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1.1.2.3 Sinn-Induktionsphänomene: Interpretation und Relevanzsuggestion

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Der Mensch ist permanent auf der Suche nach (mehr oder weniger) Sinn und nimmt dafür viel Arbeit auf sich.17 Zwei zusammen geäußerte Sätze, die vollkommen unabhängig voneinander erscheinen und zwischen denen es keinen grammatischen Bezug gibt, veranlassen die meisten Menschen dazu, einen Sinnzusammenhang zwischen den beiden herzustellen – allein darum, weil sie zusammen geäußert wurden. Nehmen wir beispielhaft: »Mein Nachbar ist nett.« »Rosario ist Ausländer.«

Im Initialfokus des Satzes, der Subjektposition, steht »mein Nachbar« und im zweiten der Name »Rosario«. Das reicht noch nicht aus, um zu behaupten, mein Nachbar heiße Rosario – aber es könnte sein. Die Aneinanderreihung der beiden Sätze legt dies nahe und manche merken gar nicht, dass nicht explizit gesagt wurde, dass Rosario mein Nachbar ist. Welchen Sinn sollte es auch sonst machen, die beiden Sätze direkt hintereinander zu äußern? Hier spricht man von Inferenz, also von einem Hinzufügen von Bedeutung, die von außerhalb der Äußerung(en) kommt: Assoziationen im weitesten Sinne.

Demnach wäre die naheliegende Schlussfolgerung, dass Rosario mein Nachbar und nett ist. Nun würden die meisten nach einem Kausalzusammenhang suchen, also einem Grund für die gemachten Äußerungen. Das legt eine weitere Schlussfolgerung nahe beziehungsweise zwei. Einmal könnten die Zuhörenden darauf schließen, dass mein Nachbar nett ist, weil er Ausländer ist – oder man könnte schließen, dass er nett ist, obwohl er Ausländer ist. Eine solche Schlussfolgerung liegt nicht zwingend im Geäußerten, auch wenn eine gemeint gewesen sein könnte. Welche nun (hinein-)interpretiert wird, ist individuell unterschiedlich, eventuell anerzogen oder entspringt Erfahrungslernen einer Gesellschaft, wozu wiederum auch Medienbeiträge gehören. Die Deutung der angenommenen Verbindung zwischen den beiden Sätzen kann also ebenso spontan sein wie auch lange eingeübt und somit schon Teil des »kollektiven Wissens«.

Zugrunde liegt hier ein Grundprinzip menschlicher Wahrnehmung, eine Universalie, die in der Psychologie als klassisches Konditionieren bekannt ist. Am bekanntesten für antrainierte Verknüpfungen und Reiz-Reaktions-Mechanismen dürfte wohl das berühmte Experiment mit dem Pawlowschen Hund sein. Der Hund hört zum Füttern ein Klingeln und wird bald beim Klingeln allein das Futter erwarten, seine Körperreaktionen sind entsprechend.

In Bezug auf die Kommunikation beschreibt eine der Konversationsmaximen des britischen Sprachphilosophen Paul Grice den Mechanismus der Inferenz. Während Grice mittels seiner Konversationsmaximen eine optimierte Sprachproduktion fördern wollte, stellte sich schnell heraus, dass seine Maximen – allen voran die zentrale Maxime der Relevanz – auch und gerade umgekehrt funktionieren. So wird schlicht von uns allen angenommen, dass die Äußerungen der Menschen sich an der Relevanz orientieren – das heißt, dass sich zu Relevantem geäußert wird und nur das Relevante dazu geäußert wird, man sich also sinnvoll und sprachökonomisch verhält.

Die Erwartung, dass das Geäußerte für die Situation und für die anderen Teile der Äußerung relevant ist, lässt die Rezipienten daraus Schlüsse ziehen. Diese nennt Grice »Implikaturen«. Diese Implikaturen füllen etwaige Lücken und vervollständigen das (vermutete Mit)Gemeinte.18 In der Filmtechnik macht man sich dieses Prinzip seit jeher zunutze, da mittels Schnitt und Montage zweier (und mehr) Szenen Bedeutungseffekte eines Zusammenhangs erzielt werden – welche in den einzelnen Einstellungen nicht vorhanden sind.

Sergej Eisensteins Monument der Filmgeschichte »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) liefert dafür die Blaupause. Der Stummfilm visualisiert eine gescheiterte Meuterei im russischen Revolutionsjahr 1905. Die grausame Treppenszene am Hafen in Odessa basiert auf dem Zusammenschnitt von schießenden Soldaten und fliehenden, die Treppe hinunterstürzenden und sterbenden Menschen. Die besondere Intensität entsteht auch durch gezielt eingesetzte Ellipsen, also nicht visualisierte Vorstellungen, die durch die Schnittfolge der einzelnen Bildszenen nahegelegt und der Phantasie der Zuschauenden überlassen werden.

Die hierbei ausgeschöpfte Universalie menschlicher Wahrnehmung ist das Sinn-Induktionsprinzip, also dort Sinnkonstanz19 herzustellen, wo eine Lücke vorliegt. Das Bedürfnis nach sinnhaftem Zusammenhang ist so stark, dass Relevanz auch dort unterstellt wird, wo eigentlich keine vorliegt.

Relevanz kann also faktisch suggeriert werden durch das Einfügen eines irrelevanten Elements. Relevanzsuggestionen sind ein häufiges Element medialer Darstellungen und als solche analysierbar, wie das folgende Beispiel zeigt:

»Der jüdische Medienmogul Haim Sabban will zwei TV-Sender kaufen, um die Israel-Berichterstattung positiv zu beeinflussen«, hieß es vor einigen Jahren in einem Bertelsmann-Newsletter. Auf den Einwand, dass dies eine antisemitische Äußerungen sei, verwies man darauf, dass Sabban das selbst genauso sage und dass er das als Jude für seine Pflicht ansehe. Dennoch ist das Adjektiv »jüdisch« hier nicht relevant, denn es gibt viele Nichtjuden – etwa das Medienhaus Springer –, die sich verpflichten, Israel möglichst positiv darzustellen. Im Springer-Unternehmensgrundsatz heißt es explizit: »Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel«, was sich nicht selten in einer im Vergleich zu anderen Staaten großzügigeren Bewertung israelischer Politik niederschlägt. Es gibt zudem Juden, die die israelische Politik sehr skeptisch sehen und beklagen, dass sie mit ihren Positionen in den Medien zu wenig Gehör fänden. Diese wenigen Schlaglichter zeigen bereits, dass das Merkmal »jüdisch« nicht relevant ist in Bezug darauf, wie man zu Israel steht beziehungsweise es dargestellt sehen möchte.

Wird ein zusätzliches (nicht relevantes) Merkmal – egal ob Fakt oder Fiktion – in den Diskurs eingebracht, wie bei diesem Beispiel, dann wird es auch für den Sachverhalt für relevant erachtet. Impliziert wird hier die Zuweisung einer bestimmten Haltung zu Israel auf das »Jüdisch-Sein« und damit das gesamte Judentum. Mit derlei verallgemeinernden Zuweisungen beginnt jeder Rassismus und hier konkret Antisemitismus (vgl. Kasten zur Richtlinie 12 des deutschen Pressekodex, S. 266).

Die Analyse von Sinn-Induktionsphänomenen bietet einen wichtigen Schlüssel für die Medienanalyse. Sinn-Induktionen sind in medialen Konstruktionen omnipräsent und ermöglichen, oberhalb von grammatischen Strukturen Bedeutungseffekte zu erzielen, die aufgrund ihrer Implizitheit nicht begründet und gerechtfertigt werden müssen. Man kann hierbei von einer »Argumentationsökonomie« sprechen. Die reine Suggestion von nicht begründeten Zusammenhängen muss bei Informationsformaten stets mit aufmerksamer Skepsis betrachtet werden. Sinn-Induktionen können sowohl rein textlich als auch bildlich und in der Kombination zwischen Text und Bild stattfinden.

Auch Mimik, Gestik und weitere Faktoren spielen in die Beurteilung von medial aufbereiteten Sachverhalten mit rein, färben auf die Fakten ab. So lässt sich ein wahrer Sachverhalt mit ungläubiger Mimik schwächen oder umgekehrt mit Überzeugung dargebrachten Falschnachrichten eine Portion Glaubwürdigkeit mitgeben. Das Phänomen trifft auf alles zu, was in medialen Darstellungen dramaturgisch miteinander verknüpft werden kann, also auf gelayoutete Printprodukte ebenso wie auf Reportagen. Folgende Kombinationen sind zu untersuchen: Text-Text-, Bild-Text-, Bild-Bild-Relationen und so weiter.

Reportagen und Nachrichtensendungen im Fernsehen bilden eine besondere Herausforderung für die Medienanalyse, da die hier Schritt für Schritt aufgeschlüsselten Vorgänge dort in enormer Geschwindigkeit ablaufen und man deshalb Video-Material erst aufbereiten muss für eine Analyse (siehe unten).

In Sinn-Induktionen als Resultat des Relevanz-Prinzips menschlicher Wahrnehmung liegt ein enormes Potential zur Bedeutungskonstruktion von subtilen Nahelegungen bis hin zu offenen Manipulationen. Ohne Begründung lässt sich durch die Verknüpfung diverser Reize eine Beziehung zwischen diesen (Informationsfetzen) suggerieren, etwa wenn in der Berichterstattung über Gutskäufe in Ostdeutschland Bilder von glatzköpfigen Nazis hineingeschnitten werden. Zwar sehen die Käufer nicht unbedingt so aus, aber die Montage suggeriert, dass Rechtsextreme hier Eigentum erwerben – und zwar allein durch die bildlich erzeugten Assoziationen. Allerdings können wir auch bei ehrlichsten Absichten diesem Mechanismus nicht entgehen.

Sinn-Induktionen kommen auch ohne gezielte Absicht zustande, weshalb es wichtig ist, sie nicht als Intention oder gar Manipulationsplan zu untersuchen, sondern als Wirkpotential medialer Darstellungen. Natürlich ist vorstellbar, dass diese Nahelegungen in voller Absicht konstruiert werden, denn es erspart rechtfertigende Beweise. Das Ausschöpfen dieses universellen Wahrnehmungsprinzips ermöglicht prinzipiell Menschen mit Diskursmacht – also Politik und Medien – ihre persönliche Sicht von Zusammenhängen unterzuschieben, ohne dass sie als Meinung erkennbar wäre (weil ja nur Fakten aneinandergereiht werden).

Ob eine solche argumentationsökonomische Kombination »gelingt«, liegt aber auch daran, dass Rezipienten die eigene Beteiligung durch ihren Inferenzschluss nicht erkennen. Deshalb muss es auch bei der Analyse von Sinn-Induktionen um Bewusstmachungsprozesse im Sinne potentieller Medienwirkungen gehen und nicht um eine literaturwissenschaftliche Fragestellung nach der »Intention« von Autoren.

Die Kombinationsmöglichkeiten sind einerseits unerschöpflich, aber auch immer wieder stereotyp, wie unter anderem quantitative Analysen aus der Rassismusforschung belegen. So wird in Negativframes von Kriminalität vorzugsweise dann die Hautfarbe genannt, wenn sie dunkel ist. Aus der Genderforschung weiß man, dass Frauen entweder kaum oder in vorwiegend stereotypen Rollen im Haushalt, Einzelhandel, bei der Familienbetreuung oder Pflegetätigkeiten (sogenannter »Care-Arbeit«) aktualisiert werden. So entstehen Assoziationsketten – lange eingeübt, da vielfach wiederholt –, die die Eigenschaft Geschlecht oder Hautfarbe vorzugsweise mit bestimmten Eigenschaften verknüpft sehen und jederzeit reaktiviert werden können. Auf die Aktivierung und Rolle solcher Gedächtnisspuren, die so und anders erlernt werden, kommen wir noch zurück.

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