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Einleitung

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Medienkritik droht, in Verruf zu geraten und ist gerade heute notwendiger als je zuvor. Denn vielfältige Medienangebote prägen unseren Alltag und unsere Vorstellungen von der Welt. Ob Buch, Zeitung oder Internetformate: Medien informieren und manipulieren uns. In Zeiten von »Lügenpresse«-Vorwürfen bedarf es einer besonderen Verantwortung, um zur kritischen Auseinandersetzung mit Meinungsbildungsprozessen über Medien einzuladen. In diesem Buch wird es nicht primär um auffällige Fehlleistungen von Medien gehen, sondern um die gängige Konstruiertheit medial vermittelten Wissens mitsamt der möglichen Prägung von Vorstellungen.

Jede Darstellung – sprachlich oder bildlich – bedient sich subjektiver Zeichen, und es liegen unendlich viele Entscheidungen von Journalisten und Redaktionen vor, bevor ein Beitrag mit genau diesen Aspekten, mit genau diesen Worten und nicht anderen, mit genau diesen Bildern und dieser Musik, Schnitt, Kameraperspektive, Licht und Atmo erscheint – so auch die Nachrichten- und Informationsformate in den Massenmedien.

Mediendebatten werden zudem oft als Meinungsdebatten geführt und manche Menschen scheinen es nicht zu ertragen, wenn ihre Meinung nicht bedient wird. Eine Meinung zu haben, bedeutet aber, sich schon mit Themen auseinandergesetzt zu haben – also mit einer gewissen Sachkenntnis eine Darstellung zu beurteilen.

Doch es geht in diesem Buch nicht ums Besserwissen. Hier geht es um das, was man auf Englisch »Media Literacy« (ML) nennt. Ein vergleichbares Wort für ML gibt es im Deutschen nicht.1 Aber genau um diese geht es, um die Fähigkeit Medienbeiträge zu lesen und als Konstrukt zu verstehen, welches bei gleicher Faktenlage völlig anders aussehen könnte – oder umgekehrt: welches Fakten in der aktualisierten Darstellung präsentiert und dabei eventuell aufbauscht, verharmlost oder gar umdeutet (sogenanntes »Shaping«).

Die Gemachtheit medialer Beiträge und die Einflussfaktoren auf die jeweilige Konstruktion stehen also im Fokus und damit die Frage nach möglichen Medienwirkungen oder zumindest nach der Medienverantwortung für so manches Themen-Shaping.

Um Mediendarstellungen lesen und deren Qualität beurteilen zu können, bedarf es möglichst neutraler Analysekriterien. Da eine mediale Darstellung niemals die Realität abbilden kann und da Mediennutzer nicht in allen Themen Bescheid wissen können, müssen wir uns eine kompetente Distanz zu den medial vorgefertigten Wahrnehmungsangeboten erarbeiten. Erschwert wird dies dadurch, dass unser Vorwissen bereits medial – ob mittels Schulbuch, Blog, Lexikoneintrag, TV-Reportage oder Zeitungsartikel – vermittelt wurde. Das verschärft die Aufgabe und macht sie umso dringlicher, echte und umfassende Medienkompetenz zu erwerben, die uns die Konstruiertheit unserer Eindrücke vor Augen führt.

Wer sich mit Medienanalyse befassen will, steht vor einem Wust an Angeboten, Ansätzen und Diskussionen. Zumeist entscheidet man sich für eine bestimmte Untersuchungsmethode, die bestimmte Aspekte des Medienprodukts je nach Fragestellung abklopft. Gerade in der Wissenschaft ist das saubere Abstimmen von Forschungsfrage, Theorie und Methodik essentiell, um valide Ergebnisse jenseits eigener Hypothesen zu erhalten. Diese wissenschaftlichen Forschungsinstrumente bilden zwar die Voraussetzung für die angewandte Analyse, stehen aber hier nicht im Mittelpunkt. Jenseits der teils heftigen Diskussionen um die »reine Lehre« (in streng abgegrenzten, obwohl künstlich geschaffenen Disziplinen) zwischen Psychologie und Kognition, die sich mit Wahrnehmungsprozessen und Wissensorganisation befassen, Lerntheorien oder Medien-, Kommunikations- und Sozialforschung, sowie zwischen quantitativ forschenden und qualitativ fragenden Ansätzen geht es in diesem praxisorientierten Lehrbuch um ein gegenstandsgeleitetes Systematisieren bewährter Methoden mit vielen Beispielen aus der Praxis; es steht also die Anwendbarkeit im Vordergrund.

Es wird ein medienanalytischer Ansatz vorgestellt, dessen einzelne Instrumente auch bei der täglichen Mediennutzung eingesetzt werden können – und zwar sowohl von Mediennutzern wie auch Medienmachern (die ja immer auch Nutzer sind); von Schülern und Studierenden, Lehrkräften, Eltern und allen Multiplikatoren der Medienbildung gleichermaßen.

Nennen wir unseren Ansatz idealtypisch einen »Keine-Ahnung-vom-Thema-Zugang« oder besser: Wie kann man ohne Sachkenntnis die Qualität von Medienbeiträgen bewerten beziehungsweise feststellen, wo man eventuell noch mal kritischer hinschauen muss? Der Zugang findet über die visuell/akustisch wahrnehmbare Oberfläche statt. Wir nähern uns also Inhalt und Aussagekraft des medialen Angebots auf der Basis dessen, was wir an der Oberfläche sehen und hören – denn zunächst haben wir ja nichts anderes zur Verfügung. Wie kann man also ohne Kenntnis des präsentierten Themas die Qualität von Medienbeiträgen bewerten und gegebenenfalls einen Recherchebedarf feststellen?

Zunächst bietet sich uns nichts als die jeweilige Darstellung. Diese zu durchschauen, ihre Konstruktionsprinzipien zu erkennen, bildet die Grundlage eigener Media Literacy. Das Erkennen der jeweiligen Konstruktion sprachlicher und bildlicher Darstellungen ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, weitere Rechercheaufgaben zu entdecken.

Unsere Medienanalyse beginnt vom jeweiligen Medienprodukt ausgehend: Wir betrachten zunächst das uns vorliegende Produkt, im Print das Layout, im TV die montierte Darstellung, im Audio das Gesagte und den Tonfall – also die jeweilige Gestaltungsoberfläche mitsamt ihren Anziehungspunkten für unsere Aufmerksamkeit. Von hier aus können wir sie analytisch Schicht für Schicht durchdringen. Dabei folgt dieses Buch einem eigenen Methodenkanon, der sich an der Wahrnehmungsforschung orientiert, und integriert diverse Ansätze der Sprach-, Medien-, Kommunikations- und Kognitionsforschung, um ein umfassendes Instrumentarium für die praktische Anwendung zusammenzustellen.2

Nach einer Einführung in die menschlichen Wahrnehmungsmechanismen, denen natürlich auch Medienschaffende unterliegen, wird sich mit Kapiteln zur Bild- und Textanalyse, die Elemente der Filmanalyse einschließen, dem Gegenstand genähert. Auf den Theorieteil in Kapitel 1 wird im praktischen Teil immer wieder Bezug genommen. Im Zusammenhang erklärt werden die Grundlagen menschlichen Kommunikationshandelns und menschlicher Wahrnehmung vorweg, weil diese Voraussetzung sind, um die Vorgehensweise bei der Medienanalyse zu verstehen. Kapitel 2 bildet dann das Herzstück des Vorgehens bei der Analyse. Da auch Wissen über Mediensysteme und -berufe, also die Arbeitsbedingungen, unter denen Medienprodukte entstehen, relevant sind, schließen sich entsprechende Einheiten an (Kapitel 4). Wissen über Strukturen und Abläufe schützen vor vorschnellen Schlüssen und Mythen, denn eilige Unterstellungen und Verschwörungsideologien helfen nicht beim Durchschauen dessen, was vorgeht. Einen besonderen Schwerpunkt bildet das Kapitel 3 zur gezielten Beeinflussung von Mediendiskursen durch Lobby- und PR-Aktivitäten. In diesem wird eine Liste von immer wieder zu beobachtenden Einflussstrategien zusammengestellt, erläutert an realen Beispielen, und deren Merkmale werden herausgearbeitet. Es handelt sich dabei um ein Themenfeld, wofür auch in Medienberufen mehr Bewusstsein entstehen muss.

Es ist das Ziel dieses Buches, Bewusstseinsprozesse anzustoßen, ebenso wie Prüfkriterien zu vermitteln, anstatt naiv-unkritisch zum Glauben bestimmter Quellen aufzufordern. Sicher lässt sich an Medienprodukten viel verbessern, aber die Mechanismen menschlicher Wahrnehmung lassen sich nicht verändern, die stereotypen Vorformungen durch unsere Zeichensysteme auch nicht – und wir alle konstruieren an unseren eigenen Vorstellungen fleißig mit. Sich mit den Wirkpotentialen medialer Darstellungen und unseres Umgangs damit auseinanderzusetzen, ist ein wichtiger Beitrag in einer demokratischen Gesellschaft, die ja auf Reflexion von Meinungsbildungsprozessen angewiesen ist. Und tatsächlich beginnt die Bewusstmachung mit dem, was wir täglich nutzen und was unser Tun erheblich mitbestimmt: Sprache und Bilder, deren Wirkmacht vielfach unterschätzt und deren Steuerungsfunktion oftmals nicht erkannt wird.

Da es in diesem Buch um Lesbarkeit und Sichtbarmachen geht, wird möglichst anschaulich formuliert und werden Fachtermini nur ergänzend eingebracht – dort, wo sie unverzichtbar sind oder wo sie dem präziseren Verständnis dienen oder einen Zugang zur weiterführenden Fachliteratur ermöglichen. Theoretische Grundlagen werden zur Vertiefung angeführt, sind aber nicht zwingend notwendig, um im Alltag medialen Schaffens oder Nutzens die vorgestellten Analysemethoden anwenden zu können.

Sabine Schiffer

Frankfurt/Berlin, Januar 2021

Anmerkungen:

1 Denn der von dem Medienpädagogen Dieter Backes vorgeschlagene Begriff der »Medienkompetenz« war zu sehr auf technische Fertigkeiten der Medienproduktion fokussiert und machte es der IT-Branche leicht, diesen auf (internet-)technische Kompetenzen zu reduzieren (vgl. Schiffer 2013).

2 Das Weglassen von Details spielt bei der Erstellung eines Lehrbuches eine wichtige Rolle. Aus Gründen der realistischen Machbarkeit in der Anwendung wird das methodische Vorgehen heruntergebrochen auf pragmatische ML-Zugänge.

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