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2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip
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Die EU verfügt nur über eine sehr kleine Eigenverwaltung. Sie ist daher in aller Regel auf die Unterstützung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen angewiesen. Das Verwaltungsverfahren und der Rechtsschutz gegen die Verwaltung werden dabei weiterhin von der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zur Verfügung gestellt. Die gleichförmige Anwendung des Europarechts darf dabei aber nicht beeinträchtigt werden. Der EuGH hat dazu Prinzipien entwickelt, die Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind.
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Das Äquivalenzprinzip fordert, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtliche Sachverhalte nicht ungünstiger behandeln dürfen als rein innerstaatliche Maßnahmen.[308] Für den Rechtsschutz gegen die Verwaltung in Deutschland verbinden sich mit dem Äquivalenzprinzip keine nennenswerten Schwierigkeiten, weil im deutschen Verwaltungsprozess keine Ansatzpunkte für unterschiedliche Verfahrensgestaltungen abhängig vom Ursprung des materiellen Rechts bestehen.[309]
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Das Effektivitätsprinzip besagt, dass durch das nationale Recht die Durchsetzung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden darf.[310] Hier ist das Konfliktpotenzial größer, nicht zuletzt weil aus der Binnensicht einer in Jahrzehnten entwickelten Rechtsordnung die vom Europarecht geforderte objektive Sicht auf das eigene Recht nicht einfach und schmerzfrei ist. Zugleich ist auch in der Rechtsprechung des EuGH deutlich, dass nicht jeder für den Einzelnen ungünstige Unterschied im Vergleich zu anderen Prozessordnungen, etwa bei Fristen oder formalen Anforderungen, auch das europarechtliche Effektivitätsprinzip verletzt,[311] insofern also durchaus eine gewisse Flexibilität besteht.
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Im Bereich des Eilrechtsschutzes und der Klagebefugnis sind gleichwohl die Anforderungen des Europarechts unübersehbar.[312] Daneben haben sich Auswirkungen auf das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht ergeben,[313] etwa im Hinblick auf eine Ermessensreduktion der Verwaltung,[314] die Ausweitung von Fristen für die Rückforderung staatlicher Beihilfen[315] oder die Aufhebung unionsrechtswidriger Verwaltungsakte.[316]
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Insgesamt ist nicht zu erkennen, dass den europarechtlichen Vorgaben aus dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsprinzip von den Verwaltungsgerichten in Deutschland Widerstand entgegengesetzt wird.[317]
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Wie die materiellen Anforderungen aus dem Europarecht auf verfahrensrechtliche Aspekte einwirken und die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit reagiert, illustriert besonders anschaulich ein Urteil aus dem Ausländerrecht von 2004 (Rs. Orfanopoulos).[318] Darin verlangt der EuGH Abweichungen im nationalen Verfahrensrecht im Hinblick auf den Zeitpunkt der Einzelfallbetrachtung, zum anderen im Hinblick auf das Erfordernis einer Überprüfung auch der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung.
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Der EuGH hat in der Rs. Orfanopoulos deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein müssen, zu dem die Ausweisung auch tatsächlich erfolgt. Dies wird vom EuGH mit dem Standardargument zum Effektivitätsprinzip begründet: Auch wenn die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren Sache der Mitgliedstaaten sei, so dürften doch „diese Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren“.[319] Dies widerspricht indessen der deutschen Rechtslage, wo es mit Blick auf § 79 Abs. 1 Nr. 1 und § 113 Abs. 1 Nr. 1 VwGO bei einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt auf die Rechtmäßigkeit im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung – in aller Regel ein Widerspruchsbescheid – ankommt,[320] unabhängig von der bis zur gerichtlichen Entscheidung verstrichenen Zeit.
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Das BVerwG hat auf das Urteil Orfanopoulos hin seine Rechtsprechung modifiziert:[321] Der Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts durch den EuGH in der Rs. Orfanopoulos „folgt der Senat und gibt insoweit seine bisherige entgegenstehende Rechtsprechung zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf. Für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ist danach nunmehr der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts maßgeblich. [. . .] Die Tatsachengerichte sind danach künftig nicht nur befugt, sondern im Rahmen der ihnen nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht auch verpflichtet zu prüfen, ob die behördliche Gefährdungsprognose und die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen [. . .]. Liegen neue Tatsachen vor, die sich auf die Ausweisungsvoraussetzungen und die Ermessensentscheidung für eine Ausweisung auswirken können, so hat das Gericht der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung von § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Anpassung ihrer Entscheidung und insbesondere auch zu aktuellen Ermessenserwägungen zu geben. Insoweit trifft die Ausländerbehörden eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Ausweisungsverfügung.“
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Nachdem der EGMR 2008 die Linie des EuGH bekräftigte,[322] weitete das BVerwG die Rechtsprechung auf alle Ausländer aus.[323]
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Das Fallbeispiel belegt nicht nur, wie das nationale Verwaltungsgericht sich den europarechtlichen Vorgaben fügt, sondern darüber hinaus auch das Ineinandergreifen von Unionsrecht, Konventionsrecht und nationalem Prozessrecht.
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Auch die Spielräume zur Durchführung eines Vorverfahrens vor dem Verwaltungsprozess hat der EuGH im Orfanopoulos-Urteil für bestimmte Konstellationen eingeschränkt. Grundsätzlich können nach deutschem Recht vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes von der Verwaltung im Rahmen eines Vorverfahrens nachgeprüft werden. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann indessen durch Landesgesetz eine abweichende Regelung getroffen werden. In Baden-Württemberg, wo die Rs. Orfanopoulos ihren Ausgang nahm, war mit Art. 6a AGVwGO von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und für Verwaltungsakte der Regierungspräsidien das Vorverfahren ausgeschlossen worden.
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Der EuGH hat hierzu festgehalten, dass in einem solchen Fall keine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit einer beabsichtigten Ausweisungsmaßnahme bestehe. Dies genüge nicht den Erfordernissen eines hinreichend effektiven Schutzes[324] und würde Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 „die praktische Wirksamkeit nehmen“.[325] Wörtlich heißt es:
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„Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie 64/221 steht einer Bestimmung eines Mitgliedstaats entgegen, die gegen eine von einer Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung über die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ein Widerspruchsverfahren und eine Klage, in denen auch eine Prüfung der Zweckmäßigkeit stattfindet, nicht mehr vorsieht, wenn eine von dieser Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Gerichte wie die Verwaltungsgerichte die Zweckmäßigkeit von Ausweisungsmaßnahmen überprüfen können.“
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Die Folge daraus ist für Deutschland, dass die Verwaltungsgerichte – die selbst aus Gründen der Gewalten- und Funktionenteilung keine Zweckmäßigkeitsprüfung anstellen können – in jedem Fall, in dem kein Widerspruchsverfahren stattgefunden hat, die Verwaltung jedenfalls zur Durchführung eines Widerspruchsverfahrens mit einer erneuten Zweckmäßigkeitsprüfung zu verurteilen hätten.[326] In der Folge hat sich die Rechtslage durch Ablösung der Richtlinie 64/221 durch Art. 31 der Unionsbürgerrichtlinie geändert, weil dieser keine Einschaltung einer „anderen Stelle“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 vorschreibt. Danach bleibt es für Unionsbürger bei der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens.[327]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 3. Vorläufiger Rechtsschutz