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7.

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El Dorado – das Wort schwebte in der Luft, hing über ihnen und versetzte sie in eine eigenartige Stimmung. Es hatte schon viele Legenden über die sagenhafte Stätte gegeben – haarsträubende Geschichten, die allesamt von vorn bis hinten erfunden zu sein schienen. Unbestritten blieb, daß die spanischen Konquistadoren auf der Suche nach den Reichtümern in der Neuen Welt auf die Inkas gestoßen waren und deren Kultur zerstört hatten, wobei sie ihnen eben jenes Gold und Silber entrissen hatten, das für Europa so begehrenswert war. Francisco Pizarro hatte damit ein Reich unschätzbarer Reichtümer vernichtet, doch es schien noch ein anderes, eben dieses unentdeckte El Dorado zu geben.

Zum erstenmal vernahm Hasard die Bestätigung aus dem Mund eines Mannes, der ihm glaubwürdig erschien.

Montanelli zeigte wieder ein schwaches Lächeln. „Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Daß El Dorado nämlich nicht existiert. Aber ich schwöre es euch, ich selbst, das Reetboot und der Goldschmuck sind der Beweis dafür. Aber laßt mich von vorn beginnen.“

Hasard kontrollierte kurz die richtige Einteilung der doppelten Deckswachen, dann wandte er sich wieder dem todgeweihten Mann zu. Er, Siri-Tong, der Kutscher, Ben Brighton, alle, die keine Wache zu gehen hatten, setzten sich neben Montanelli hin.

„Ich will mich so kurz wie möglich fassen“, sagte der Italiener. „Vor fünf Jahren verließ ich meine Heimat und zog nach Venedig, um mich dort irgendwie zu verdingen. Vor einem Jahr wurde mein größter Wunsch erfüllt. Ich durfte auf einer Galeasse anheuern, die den Atlantik überqueren sollte.“

Batuti, Dan, Matt sowie Al, Bo und Luke waren unterdessen mit dem Boot zurückgekehrt und enterten ebenfalls an Bord der „Isabella“ auf. Ferris Tukker drehte sich zu ihnen um und legte den Zeigefinger an die Lippen. Schweigend gesellten sie sich zu der Versammlung.

Dan O’Flynn händigte der Roten Korsarin ihre Waffen aus, die er an der Lichtung wiedergefunden hatte.

„Eine Galeasse“, wiederholte Hasard nachdenklich. „Eine jener großen Galeeren, die drei Masten führen, gut armiert sind und über einen Rammsporn am Vorsteven verfügen. In der Schlacht von Lepanto hatte dieser Schiffstyp seinen entscheidenden Einsatz.“

„Du weißt gut Bescheid“, sagte Montanelli erstaunt.

„Mein Vater war bei der Schlacht von Lepanto dabei. 1571. Er war ein Malteserritter, von dem algerischen Piraten Uluch Ali gefangengenommen, ein Galeerensklave unter der Knute des Feindes.“ Hasards Gesicht war hart geworden. „Aber er zerbrach sein Ruder, der Ritter Godefroy von Manteuffel, er ließ sich lieber halb totschlagen als die Muselmanen in die Schlacht zu führen. Er war ein Mann, wie man ihn unter Tausenden nicht findet.“

Montanelli stellte einen sinnlosen Versuch an, den Kopf zu heben. „Mir scheint, er hat in seinem Sohn einen vollwertigen Nachfolger zurückgelassen.“

„Das stimmt“, erwiderte Ben Brighton. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, mein Freund.“

„Aber zurück zu der Galeasse“, sagte Hasard. „Es ist das erste Mal, daß ich höre, ein solches Schiff sei in die Neue Welt aufgebrochen.“

Montanelli atmete etwas rascher. „Richtig. Erst als ich an Bord der Galeasse war – ich war der Kombüse zugeteilt –, erfuhr ich von der geheimen Mission, die unser Kommandant Della Latta ausführen sollte. Ein waghalsiges Unternehmen. Mir sträubten sich die Haare, obwohl ich das Abenteuer suchte.“

„Ich verstehe“, entgegnete Hasard. „Es war ein Experiment, mit einer Galeasse statt mit einer Galeone, Karacke oder Karavelle die Atlantiküberquerung anzutreten. Und noch etwas. Die Spanier durften nichts von eurem Vorhaben erfahren, denn sie haben die Welt ja längst aufgeteilt, nicht wahr?“

„Ich staune immer mehr, wie gut du unterrichtet bist“, sagte Montanelli. „Nicht, daß ich euch englische Korsaren für Einfaltspinsel halte, weiß Gott nicht. Aber was die Belange der Republik Venedig im Verhältnis zu Spanien betrifft, so kennen sich die wenigsten aus.“

„Wir haben uns auch im Mittelmeer aufgehalten, waren auf Malta beim Orden der Ritter des Heiligen Johannes und haben so manches erfahren“, erklärte ihm der Seewolf. „Es ist eine verrückte, wirre Welt, in der wir leben. Vieles muß geändert werden, und dafür kämpfen wir, Montanelli.“

In der Tat, Spanien gestattete es offiziell keiner Nation, auch den Mitgliedern der Heiligen Allianz nicht, sich etwas von dem großen Kuchen abzuschneiden. Durch die Vermittlung Papst Alexander VI. war bereits Ende des 15. Jahrhundert der Teilungsmeridian von Tordesillas vereinbart worden. Er verlief westlich der Kapverdischen Inseln und schnitt gerade noch Brasilien für Portugal von Amerika weg. Was westwärts dieses Längenkreises lag, sollte spanisch sein, östlich beanspruchte Portugal freie Hand. 1580 war Portugal jedoch spanisch geworden, so daß nun alles König Philipp II. und dessen Landsleuten gehörte. Die spanische Macht indessen verkörperte die Casa de Contractacion, jenes Marineamt, das König Ferdinand und Königin Isabella im Jahre 1503 geschaffen hatten. Die Casa hatte ihren Sitz in Sevilla, sie war Kontor und Kontrollbehörde für den Handel mit der Neuen Welt – und durch und durch korrupt, voller bestechlicher Beamten, Intriganten, Betrüger und Diebe, die so viel wie irgendmöglich in die eigene Tasche arbeiteten.

Es war also – aus Spaniens Sicht betrachtet – alles andere als rechtmäßig, was die Männer der Galeasse da unternommen hatten. Auf eigene Faust waren sie aufgebrochen, im geheimen Auftrag einer Republik, der eigentlich nicht der Sinn danach stand, mit Philipp II. einen Streit vom Zaune zu brechen.

„Warum?“ fragte Hasard. „Warum das alles, Montanelli?“

„Wir sollten einen schiffbaren Weg quer durch die Neue Welt finden und neue Länder entdecken. Auf den Spuren von Amerigo Vespucci. Venedigs Beitrag zur Erforschung der Weltkugel. Verstehst du jetzt?“

„Ja. Wäre es euch gelungen, dann hätte Spanien nicht umhin gekonnt, Venedig ein Lob auszusprechen und es vielleicht an dem großen Zusammenraffen der Schätze hier zu beteiligen.“

„So ungefähr.“

„Aber ihr nahmt den falschen Kurs …“

„Della Latta glaubte, der Amazonas sei kein Fluß, sondern eine Meerenge, die quer durch den Kontinent verläuft. Unsere Expedition führte vor acht Monaten, zum Ende der Regenzeit, den Amazonas hinauf. Und sie endete sehr rasch.“

„Die Krokodilmänner“, sagte Siri-Tong.

Montanelli sah sie an. „Sie überfielen uns, etwa eine Tagesreise von hier entfernt. Es geschah während der Nacht. Wir ankerten viel zu nah am Ufer, sonst hätten sie uns nicht so leicht überwältigen können, zumal Chano, dieser Lump, sie keine Boote benutzen läßt. Auch die beiden Späher, die jetzt tot sind, hatten keinen Einbaum. Chano befürchtet immer noch, der eine oder andere von ihnen könne eines Tages fliehen und herumerzählen, welch grausiges Regime er errichtet hat.“

„Was geschah mit den Männern der Galeasse?“ fragte Hasard.

„Etwa ein Drittel wurde getötet.“

„Auch Della Latta?“

„Nein. Er wurde mit uns anderen gefangengenommen. Wir wurden an Land gebracht, und wir lernten Chano kennen, einen Kerl mit langem schwarzen Haar und schwarzem Bart. Er ist ein Abtrünniger der Spanier, wenn seine Landsleute ihn jemals erwischen, stellen sie ihn vor Gericht. Darum ist er so sehr bemüht, daß nichts über ihn und sein Tun nach außen dringt.“

Hasard schnitt eine Grimasse. „Das kann ich mir gut vorstellen. Fern des Zugriffs der Krone und sämtlicher Autoritäten hat er sich hier ein Nest geschaffen, das er um jeden Preis verteidigen wird. Ist es so?“

„Ja“, sagte Montanelli. Das Sprechen bereitete ihm jetzt immer mehr Schwierigkeiten. „Er gehörte seinerzeit zu einer Expedition von zwanzig Spaniern, die weiter flußaufwärts nach Siedlungen suchen sollten, die sie überfallen und besetzen konnten. Chano spricht nie darüber, aber einer der Assurini erklärte uns während unserer Gefangenschaft, der Trupp Spanier sei damals von Amazonen überfallen worden. Chano konnte sich als einziger in den Dschungel retten, wurde von den Krokodilmännern gefunden, aufgepäppelt und wegen seiner Feuerwaffen und seiner Rüstung wie ein Gott verehrt.“

„Ein prächtiger Vogel“, sagte Carberry grimmig. „Mit dem würde ich mich gern mal näher unterhalten.“

„Er hat sich von den Assurini eine Zitadelle bauen lassen“, fuhr Montanelli hastig in seinem Bericht fort. „Und wir mußten mithelfen, aus einer felsigen Gegend Quader heranzuschaffen und zu Mauern aufzuschichten. Eine Sklavenarbeit.“

„Wem sagst du das!“ warf Old O’Flynn ein und dachte noch voll Schaudern an die Zeit auf der Teufelsinsel.

„Die Krokodilmänner sind unter Chanos Fuchtel zu mordenden Bestien geworden“, flüsterte Montanelli. „Das ist ein großes Unrecht. Sie tun alles, was der Spanier ihnen befiehlt. Und meine Landsleute – sie befinden sich immer noch in der Zitadelle. Dort werden sie einen elenden Tod finden. Du mußt ihnen helfen.“

„Ich verspreche es dir“, sagte Hasard. „Aber wie finden wir zu der Zitadelle?“

„Es gibt einen versteckten Nebenarm, der schiffbar ist. Wir hatten damals das Pech, ausgerechnet vor dem zugewachsenen Einlaß zu ankern. Ich beschreibe dir jetzt, wie ihr hinfindet.“

Er sprach noch leiser, Hasard mußte sich über ihn beugen, um etwas zu verstehen.

Montanelli lieferte ihm Anhaltspunkte, an denen er sich orientieren konnte. „Die Galeasse“, wisperte er am Ende. „Sie ankert wahrscheinlich noch immer dort – auf dem Nebenarm – sie – ist jetzt Chanos Schiff. Gold und Silber hat er in der Zitadelle – gehortet. Er feiert Orgien mit den Assurini-Mädchen, mißhandelt sie, tritt seine Sklaven, wenn es ihm in den Sinn kommt. Die Männer der Galeasse – wir alle – es war unsere Schuld, daß wir in Chanos Fänge gerieten – aber …“

Seine Augen schlossen sich.

Siri-Tong stieß einen Laut des Entsetzens aus. Hasard und der Kutscher beugten sich augenblicklich über den Toskaner, lauschten an seiner Brust, fühlten seinen Puls.

„Aus“, sagte die Rote Korsarin. „Allmächtiger, warum nur …“

„Nein“, sagte der Kutscher, indem er sich aufrichtete. „Er lebt noch und ist nur bewußtlos geworden. Es ist nicht das Gift, das ihn hat ohnmächtig werden lassen, sondern die Schwäche.“

Hasard erhob sich mit einem Ruck. „Kutscher, Blacky und Batuti, ihr schafft diesen armen Teufel sofort in meine Kammer. Es ist jetzt kühl genug, man kann auch dort atmen, wenn man die Fenster öffnet. Blacky und Batuti, ihr haltet Wache bei Montanelli und laßt euch nach vier Glasen von Shane und Luke Morgan ablösen. Kutscher, du marschierst von meiner Kammer aus ab in die Kombüse. Bereite den Fisch zu, den Batuti erlegt hat. Die größte Portion erhält Montanelli, verstanden?“

„Aye, aye, Sir!“

Carberry hatte mit der Crew gesprochen, jetzt wandte er sich dem Seewolf zu und sagte: „Hasard, wir sind uns einig. Wir können auch noch einige Zeit länger Kohldampf schieben. Montanelli kriegt den ganzen Fisch, verdammt noch mal, es wird wohl das letzte Vergnügen in seinem Leben sein.“

„Das Gift wirkt langsam. Die Indianer sollten ihn lebend zu Chano zurückbringen, damit dieser ihn quälen konnte“, sagte Hasard. „Nein, es gibt keine Rettung mehr für den Toskaner.“

Siri-Tong sah ihre Mannschaft an. „Hat von euch jemand Appetit auf Fisch?“

„Nein“, tönte es im Chor zurück. Juan trat vor und sagte: „Wir alle haben große Lust, diesem Chano das Handwerk zu legen. Muß ja wirklich eine Bestie sein, dieser Kerl.“

Hasard blickte sich forschend um. „Wir sind uns also alle einig? Gut, dann hört zu. Wir verteilen uns auf unsere beiden Schiffe und gehen sofort ankerauf. Wir haben noch genug Wind, um die Strömung auszusegeln. Außerdem segelt es sich bei Nacht besser – oder ist jemand anderer Meinung?“

Keiner meldete sich.

„Dann los!“ rief Hasard. „Wir wissen, daß die Wassertiefe mindestens bis zum Nebenarm, an dem Chanos Zitadelle liegt, schiffbar bleibt. Wir halten uns in Flußmitte und segeln auf Teufel komm ’raus, Männer. Jawohl, diesem Spanier, der sich einbildet, ein Gott zu sein, werden wir es zeigen!“ Er senkte die Stimme etwas. „Und noch was. Natürlich haben Chano und seine Assurini ausreichend Verpflegung und Trinkwasser. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe – falls nichts schiefläuft. Wir können uns in der Zitadelle mit Proviant versorgen, nachdem wir die Venezianer herausgehauen haben.“

Während Siri-Tong, die Wikinger und die Piraten in ihre Boote abenterten und zum schwarzen Schiff hinüberpullten, unternahm Hasard einen Abstecher in die Kapitänskammer der „Isabella“.

Der Kutscher war bereits in Richtung Kombüse verschwunden. Blakky und Batuti hielten im Licht einer Öllampe an Hasards Koje bei Montanelli Wache. Blacky sah seinen Kapitän an. Nichts Neues, stand in seinem Blick zu lesen.

Hasard betrachtete den zerschundenen, vom schleichenden Tod gezeichneten Mann aus dem fernen Italien.

„Über El Dorado hat er uns genausowenig erzählen können wie über die Herkunft und Bedeutung des Reetbootes“, sagte er versonnen. „Wenn er nicht wieder aufwacht, wird er dieses Geheimnis mit sich über die düstere Schwelle ins Jenseits nehmen.“

Zwei erhabene Silhouetten glitten mit geblähten Segeln auf dem „Amacunu“, dem größten aller Ströme, voran. Hasard hatte mit seiner Vorhersage recht behalten, der Wind drückte sie energisch voran. Er schien die grimmige Entschlossenheit der Seewölfe und Siri-Tong-Piraten zu verkörpern, aber es half ihnen noch ein anderer Umstand, der die Fahrt der Schiffe beschleunigte: die Flut.

Das auflaufende Wasser drang jetzt von See aus tief in die vielen verästelten Flußläufe ein und schob mit sich, was sich gerade in ihm befand.

Der Seewolf stand neben dem kleinen Reetboot, das sie auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ festgezurrt hatten, und dachte darüber nach. Irgendwann, irgendwo mußte das auflaufende Seewasser mit der Strömung des Amazonas kollidieren.

Es sollte eine Nacht voller Überraschungen werden.

Als der große Fisch, den Batuti „beschafft“ hatte, gar war, trug der Kutscher ihn in die Kapitänskammer. Aber Montanelli war noch nicht ins Bewußtsein zurückgekehrt.

„Ich stelle den Fisch warm“, sagte der Kutscher betrübt. „Einige Zeit wird er sich halten.“

Hasard, der ihn ins Achterkastell begleitet hatte, sagte: „Tu das. Wie groß ist die Versuchung, einen Happen zu probieren, Männer?“

„Wir halten es noch zwei bis drei Tage so aus“, entgegnete Blacky. „Wir sind doch keine Waschlappen. Kutscher, paß bloß auf, daß Arwenack sich nicht an dem Fisch vergreift.“

„Ach, Unsinn, der mag lieber süßes Zeug“, erwiderte der Kutscher, dann ging er wieder.

Blacky sah seinen Kapitän an. „Du brauchst es nicht extra zu sagen, Sobald Montanelli die Augen aufschlägt, flitze ich los und rufe dich.“

„In Ordnung, Blacky.“

Hasard ging langsam aufs Oberdeck zurück. Seine Gedanken kreisten mehr um das Zauberwort El Dorado als um die Zitadelle des Chano. Es war eigenartig, welche Anziehungskraft die bloße Nennung des Begriffes auf ihn hatte. El Dorado – das Goldland!

Carberry stand unterdessen mitten auf der Kuhl und schaute nach der richtigen Segelstellung und allem anderen, über das sich möglicherweise meckern ließ. Aber es gab nichts zu bemängeln. Die „Isabella“ rauschte mit Backstagswind dahin und lief gute Fahrt, alle Segel standen einwandfrei, alle Fallen waren klariert, Takelage und Deck tipptopp in Ordnung – es war eine Zier.

Der Profos stieß einen leisen, grunzenden Laut aus und begab sich aufs Achterdeck. Ferris Tucker, Shane und Old O’Flynn befanden sich bei Pete Ballie im Ruderhaus. Carberry hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Er trat ganz nach achtern an die große eiserne Hecklaterne der „Isabella“ und schaute zum schwarzen Segler, der das phosphoreszierende Kielwasser der Galeone mit seinem mächtigen Bug zerschnitt.

Carberry war betrübt. Wenn es nichts zu fluchen gab, bereitete ihm die gesamte Seefahrt keinen Spaß.

Das Leben ist wie ’ne Hühnerleiter, dachte er, von oben bis unten beschissen.

In diesem Augenblick vernahm er ein schwaches Flattern in der Luft, direkt über sich. Unwillkürlich duckte er sich. Er hatte vom Boston-Mann vernommen, daß es Vampire geben solle, Blutsauger, die sich auf Menschen setzten und ihnen den Lebenssaft abzapften – in der Nacht!

Tatsächlich, etwas schwirrte auf ihn nieder und krallte sich auf seiner Schulter fest. Es zappelte und krächzte ein bißchen und zwackte ihn am rechten Ohr.

„O Himmel, Arsch und Zwirn“, legte der Profos los. „Hau bloß ab, du verfluchtes Biest. Zeig die Hacken, verkrümel dich, oder ich zieh dir die Haut in Streifen ab, und zwar von deinem verdammten Affenarsch …“

Ein verhaltenes Lachen ließ ihn herumfahren. Da standen sie und grinsten wie die Teufel: Shane, Ferris, Old O’Flynn, Ben Brighton.

„Papageienarsch wolltest du wohl sagen“, meinte Shane. „Himmel Ed, wie kann man so einem Tierchen was Schlechtes wollen.“

„Oder Angst davor haben“, sagte Old O’Flynn kichernd.

Carberry warf einen Blick nach rechts. Ihm fielen fast die Augen aus den Höhlen, als er sah, was ihm da auf der Schulter hockte und immer noch vergnügt an seinem Ohrläppchen herumzupfte – wirklich ein Papagei, kein Vampir, Ein krummschnabeliger Vogel, der Gott und die Welt nicht zu fürchten schien, sonst hätte er sich nicht ausgerechnet Edwin Carberry als Landeplatz ausgesucht.

Aus zusammengekniffenen Augen registrierte Carberry weitere Einzelheiten des Tieres. Es war groß wie eine normale menschliche Hand, nicht ganz so groß wie die Pranken, die der Profos als seine Hände bezeichnete. Die Farbe des Papageis war karmesinrot, soweit das Licht der Hecklaterne eine exakte Festlegung gestattete.

„Also, das haut doch dem Faß den Boden aus“, sagte Carberry verdattert.

„Bleib ruhig, Ed“, sagte Ben. „Er hackt dir bestimmt kein Auge aus.“

Carberry entsann sich der Worte des alten Donegal. „Pa!“ sagte er. „Angst. Ich und Angst? Ihr habt sie ja nicht alle, ihr miesen Kanalratten.“

Hasard war inzwischen zu den Männern getreten und schaute ebenfalls amüsiert zu, wie der Profos sich mit dem Papagei unterhielt.

„So, und jetzt verschwinde wieder“, sagte er soeben. „Wir können dich hier nicht gebrauchen, verstanden?“

„Kra-ah“, äußerte sich der Papagei – und blieb hocken.

„Verduften sollst du, wir haben schon genug Viehzeug an Bord!“

Der Papagei kraulte Carberry am Ohrläppchen, daß es kitzelte.

„He, ho!“ rief Carberry, und „Mensch, laß das“, dann brauste er auf: „Zum letztenmal, kratz die Kurve, sonst dreh ich dir den Hals um, du Satansbraten!“

Hasard trat zwei Schritte vor und musterte ihn streng. „Hör mal, Ed, das ist ein ganz junges Tier. Vielleicht hat es sich verirrt. Womöglich findet es nicht in den Wald zurück, wenn du es einfach wegstößt. Sei doch nicht so herzlos.“

Carberry wurde verlegen. „Ich – Sir …“

„Außerdem mag der Papagei dich, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock.“

„Mich?“ Carberry wußte gar nicht, wie ihm geschah. Plötzlich fühlte er sich veranlaßt, die Hand auszustrekken und dem kleinen karmesinroten Papagei den Kopf zu streicheln. Der Vogel ließ es geschehen. Er knabberte an den stämmigen Fingern des Profos’ herum, gab einen gackernden Laut von sich, schmiegte sich an die Hand, die ihn wärmte – und Edwin Carberrys Herz zerfloß geradezu vor Rührung.

O, er mochte Tiere ja, obwohl er’s nicht zugeben wollte. Beispielsweise fluchte er dauernd über Arwenack, aber wenn dem Affen jemand an den Kragen wollte, wurde er wütend. Und damals, vor den Kykladen, als sie die schwarz-weiße Katze Micia aufgefischt hatten – war ihm da nicht auch ganz schwummrig zumute gewesen?

„Du kleiner Schelm, du“, sagte er zu dem Papagei.

Old O’Flynn kicherte wieder, und Carberry fuhr zu ihm herum und blaffte ihn an: „Was ist denn mit dir los? Haben dich die Schnaken gestochen? He, ihr!“ Er meinte Ferris, Shane und Ben. „Was glotzt ihr so blöd? Hier gibt’s nichts zu gaffen.“

Er wandte sich Hasard zu. „Möglich, daß der Papagei mal einem Indianer gehört hat oder so. Weil er so zutraulich ist, meine ich.“

„Es kann auch Zufall sein, daß er bei uns gelandet ist und Freundschaft mit dir geschlossen hat“, erwiderte Hasard lächelnd. „Du hast eine rauhe Schale, aber darunter sitzt ein weicher Kern, Profos. Das wird er wohl gespürt haben.“

„Ich – ehm, ich wüßte schon einen Namen für ihn.“

„Eben wolltest du ihn noch über Bord schmeißen.“

„Aber jetzt – Sir, ich bitte um Erlaubnis, den Papagei behalten zu dürfen.“ Es fehlte nicht viel, und Carberry stand stramm.

Hasard nickte ernst. „Dem Antrag wird stattgegeben, Profos.“

„Was die Taufe betrifft, Sir …“

„Nun spuck’s schon aus, Ed!“ rief Big Old Shane.

„Sir John würde ich ihn nennen“, platzte Carberry heraus. „Jawohl: Sir John.“

Hasard zog die Augenbrauen hoch. „Nach meinem geliebten Alten, Sir John Killigrew von Arwenack-Castle? Warum, wenn man fragen darf?“

„Na ja, der läuft auch immer so rot an wie das Federvieh hier, und außerdem hat er die gleiche aufdringliche, rauhbeinige, krächzende Art am Leib“, meinte der Profos.

Hasard konnte nicht anders, er mußte lachen.

Seewölfe Paket 5

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