Читать книгу Medienanalyse - Sabine Schiffer - Страница 17

1.1.2.4 Anordnungsprinzipien und Kausalitätsvorstellungen

Оглавление

Der prototypische Satzbau ist im Deutschen Subjekt – Prädikat – Objekt in einer »natürlichen« Linie von links nach rechts (vgl. Kollektivsymbolik, siehe oben): »Sie isst Schokolade.« Zwar weiß man inzwischen, dass die Sprachproduktion mit dem Prädikat beginnt und der Satz von dort aus konstruiert wird, aber das spielt für das Satzverstehen eine untergeordnete Rolle. Unsere Wahrnehmung in der Rezeption verläuft in der Regel linear von Position eins bis drei. Wir stellen uns also eine handelnde Person vor, die etwas isst, und zwar eine Schokolade. Diese Reihenfolge – vom handelnden Subjekt zum behandelten Objekt – entspricht unseren Erwartungen und Schlussfolgerungen gleichermaßen, denn wir erkennen im Subjekt den Grund für das Verschwinden der Schokolade.

Das ist sehr vereinfacht ausgedrückt, aber hier wird keine tiefergehende Lehrstunde in Syntax und Semantik benötigt, sondern die Erkenntnis eines weiteren Grundprinzips menschlicher Wahrnehmung: Dem Element in handelnder Subjektposition weisen wir Verantwortung zu für das, was dann geschieht. Und was dann folgt, gilt als Resultat der Schilderung zuvor.

Der französische Künstler, Philosoph und Bildforscher Laurent Gervereau hat zusammen mit dem Karikaturisten Jean Cabu unter anderem diesen Aspekt in ihrem für die Medienanalyse wertvollen Buch Le Monde des Images (zu Deutsch »Die Welt der Bilder«) dargestellt: Die beiden Autoren beschreiben in einer Bilderfolge ein Rennen in der Leichtathletik und verändern die Reihenfolge der Bilder, sodass bei genau gleichen Bildinhalten der Ablauf des Rennens völlig anders erscheint – inklusive der Interpretation des Siegers am Schluss.


Gervereau & Cabu, Le Monde des Images, S.26 f.

Es gilt also sich bewusst zu machen, dass Abfolge beziehungsweise Reihenfolge bei jeder Darstellung in Text oder Bild (oder beidem) ein relevanter und zu analysierender Aspekt ist. Wie würde die Botschaft lauten, wenn das gleiche Material anders angeordnet wäre? Hier lassen sich in kleinen Umstellungs-Experimenten interessante Bedeutungsunterschiede herausarbeiten. Entscheidend ist dabei, die (angebotenen) Schlussfolgerungen durch die vorhandene Komposition in den Medien zu erkennen und zu beschreiben.

Ergibt sich eine Bedeutungsveränderung, wenn wir die oben schon erörterten Sätze in ihrer Reihenfolge umkehren? »Rosario ist nett. Mein Nachbar ist Ausländer.« Allenfalls in Nuancen. Aber betrachten wir die folgende Kombination in zwei Varianten:

I.Putin annektierte die Krim. Die Maidanbewegung in der Ukraine führte zum Umsturz des Regimes und wurde aus dem westlichen Ausland unterstützt.

II.Die Maidanbewegung in der Ukraine führte zum Umsturz des Regimes und wurde aus dem westlichen Ausland unterstützt. Putin annektierte die Krim.

Dies macht sehr wohl einen großen Unterschied in der Kausalitätszuweisung sowie einer möglichen Rechtfertigung von Handlungen und Vorgängen. Was genau eine Reaktion auf was war im Zusammenhang mit den dramatischen Entwicklungen in der Ukraine 2014, steht uns hier nicht zur Beurteilung zu. Aber eine Analyse der Berichterstattung müsste derlei Konstruktionsprinzipien, die subtil Verantwortung zuweisen und Kausalität unterstellen, ohne dass dies ausführlich begründet und belegt wird, miteinbeziehen.20

Tatsächlich ist bei der Analyse von Reihenfolgebeziehungen zunächst wichtig zu analysieren, was in den Initialfokus gestellt wird und was nicht – was sozusagen als Grund für das Folgende angeboten wird. Das zuerst Wahrgenommene beim Lesen von links nach rechts wirkt als Prime (siehe Kasten) – was übrigens auch für den ersten Eindruck eines gelayouteten Magazintitels mit komplexer Symbolik gilt, wobei hier der Initialfokus zunächst ermittelt werden muss (siehe Kapitel 2.1).

Priming

Ein Prime ist ein Schlüsselreiz, der Gedächtnisspuren aktiviert – wie dies Bertram Scheufele in seinem Buchtitel Priming auf den Punkt bringt (Scheufele 2016, S. 11). Durch Primes, die durch Worte, Themenstellungen, Frames und Stereotype gesetzt werden können, lassen sich Schemata, innere Bilder, Assoziationsketten und/oder erwartete Abläufe abrufen; sie beeinflussen die weitere Wahrnehmung. Das Ergebnis ist dann ein Priming-Effekt (vgl. Scheufele 2016, S. 20). Der Vorgang des Primings basiert auf den Erkenntnissen psychologischer Forschung zur Wissensorganisation und der Abrufbarkeit strukturierter kognitiver Einheiten – Erinnerungen oder Vorstellungen etwa von Konfliktschemata oder Verhandlungsschemata usw. in der politischen Kommunikation.

Auch wenn jemand »Erster!« ruft, muss er nicht der Erste sein … Was ist, wenn die Berichterstattung das Initialereignis verpasst hat? Das hat nachweislich im Jahr 2008 dazu geführt, dass der Beginn des Kaukasuskrieges zwischen Georgien und Russland »übersehen« wurde, weil die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf der Eröffnung der olympischen Spiele in Peking ruhte. Der Initialfokus der Berichterstattung lag somit auf der russischen Reaktion auf den Vorstoß des damaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili mit Folgen für die Wahrnehmung der Vorfälle bis heute – und vermutlich auch für Teile der Geschichtsschreibung. Dieses Priming in der konkreten Situation konnte lange eingeübte Erwartungen bezüglich russischer Vorgehensweisen (re)aktivieren und ausschöpfen. Auch im Nahostkonflikt ist es immer wieder ein Diskussionsthema, ob der mediale Initialfokus mit dem tatsächlichen Initialereignis übereinstimmt oder nicht.

Das ist auch für Medienmachende keine leichte Übung, wenn es sich von außen betrachtet um eine endlose Abfolge von Aktion und Reaktion handelt, die berühmte Frage nach dem Huhn und dem Ei. Dennoch entscheiden unsere Medienmachenden regelmäßig darüber, welchem Akteur die Subjekt- und welchem die Objektposition zugewiesen wird, wer als Aggressor oder als Reagierender geframed wird (vgl. dazu »Agent Deletion« sowie »Agens-Patiens«, Kapitel 2.2). Auch explizit sprachlich sind derlei Zuweisungen erkennbar, wenn etwas ganz klar »[…] als Reaktion auf einen Angriff von […]« formuliert wird. Das kann stimmen, ist aber möglicherweise nur eine Interpretation von Medienseite. Sehr oft bleiben diese Zuweisungen implizit. Anordnung beziehungsweise Rollenzuweisung kann bis zur Täter-Opfer-Umkehr gehen (siehe unten). Die Medienanalyse muss solche konstruierenden Elemente benennen und gegebenenfalls weitere Rechercheaufgaben formulieren.

Medienanalyse

Подняться наверх