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1.1.2.1 Der Reflex der Pars-pro-toto-Wahrnehmung

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Beginnen wir erneut mit einem Elefanten. Drei Blinde sind aufgefordert, einen solchen zu ertasten und seine Eigenschaften zu beschreiben. Der erste streichelt sein Ohr und meint, er gleiche einem Tuch, der zweite umfasst das Bein und tippt auf eine Gestalt wie eine Säule, der Ertaster des Rüssels schließt auf ein schlangenähnliches Getier. Wir erahnen, dass keiner der Befragten auch nur annähernd dem Bild eines Elefanten nahekommt, weil jeder von seinem Teil auf das große Ganze schließt. Diesem Verallgemeinerungsreflex unterliegen wir alle. Wir schließen vom sichtbaren oder öffentlich gemachten Teil pars-pro-toto auf das Ganze. Dies tun wir vor allem dann, wenn wir den Gegenstand der Betrachtung nicht kennen.

So kann beispielsweise bei Demonstrationen über besondere Randgruppen berichtet werden, die teilnahmen, Filmaufnahmen gemacht, O-Töne eingesammelt, Fotos und Eindrücke aufgeschrieben werden. Viele würden von den genannten Randgruppen auf die gesamte Demo schließen – zumal, wenn viele Medien die gleichen Ausschnitte berichten und nicht die Buntheit der Teilnehmenden und deren Botschaften abbilden. Die immer gleichen Ausschnitte erzeugen einen Eindruck von Wiederholung. Und Wiederholen trägt zum Überzeugen bei.

Hier kondensiert sich die Wirkmacht durch die Zeigefunktion der Zeichen – Worte und Bilder – auf der einen und durch den Pars-pro-toto-Reflex der Wahrnehmung auf der anderen Seite. Wir alle unterliegen diesem Reflex und neigen so zur Verallgemeinerung.12 Sind die gezeigten Ausschnitte stereotyp, dann legen sie eine falsche Verallgemeinerung nahe. Das Potential von Zeigen und Ausblenden – Highlighting and Hiding – wird also gerade unter Einbeziehung der interpretierenden Aktivität der Rezipienten deutlich.

Das vervollständigte Bild kommt dabei vornehmlich durch Weglassen (in der Linguistik spricht man von einer Ellipse) auf Medienseite zustande, indem auf vorhandene andere Demoteilnehmende nicht verwiesen wird. Nur mit viel Anstrengung und Bewusstmachung könnten sich die Betrachtenden eventuell in die Lage versetzen, nicht in den Verallgemeinerungsreflex zu verfallen – wahrscheinlicher ist jedoch genau der.

Übrigens ist dieser Pars-pro-toto-Reflex ein Reflex, den Mediennutzende mit den Demonstrierenden teilen. Denn die Teilnehmenden bei einer Großdemonstration können selbst wiederum nur einen Teil davon wahrnehmen und halten diesen vermutlich für repräsentativ. Den größten Überblick haben potentiell tatsächlich Journalisten oder andere, die von außen auf die Gesamtdemonstration blicken und diese zum Beispiel filmen. Ob es ihnen auch bei bester Absicht gelingt, einen repräsentativen Zusammenschnitt der Teilnehmenden darzubieten, ist eine andere Frage – an der auch Redaktionen beteiligt sind, die manchmal noch weitere Kürzungen vornehmen und so verzerrte Darstellungen begünstigen.

Für die Beurteilung von Medienprodukten ist entscheidend, dass nicht durch eine stark stereotype Auswahl von Fakten die vermittelte beziehungsweise vom Publikum pars-pro-toto (re)konstruierte Realitätsvorstellung erheblich von der erlebten Wirklichkeit vor Ort abweicht. Das zu überprüfen, erfordert viel Aufwand. Denn es kann immer ein völlig falsches Bild entstehen, auch wenn nur Fakten berichtet werden. Hierin liegt die Crux, dass auch mit Fakten gelogen werden kann.13

Wie stark der Reflex zur Verallgemeinerung ist, lässt sich auch an Reaktionen auf Begriffsbildungen ablesen, die auf Probleme hinweisen sollen. Bei Wortkombinationen (Komposita) wie »Ausländerkriminalität«, »Polizeigewalt« oder »Frauenunterdrückung« gibt es Empörung, die damit zusammenhängt, dass man aus den Bezeichnungen eine Verallgemeinerung herausliest – so, als wären alle Ausländer kriminell, alle Frauen unterdrückt und als wären alle Polizisten gewalttätig.14 Dass es bei dem jeweiligen Wording in Bezug auf strukturelle Machtverhältnisse Unterschiede gibt, soll nicht davon ablenken, dass die Empörung nicht im Zugeben einzelner Vorkommnisse und deren stereotyper Kategorisierung gründet, sondern in einer als Unterstellung empfundenen Verallgemeinerung, die man bei der Rezeption selbst vornimmt.

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