Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Robert Thomas - Страница 209
3. Vorläufiger Rechtsschutz
Оглавление239
Die EuGH-Entscheidungen in den Rs. Tafelwein, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Atlanta[328] haben die Überlagerung des nationalen Verwaltungsprozessrechts, insbesondere im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes, durch das europäische Recht besonders deutlich gemacht[329] und einmal mehr die Frage nach der kompetenziellen Dimension aufgeworfen.[330]
240
Die VwGO bietet in den §§ 80 Abs. 5, 80a, 47 Abs. 6 und 123 umfassende Möglichkeiten zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Die den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen ansonsten fremde Suspensionsautomatik[331] des § 80 Abs. 1 VwGO kann dabei den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ins Leere laufen lassen.[332] Das Effektivitätsprinzip betrifft aber nicht die Ausgestaltung des deutschen Prozessrechts, sondern dessen Anwendung. So darf das deutsche Recht – trotz Effektivitätsgebot – einen Suspensiveffekt vorsehen, obwohl eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen auch die Anwendung von Unionsrecht (vorläufig) hemmen kann. Das Effektivitätsgebot wird aber wirksam, wenn sich die Frage stellt, ob und wann eine solche Hemmung im Einzelfall konkret eintritt.[333]
241
Die typische Situation betrifft den – zunehmend häufigeren[334] – Fall, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch Gesetz oder durch Bescheid ausgeschlossen ist und ein Betroffener nach § 80 Abs. 5 VwGO die gerichtliche Wiederherstellung des Suspensiveffekts beantragt, weil er einem Verwaltungsakt widersprochen hat, der auf Unionsrecht beruht.
242
Hierzu hat der EuGH 1991 in der Rs. Zuckerfabrik Süderdithmarschen[335] Grundsätze formuliert, die für Anträge nach § 123 VwGO entsprechend gelten.[336] In der Sache gibt der EuGH den nationalen Gerichten die Kriterien vor, nach denen er selbst über vergleichbare Eilrechtsschutzmaßnahmen entscheidet. Demnach darf dem Antrag nur stattgegeben werden, wenn dem Betroffenen unter angemessener Berücksichtigung des Unionsinteresses ein schwerer irreparabler Schaden droht, wenn das Gericht erhebliche Zweifel an der einschlägigen europarechtlichen Regelung hat und wenn es zu diesen Zweifeln eine Vorlage an den EuGH richtet.[337]
243
Die Kritik an dieser Rechtsprechung richtet sich auf ein angebliches Minus beim Individualrechtsschutz zugunsten der einheitlichen Durchsetzung des Unionsrechts.[338] Demgegenüber ist zu würdigen, dass der EuGH hier ausnahmsweise – wenn auch nur zeitweise – die Effektivität des Europarechts hintanstellt und diese Entscheidung dezentralisiert und – ein großer Vertrauensvorschuss – den nationalen Gerichten überlässt, wenn auch nach den Kriterien des EuGH.
244
Von dieser Konstellation, in der es letztlich um die Abwehr von Anforderungen des Unionsrechts geht, unterscheidet sich die Konstellation, in der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes der Durchsetzung des Unionsrechts dienen; dies ist aus europarechtlicher Perspektive unproblematisch.[339]
245
Daneben kann es noch eine Konstellation geben, in der der Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes, der auf Unionsrecht beruht, im Interesse der Union zwingend geboten ist. Dieser Fall ist in § 80 Abs. 2 VwGO nicht ausdrücklich aufgeführt, insbesondere liegt kein durch Bundesgesetz vorgeschriebener Fall vor. Um dem Effektivitätsgebot zu genügen, bleibt nur, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO dahingehend unionsrechtkonform auszulegen, dass die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes mit Blick auf die Anforderungen des Unionsrechts im öffentlichen Interesse liegt und von den deutschen Behörden entsprechend anzuordnen ist.[340]
246
Denkbar ist, dass die Behörde unter Rückgriff auf die Tafelwein-Konstellation den Sofortvollzug eines europarechtlich veranlassten Verwaltungsaktes anordnet, der Einzelne dagegen unter Bezug auf die Süderdithmarschen-Rechtsprechung wiederum Eilrechtsschutz begehrt. Das nationale Verwaltungsprozessrecht fungiert dann nur noch als Andockstelle für das Europarecht.
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › IV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der europäischen Rechtsgemeinschaft › 4. Klagebefugnis und Zugang zum Gericht