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XII. Unerheblicher Nachteil[281]

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Eine Beschwerde kann seit dem Inkrafttreten des 14. P-EMRK auch als unzulässig eingestuft werden (Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK), wenn der Bf. keinen erheblichen Nachteil erlitten hat (significant disadvantage), der Fall bereits von einem nationalen Gericht gebührend geprüft wurde (duly considered; diese Voraussetzung wird nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK gestrichen) und keine menschenrechtliche Besonderheiten aufweist (unless respect for human rights … requires an examination). Damit wurde auf Zulässigkeitsebene neben der Feststellung einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde eine weitere Möglichkeit der materiellen Filtrierung eingeführt.[282]

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Der Begriff des „erheblichen Nachteils“ enthält einen beträchtlichen Interpretationsrahmen, der dem Gerichtshof mehr Flexibilität bei der Zulässigkeitsprüfung ermöglichen soll. Seiner Rechtsprechung obliegt es daher auch, diesem Begriff Konturen zu geben. In dieser Hinsicht ist auf die Übergangsvorschrift in Art. 20 Abs. 2 des 14. P-EMRK hinzuweisen. Danach soll Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls nur von den Kammern und der Großen Kammer angewandt werden, damit diese konkrete Fallgruppen für den neuen Unzulässigkeitsgrund bilden können.

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Nach einer Studie der Kanzlei des Gerichtshofs[283] soll bei der Verletzung der Art. 2, Art. 3 EMRK (Recht auf Leben und Verbot der Folter pp.), Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit),[284] Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit), Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege) und Art. 13 EMRK (Nichtvorhandensein eines effektiven Rechtsbehelfs) grundsätzlich ein erheblicher Nachteil angenommen werden. Bei den übrigen Konventionsbestimmungen soll es darauf ankommen, was für den Bf. auf dem Spiel steht. Zum Beispiel wird bei einer Rüge hinsichtlich der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bei Strafverfahren, in denen Freiheitsentzug droht, stets ein erheblicher Nachteil anzunehmen sein, während in Zivilprozessen Kriterien wie der Einfluss auf die Anstellung des Betroffenen bzw. auf dessen Ruf oder seine Familie eine Rolle spielen sollen.[285] Zudem wird vorgeschlagen, dass bei einem Streitwert unter 500 € grundsätzlich kein erheblicher Nachteil angenommen wird.[286] Auch bei Beschwerden bezüglich der Art. 8-12 EMRK sollen die für Art. 6 EMRK entwickelten Grundsätze anwendbar sein. Hinsichtlich einer Verletzung des Art. 14 EMRK soll es auf den Grad der Diskriminierung ankommen.

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In dem ersten Verfahren, in dem der Gerichtshof dieses neue Kriterium angewandt hat, war Art. 6 EMRK im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens als verletzt gerügt worden. Der Streitwert des nationalen Verfahrens betrug allerdings lediglich 90 €. Die Beschwerde wurde als unzulässig abgewiesen, wobei der Gerichtshof darauf hinwies, dass die finanziellen Auswirkungen der Streitfrage ein taugliches Kriterium zur Bestimmung des Nachteils seien.[287]

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Inzwischen liegen auch erste Unzulässigkeitserklärungen vor, in denen ein unerheblicher Nachteil unabhängig vom finanziellen Nachteil beurteilt wurde: Einige Beschwerden betrafen das Verfassungsbeschwerdeverfahren in der Tschechischen Republik. Der tschechische Verfassungsgerichtshof hatte den Bf. die Stellungnahmen der ordentlichen Gerichte nicht zugestellt, so dass diese nicht Stellung nehmen konnten. Der EGMR stellte fest, dass die Gerichte lediglich auf ihre Urteile verwiesen hatten und der VerfGH auf diese nicht eingegangen ist. Der Gerichtshof ging deswegen davon aus, dass die Urteile auch ohne die Stellungnahmen so ausgefallen wären. Zudem hatten die Bf. nicht ausgeführt, was sie hätten vortragen wollen, wenn ihnen die Stellungnahmen zugestellt worden wären. Sie hätten in ihrem Recht, angemessen am Verfahren teilzunehmen, deswegen keinen erheblichen Nachteil erlitten.[288]

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Der EGMR darf aber, auch wenn ein erheblicher Nachteil nicht festgestellt werden kann, die Beschwerde nur dann für unzulässig erklären, wenn nicht die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und in den Zusatzprotokollen dazu anerkannt sind, eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erforderlich macht. Der Wortlaut ist angelehnt an Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK (Rn. 351).[289] Nach dem Explanatory Report zum 14. P-EMRK soll sich diese Klausel gerade auf solche Beschwerden beziehen, die schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Anwendung oder Auslegung der Konvention bzw. hinsichtlich des nationalen Rechts aufwerfen.[290] Über diese Schutzklausel kann der EGMR also sicherstellen, dass ihm nicht diejenigen Beschwerden entgehen, die zwar für den Betroffenen keinen erheblichen Nachteil begründen, anhand derer der EGMR aber gemeineuropäische Menschenrechtsstandards entwickeln kann.

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Die Ablehnung der Prüfung aufgrund des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK ist darüber hinaus nur möglich, wenn ein nationales Gericht die Beschwerde bereits gebührend geprüft hat. Der Gerichtshof wird hier sicherlich eine pragmatische Herangehensweise wählen, um zu verhindern, dass bereits in der Zulässigkeitsprüfung eine Einarbeitung in die Details der Beschwerde erforderlich wird. Ob die nationale Instanz, die zunächst mit der Rechtssache befasst war, den Ansprüchen des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK an ein „innerstaatliches Gericht“ genügt, beurteilt sich nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK.

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Das Erfordernis der gebührenden Prüfung stellt sicher, dass jedem Individuum ein effektives Recht auf rechtliches Gehör gewährt wird, primär auf nationaler Ebene, im Notfall aber auch auf supranationaler Ebene, selbst wenn der Nachteil, den der Betroffene erlitten hat, objektiv als gering einzuschätzen ist. Nicht möglich ist deswegen die Anwendung des neuen Unzulässigkeitskriteriums, wenn kein Zugang zu einem nationalen Gericht eröffnet war, wie auch in Fällen der überlangen Verfahrensdauer bei letztinstanzlichen Gerichten.[291] Das Kriterium der gebührenden Prüfung durch ein nationales Gericht wird nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK künftig wegfallen und es damit dem Gerichtshof weiter vereinfachen, die Annahme einer Individualbeschwerde abzulehnen.

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