

Watzl ging bei seinen Darlegungen von den – von Pacelli und Bertram vereinbarten – Prämissen aus, dass eine länger andauernde Sedisvakanz der Oberhirtenstelle zu vermeiden sei und der für diese infrage kommende Kandidat nicht aus Sachsen stammen sollte. Auf der anderen Seite konstatierte er, dass eine schnelle Neuregelung der kirchlichen Verhältnisse unmöglich zu leisten sei. Es müsse aber das bislang geltende rechtliche Fundament berücksichtigt werden, nämlich das Apostolische Mandat Papst Pius’ V. vom 24. Mai 1567, das dem Bautzener Kapitel aufgetragen habe, nach dem Tod des Apostolischen Administrators die vollständige Jurisdiktion über das – damals in Auflösung begriffene – Bistum Meißen zu übernehmen und aus den eigenen Reihen einen (oder zwei) Administrator(en) zu wählen. Zu diesem Zweck seien dem exemten Kapitel die Jurisdiktion und die Administratur dauerhaft zugesprochen und dem Administrator alle Rechte verliehen worden, die vorher der Bischof von Meißen besessen habe. Damit habe das Kapitel ein außerordentliches Selbstverwaltungsprivileg erhalten, das von Gasparri zuletzt im Ernennungsbreve des verstorbenen Bischofs Löbmann vom 30. Januar 1915 bestätigt worden sei. Dieser Punkt war Watzl wichtig:

„Ein schroffes Handeln gegen selbstgegebene und jüngst erst vertretene Privilegien könnte in unserer gefährlichen Zeit leicht zu Widerspruch gegen den h[eiligen] Stuhl Anlass geben, zumal dieser Passus im Ernennungsbreve Löbmanns als eine Genugtuung für den Casus Schäfer115 angesehen wird. Es muss also ein Modus gefunden werden, der des h[eiligen] Stuhles würdig und dem Kapitel annehmbar ist, der aber zugleich die (vermeintliche) Rechtsverletzung weniger fühlbar werden lässt.“116

Deshalb hielt der Verfasser eine einfache römische Nomination vor der Änderung der geltenden kirchenrechtlichen Strukturen für schwierig. Ein Mittelweg sollte also gefunden werden, auf dem der Heilige Stuhl seine Forderung der freien Bischofseinsetzung realisieren konnte und den die Kapitulare gleichzeitig akzeptierten. Der Modus, der nach Watzl den aufgestellten Rahmenbedingungen gerecht wurde, sah wie folgt aus:

„Der h[eilige] Stuhl führt den die Person des Bischofs betreffenden Teil der Bistumsfrage gleich einer endgültigen Lösung zu und überlässt im Wege eines beschleunigten natürlichen Entwicklungsganges die stufenweise Redintegration der Diözese als eine rein innerkirchliche Angelegenheit, die den Staat nicht tangiert, dem neuen Oberhirten.“117

Um dies zu leisten, bedurfte es seiner Meinung nach aber eines Ausnahmebischofs. Die skizzierte Regelung implizierte für Watzl, dass der neue Oberhirte – in Übereinstimmung mit Bertrams Vorschlag – nicht mehr zum Domdechanten und Apostolischen Vikar erhoben, sondern zum „Episcopus Misnensis“ ernannt wurde.

War das aber letztlich nicht mit dem von ihm als undurchführbar deklarierten Plan identisch, entgegen der bisherigen Rechtsordnung über das Kapitel hinweg den künftigen Oberhirten zu ernennen? Um die rechtliche Integrität zu wahren, hatte sich Watzl einen kanonistischen Kniff ausgedacht, der in dem Gedanken bestand, dass die alte Diözese Meißen in der Lausitz kirchenrechtlich noch existiere und man deshalb noch bis 1900 innerhalb der römischen Kurie den Titel „Administrator exempti Episcopatus Misnensis in Lusatia“ gebraucht habe. Daher könne man der Lausitz einen „wirklichen, exemten Diözesanbischof“118 zuteilen, der seinen Sitz in Bautzen nehmen sollte. Diesem würde dann das Apostolische Vikariat der Erblande anvertraut, wobei er kirchenrechtlich jedoch nicht sein Vikar sei, obgleich er „der Regierung gegenüber als solcher figurieren [müsste], um den Gehalt nicht zu verlieren“119. Das Kapitel, das so seine Exemtion verliere, erhalte unmittelbar den Status eines Kathedralkapitels, sei aber in seinen Rechten bis zur – vom neuen Bischof durch besonderes Mandat zu leistenden – Umbildung der Administration zu beschneiden. Für Watzl war auf diese Weise „ein Bistum mit einem Oberhirten besetzt, das lange schon eines solchen harrt, das geographisch und canonisch bereits circumscribiert ist“120.

Mit welcher Reaktion des Bautzener Kapitels war nach Ansicht des Redemptoristen zu rechnen? „Im Hinblick auf die Neuordnung, deren Beginn resp[ektive] Ausgehen von der Lausitz aus man mit Stolz empfindet, sowie mit Rücksicht auf die eigene Erhebung wird das Kapitel geben, was es kann, ohne die freie Ernennung des neuen Bischofs übel zu vermerken.“121 Damit sprach Watzl die wichtige Frage der Dotation des Bischofs an, die vom Kapitel beziehungsweise dem Gebiet der Lausitz (später auch mit Unterstützung der sächsischen Erblande) geleistet werden sollte. Auf diese Weise werde – so Watzl – die Lebenshaltung des neuen Bischofs gesichert, wenn auch nicht gerade komfortabel. Die Dotationsfrage müsse allerdings geklärt werden, bevor der Bischofskandidat kommuniziert werde. Diese Reihenfolge entsprang offensichtlich der Absicht, personenabhängige Widerstände des Kapitels zu vermeiden. Laut Watzl sollte der Heilige Stuhl unter Rekurs auf die Supplik Skalas zur Restauration des Meißener Bistums vom 17. November des Vorjahres eine offizielle Anfrage stellen, „mit welchen unveränderlichen Bezügen das Kapitel die standesgemäße Dotation des neuen Bischofs sicherstellen will“122. Damit würde eine Selbstverpflichtung des Kapitels eingeleitet, auf die sich der Heilige Stuhl künftig berufen könnte.

Watzl brachte schließlich auch ein mögliches Wahlrecht des Kapitels zur Sprache. Laut Can. 396 § 1 des kirchlichen Gesetzbuches stand die Übertragung von Dignitäten in Kathedralkapiteln dem Apostolischen Stuhl zu.123 Der Redemptoristenpater empfahl aber, in diesem konkreten Fall, was den Domdekan anbelangte, davon abzuweichen, wenn man das Bischofswahlrecht zukünftig beschneiden wolle:

„Falls jedoch nicht beabsichtigt wäre, dem Kapitel in Zukunft irgendeine Ingerenz auf die Besetzung des bischöflichen Stuhles einzuräumen, wäre es klüger, dieses Wahlrecht zur bloßen Kapitelsdignität eines Dechants ohne bischöfl[liche] Jurisdiktion … dem Kapitel zu belassen, um die Ernennung des Bischofs umso freier üben zu können.“124

Darüber hinaus aber sei „unter Gnadenerweisen und Lobeserhebungen für die durch 354 Jahre geleistete treue Obhut über den kathol[ischen] Glauben in der Diözese Meißen das Bautzener Kapitel von dessen bischöflicher Administratur in der Lausitz zu entheben und das Mandat kirchenrechtlich für erloschen zu erklären“125. Ehrenbezeigungen wie Titel oder besondere Tracht schienen Watzl geeignet, um den dauerhaften Ausschluss der Kapitulare aus der Bistumsbesetzung zu versüßen. Die praktische Umsetzung dieser rechtlichen Schritte hänge aber – wie Watzl abschließend noch gesondert betonte – an der Person des künftigen Ordinarius. Neben der zunächst weiterhin zu leistenden Doppelverwaltung der beiden Bezirke müsse die angepeilte Neuorganisation durchgeführt werden, zu der für „den ganz deutschen Bischof“ außerdem „der schon weitgediehene nationale Wahnsinn“ und „der tobende Kulturkampf“126 hinzutrete. Daher bleibe die berechtigte Sorge, dass der neue Bischof „seinen Vorgängern abermals in ein frühes Grab folgen könnte“127.

Seiner ausführlichen Darlegung schloss Watzl einen modus procedendi an, der für Bertram und schließlich auch für Pacelli die seiner Ansicht nach notwendigen Handlungsschritte in der nötigen Chronologie zusammenfasste: 1) Der Heilige Stuhl stellt eine offizielle Anfrage beim Bautzener Kapitel, wie es die standesgemäße Sustentation des Bischofs der neuen Diözese gewährleisten möchte.128 2) Gleichzeitig enthebt Rom das Domkapitel der ihm inkorporierten Administratur über das Bistum Meißen und erklärt das Mandat Pius’ V. von 1567 für erloschen.129 3) Zur gleichen Zeit „ernennt der h[eilige] Stuhl frei den neuen Oberhirten und zwar mit Rücksicht auf den in der Lausitz canonisch fortbestehenden, genügend großen und organisierten Rest der ehemal[igen] Diözese zum Bischof von Meißen und bestimmt zur einstweiligen Residenz und Kathedrale Dom und Stift St. Petri zu Bautzen“130. 4) Dem Bischof wird anschließend das Apostolische Vikariat der sächsischen Erblande übertragen (ohne Titel), das zu einem späteren Zeitpunkt zu einem vollgültigen Diözesanteil erhoben wird. 5) Der Heilige Stuhl gewährt dem Bischof darüber hinaus freie Hand zur Reorganisation des Bautzener Kapitels und des Dresdener Konsistoriums. 6) Der neue Oberhirte erhält schließlich auch die Befugnis, defizient genutzte Stiftungen des Kapitels geschickt dem Eigentum des Bistums einzuverleiben. Damit seien die ersten unabdingbaren Schritte getan.

Den geschickten Schachzug, für die Bischofsernennung auf ein kanonisch noch bestehendes Bistum Meißen in der Lausitz zurückzugehen, legte Pater Watzl dem Breslauer Kardinal wie erwähnt am 12. Februar vor. In seinem Begleitschreiben kam der Redemptorist auf die Sorgen zu sprechen, welche die Kandidatur des Freiherrn von Miltitz bei den Domkapitularen ausgelöst habe. Sie seien durch das bekanntgewordene Treffen zwischen dem Nuntius und Stockhammern verursacht worden und hätten auch Skala dazu bewegt, das – oben dargestellte – Schreiben vom 5. Februar an Bertram aufzusetzen. Watzl prognostizierte, dass immer mehr „schädliche Strömungen“131 aufkommen würden, je länger die Sedisvakanz andauere. Man könne damit rechnen, dass das Kapitel seinen ausgearbeiteten Plan, von dem es noch keine Kenntnis habe, billigen werde. Um etwaige Widerstände der Regierung, zum Beispiel durch „ein giftiges Aufsichtsgesetz“132, zu vermeiden, habe ein eiliges Vorgehen oberste Priorität.

Bertram, der die Darlegungen Watzls befürwortete, griff das Gebot der Eile auf und übersandte die Unterlagen schon am folgenden Tag an den Nuntius in München.133 Eine konstitutive Komponente des Plans bildete die Person des neuen Oberhirten, die nach Watzls Analyse viele Qualitäten in sich vereinen musste. Hatten Bertram und Pacelli zunächst an Hilfrich aus Wiesbaden gedacht, machte ersterer nun einen neuen Vorschlag: den Fuldaer Regens Schreiber. „Er ist gesund, tüchtig in jeder Hinsicht, rasch entschlossen und hat jenen Grad von Aszese, der allein befähigt, die nationalistischen Gegensätze geduldig zu ertragen und ruhig zu bleiben.“134 Die von Watzl drastisch geschilderten Erfordernisse für einen erfolgreichen Oberhirten in Sachsen bestimmten jetzt das Anforderungsprofil des Kandidaten – er musste leistungsfähig und zäh sein.

Pacelli war von Watzls Gutachten beeindruckt und hielt es „für geeignet, zur Lösung der schwierigen Frage beizutragen“135. Nichtsdestotrotz sah er noch viele Unklarheiten, die er mündlich mit Watzl besprechen wollte. Zur Personalie Schreiber äußerte er sich noch nicht. Auch Bertram befand eine eingehendere Unterredung zwischen Watzl und Pacelli für gut, wie er nach München schrieb.136 Daraufhin lud der Nuntius den Pater zur Audienz ein.137 Nachdem der Philippsdorfer Redemptorist angekündigt hatte, am 3. März zum Gespräch zur Verfügung zu stehen, setzte Pacelli mit einem Brief an Kapitelssenior Skala den ersten Punkt von Watzls Handlungsagenda in die Tat um.138 Ohne mit dem römischen Staatssekretariat eine Absprache getroffen zu haben, erklärte er ihm, dass der Papst hinsichtlich der Bitte um Wiedererrichtung der Diözese Meißen vom 17. November 1920 erst dann eine Entscheidung treffen könne, wenn die Einkommensfrage des künftigen Bischofs geklärt sei.

Die mündliche Aussprache mit Watzl in der Münchener Nuntiatur ermöglichte es Pacelli schließlich, „die ganze Frage nach allen Seiten [zu] diskutieren“139, wie er anschließend Bertram berichtete. Laut eigener Darstellung überzeugte ihn das Gespräch davon, einer endgültigen Lösung nahe zu sein. Welche Punkte dem Nuntius noch in besonderer Weise diskutabel erschienen, verdeutlichte er nicht. Wie aber aus der späteren, überarbeiteten Denkschrift Watzls zu der Frage der Wiedererrichtung hervorgeht, hatte sich Pacelli nicht auf das Konstrukt eingelassen, das Bistum zuerst nur in der Lausitz wiederzuerrichten, dem dann später die Erblande gleichsam hinzuwachsen würden.140 Vielmehr intendierte er eine unmittelbare Verschmelzung beider Bezirke in der neuen Diözese – womöglich war dies ein Diskussionsthema. Ein nach wie vor offenes Feld bildete die Personaldebatte. Watzl habe ihm gegenüber – so Pacelli an Bertram – auf die Vorteilhaftigkeit hingewiesen, wenn der Kandidat der wendischen Sprache zumindest rudimentär mächtig wäre. Ohne diese Fähigkeit sei es extrem schwierig, das Ansehen der wendischen Katholiken zu gewinnen oder die genuin wendischen Angelegenheiten zufriedenstellend zu bearbeiten. Pacelli sah darin offenbar ein berechtigtes Anliegen. Da er nicht wusste, ob der von Bertram vorgeschlagene Fuldaer Regens die Sprache beherrschte, formulierte er den Gedanken, dass Watzl vielleicht selbst eine Option für den Bischofsthron sein könnte. Besonders würden ihn die profunde Kenntnis der sächsischen Verhältnisse und die Tatsache qualifizieren, dass er bereits Sekretär des verstorbenen Bischofs Löbmann gewesen sei. Die fehlende Reichszugehörigkeit – Watzl war tschechoslowakischer Staatsbürger – könne leicht korrigiert werden. Bevor Pacelli diese Überlegung jedoch weiterverfolgen wollte, bat er den Breslauer Kardinal erneut um seinen Rat.

Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939

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