Читать книгу Ameisenmonarchie - Romina Pleschko - Страница 4
ОглавлениеDIE PACKUNG MIT den Beruhigungsmitteln, die Magdalena Mazur hinter dem Racletteofen im Küchenschrank fand, war fast aufgebraucht. In der Nacht hatte sie einen Albtraum gehabt, in dem ihr Körper plötzlich von innen mit Teflon ausgekleidet war und die Organe anfingen, tief in ihr Becken hineinzurutschen. Eine ekelhafte Vorstellung, sie war schweißgebadet aufgewacht. Wohl wissend, dass dies anatomisch unmöglich war, wollte Magdalena trotzdem überprüfen, wie viele neue Raclettepfännchen sie für Weihnachten benötigten, weil die alten sich bereits in ihre Einzelteile zersetzten. Gesund war es sicher nicht, wenn man die Antihaftbeschichtung vermengt mit Flüssigkäse aß.
Jetzt fragte sie sich, aus welchem Grund Herb Senior diese Tabletten nahm. Wahrscheinlich regte ihn die anstehende Pensionierung doch mehr auf, als er zugeben wollte. Er sprach nicht viel darüber, aber Magdalena merkte an seinem steigenden abendlichen Alkoholkonsum, dass ihn etwas beschäftigte.
Sie ging zum Kühlschrank, wählte eine italienische Stangensalami mit Fenchelaroma und schnitt sich ein unelegant großes Stück davon ab. Beim Hineinbeißen quoll das Fett durch ihre Zahnzwischenräume, sie liebte dieses Gefühl. Ein kleines Stück Fleischfaser verfing sich zwischen zwei Backenzähnen, sie wollte es erst dann entfernen, wenn es gänzlich an Geschmack verloren hatte. Als Vegetarierin würde sie innerhalb kürzester Zeit zugrunde gehen, davon war Magdalena überzeugt, denn sie hatte die Blutwerte einer jungen Frau, die sich ausgewogen ernährte. Und das, obwohl sie hauptsächlich Salami zu sich nahm und auch nicht mehr besonders jung war.
Eine schwarze Feder vom Kragen ihres schon sehr abgetragenen Morgenmantels wehte in immer wieder unterbrochenen Etappen über den Küchenfußboden, als hätte sie ein unschlüssiges Eigenleben. Es dauerte eine Weile, bis Magdalena bemerkte, dass ihr wippender Fuß die Feder antrieb. Sie saß auf einem Barhocker an der Kücheninsel und starrte die Packung mit den Beruhigungsmitteln an. Es passte nicht zu Herb Senior, dass er Tabletten versteckte. Magdalena saugte an der Fleischfaser zwischen ihren Zähnen, um sie herauszulösen, sie fuhr mit der Zunge den Zahnzwischenraum entlang und erschrak, als sich ein kleiner harter Brösel aus der Faser löste. Magdalena war stolz auf ihre gesunden Zähne und hatte vor, die Originale bis ins hohe Alter zu behalten. Der Brösel löste sich auf und hinterließ einen bitteren, metallischen Geschmack.
Dieser spezielle Geschmack war ihr vertraut. Nicht in der Intensität, aber in seiner Grundbeschaffenheit. Kühl setzte er sich fest in ihrer Mundhöhle, als würde man das Fleisch des toten Tieres vor seinem allerletzten Weg noch einmal desinfizieren, damit es nicht in irgendeiner Form, und sei es nur die von Bandwürmern, wieder zum Leben erwachen konnte.
Magdalena nahm einen Zahnstocher aus der Besteckschublade und schob damit die hartnäckige Fleischfaser aus dem Zwischenraum der beiden Backenzähne. Vorsichtig nahm sie das durchgespeichelte Stück zwischen Daumen und Zeigefinger und streifte es an der schwarzen Arbeitsplatte ab. Es war weiß, mit rosigen ausgefransten Enden und komplett formlos. Magdalena rollte es ein wenig unter ihren Fingern.
Früher hatte sie sogar manchmal einen der Herbs gebeten, ihr eine andere Sorte Stangensalami aus dem Feinkostladen mitzubringen, aber sie schmeckten alle ähnlich bitter, daher hatte sie sich schließlich auf die am angenehmsten zu portionierende Variante festgelegt. Was wusste sie schon kulinarisch, seit Neuestem ließ man Fleisch kontrolliert verschimmeln für gelangweilte Gaumen. Sie musste nicht alles verstehen.
Magdalena rollte die Fleischfaser immer weiter über die Arbeitsfläche, sie zog eine fettig glänzende Spur bis hin zur Schachtel mit den Beruhigungstabletten und blieb schließlich an ihr kleben. Mirtabene stand darauf, und direkt neben dem Schriftzug prangte jetzt die erschlaffte Fleischfaser wie ein Urzeitkrebs, der ungefragt in die Gegenwart katapultiert worden war und in dieser sofort an schweren Depressionen zu leiden begann. Früher hätte Magdalena dieses Stillleben sofort gemalt, Skurriles lag ihr am Herzen, aber schon beim Gedanken daran versteifte sich ihr Handgelenk.
Der Verdacht allein war ihr unbehaglich, wusste sie doch nie etwas Produktives damit anzufangen. Sie ahnte schon seit Herb Juniors Kindheit, dass er homosexuell war, aber sie ließ diese Ahnung unbearbeitet. Der frühere Mitbewohner ihres Sohnes, der dem Moderator der Lottoziehung zum Verwechseln ähnlich sah, drang ebenso wenig in ihre Gefühlswelt wie die Erinnerung an längst vergangene Kindergeburtstagsfeiern, bei denen Herb Junior jedes Jahr eine gestisch hochdramatische Zaubershow in einem silbernen Umhang zum Besten gegeben hatte. Magdalena sah, verstand die Essenz, aber reagierte in keiner Weise darauf. Ahnungen waren unangenehm genug, endgültige Gewissheiten sollten sich deshalb einfach von selbst ergeben.
Herb Senior verabreichte ihr also Beruhigungsmittel, untergemischt in eine Wurst, wie einer renitenten Hauskatze. Magdalena kratzte die Fleischfaser von der Tablettenschachtel, steckte sie wieder in den Mund und schluckte.