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Exkurs: Wikipedia ist keine Quelle!1

Wie die Suchmaschine Google ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia zu einem, wenn nicht DEM Referenzwerk der wissbegierigen, nachschlagenden Bildungshungrigen geworden. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen Google und Wikipedia, denn zu einem gesuchten Begriff erscheint zumeist der Wikipedia-Eintrag als eine der obersten Ranking-Stellen auf der Ergebnisseite der Google-Suche.

Wer glaubt, dass Wikipedia ein neutrales Portal der Schwarmintelligenz ist, wo jede(r) seinen Wissensbeitrag leisten könne, der mache einen kurzen Eintrag in einem Artikel von politischer Brisanz – etwa bei Themen wie »Verschwörungstheorie«, »Klimakrise« oder »NATO« – und wird schnell eines Besseren belehrt. Der Eintrag dürfte erst gar nicht auftauchen oder bald wieder verschwunden sein. Bei Themenfeldern wie Geopolitik und Weltanschauung sind die Wikipedia-Einträge nicht selten Orte sogenannter »Edit-Wars«, das heißt von Bearbeitungs-Kämpfen, die die User und Administratoren dort ausfechten.2

Tatsächlich kann jede(r) jederzeit einen Eintrag machen. Dazu benötigt man keinen Account. Man kann über den »Bearbeiten«-Button neben der jeweiligen Überschrift einen Artikel ändern und die Änderung mit entsprechenden Quellen belegen. Die Änderung erschien früher sofort, inzwischen wird sie erst von einem sogenannten »Sichter« geprüft und dann gegebenenfalls freigeschaltet – und ist nicht selten, wie gesagt, schnell wieder weg. Einzusehen sind die Änderungen über den rechten Reiter oben auf der Wikipedia-Seite und hier sehen wir dann unseren Eintrag mit der zugehörigen IP-Adresse. Und genau hier beginnt unsere Medienanalyse.

Nehmen wir einen beliebigen Eintrag. Neben dem Suchfenster ist der Reiter »Versionsgeschichte« anzuklicken. Auf der Unterseite können die Zeitverläufe der Einträge eingesehen werden, die Autoren-Pseudonyme (Nicknames) oder IP-Adressen und die Art der Änderung. Hier vermittelt die Frequenz der Einträge einen ersten Eindruck, wie gesetzt oder umstritten ein Artikel ist. Die Accounts sind verlinkt mit der Seite der Nutzer, deren Themen/Artikel dort einsehbar sind. Der Klarname jedoch nicht, man muss sich nicht identifizieren. Auch wichtige und mächtige Administratoren, die zum Beispiel andere Nutzer blockieren dürfen, müssen sich nicht authentifizieren.


Immer wieder kommt es zu kleineren oder größeren Skandalen, weil sogenannte »Sock Puppets« auffliegen, also Accounts von Lobbyisten oder bezahlten Dienstleistern (beispielsweise für die Pharmaindustrie), die nicht an neutraler Information, sondern an Beeinflussung der öffentlichen Meinung interessiert sind.


Über das Versetzen der (zwei) Punkte auf der »Versionsgeschichte«-Seite lassen sich immer zwei Versionen miteinander vergleichen – sodass man die Veränderungen genau ersehen kann. Meistens sind die Veränderungen redaktioneller Art. Öfter gibt es Diskussionen um Quellen und manchmal Streits um die Ausrichtung eines Artikels, etwa bei umstrittenen Themen oder Personen.

Der Reiter »Diskussion« bietet also auch noch erhellende Einblicke in die Entstehungs- beziehungsweise Veränderungsgeschichte eines Eintrags auf Wikipedia. Dort werden Themen, Aspekte und Quellen »zur Verbesserung« erörtert. Jede(r) kann auch hier ein eigenes Diskussionsthema anlegen.

Beim hier ausgewählten Artikel »Verschwörungstheorie« habe ich willkürlich den Nutzer-Nick »Phi« angeklickt. Auf seiner Unterseite kommt dann eine Auflistung aller von ihm bearbeiteten Artikel. Links auf der Seite kann und sollte man dann den Menüpunkt »Benutzerbeiträge« anklicken und erhält eine solche Ansicht:


Der kleine Ausschnitt genügt, um die große Aktivität von Phi für Wikipedia zu dokumentieren. Seine oder – unwahrscheinlicher – ihre genauen Logdaten können ebenso abgerufen werden wie weitere Meta-Informationen, aber auch die inhaltlichen Veränderungen, die Phi bei den einzelnen Themen durchführt – wozu Artikel wie »Geldjude«, »QAnon«, »Gunnar Heinsohn« und eben »Verschwörungstheorie« gehören. Es geht an dieser Stelle nicht darum, Phis Qualität bei den Einträgen zu beurteilen, sondern auf die Recherchewege aufmerksam zu machen, um das Zustandekommen von Inhalten in der Wikipedia zu verstehen.

An dieser Stelle sei der Film »Die dunkle Seite der Wikipedia« des Lehrers Markus Fiedler empfohlen, weil neben der Aufklärung über die Verfasser von Wikipedia-Artikeln – im Fall dieses Films den über einen »umstrittenen« Historiker – auch die Recherchemethoden gut nachvollziehbar dargestellt sind. Ziel der Medienanalyse muss es jedoch nicht sein, die Identität von anonymen Wikipedia-Autoren ausfindig zu machen, sondern sich über ein Verständnis für die Arbeitsweisen eine Distanz zur jeweiligen Darstellung eines Beitrags zu erarbeiten.

Bis hierher dürfte schon klar geworden sein, warum Wikipedia keine oder nur eine sehr bedingt zitierfähige Quelle ist – die ständige Veränderbarkeit bedeutet, dass mindestens die genaue Version mit Datum und Zeitpunkt vermerkt sein müsste.3 Da nicht bekannt ist, wer sich aufgrund welcher Qualifikation oder Nutzermacht mit einem Artikeleintrag schließlich durchsetzt, fehlt jedoch die Zitierfähigkeit im wissenschaftlichen Sinne. Wichtig und sinnvoll ist es, den Quellen nachzugehen, die bei Wikipedia zusammengetragen werden und als Belege unter den Artikeln verlinkt sind.

Die Qualität dieser Quellen ist genau zu prüfen, denn Wikipedia hat eine etwas eigenwillige Praxis im Anerkennen von Quellen als valide Belege. Es gelten nur Sekundärquellen als zuverlässig. Das wäre in den meisten Wissenschaften genau keine zuverlässige Quelle für einen Beleg, außer da, wo nur Sekundärquellen vorliegen, weil Archive unter Verschluss sind – etwa bei Diplomatie- oder Geheimdienstgeschichte. Wo jedoch Primärquellen vorhanden sind, sind diese einzubeziehen.

Die Idee von Wikipedia ist die, dass Sekundärquellen unabhängige Prüfungen seien. Das gilt tatsächlich, wenn es sich um die Darstellung einer Person handelt und man verhindern will, dass jemand seinen eigenen Beitrag schönt und sich eine nette Vita konstruiert. Wenn es nicht um eine Person, sondern um eine Aussage dieser Person geht – etwa ein Buch oder einen Artikel, den diese Person verfasst hat –, dann wäre es geradezu geboten, die Erstquelle zurate zu ziehen, weil nur diese genau Auskunft über das wirklich Geschriebene bietet. Jedoch gilt eine solche Primärquelle genau nicht als Beleg bei Wikipedia. Damit verfehlt man wissenschaftliche Seriosität.

Es gehört im Schulunterricht zur Quellenkritik, wie mit solchen Wissensportalen, die sich in einem beständigen Flow-Modus befinden, umzugehen ist. Eine erste Annäherung wurde hier aufgezeigt. Die inhaltliche Prüfung kann sich dann an die Analyse der Wikipedia-Techniken anschließen – wobei man aufgrund nur eingeschränkter Informationen im Internet auch Befragungen von Beteiligten, anderen Experten und Fachliteratur heranziehen müsste. Eine Anekdote aus meiner eigenen Erfahrung soll der Veranschaulichung dienen:

»Als ich im Mai 2014 von ZDF Info für die Sendung ›Login‹ zum Thema Computerspiele angekündigt wurde, entbrannte ein wahrer Shitstorm im Netz. Präventiv empörte sich die Gamer-Community über meine Einladung – und dies unter anderem mit dem Verweis, dass in meinem Wikipedia-Eintrag über Games gar nichts stünde. Da hatten sie allerdings recht, nur offensichtlich keine Ahnung davon, wie Wikipedia-Artikel zustande kommen. Hätte ich auf dessen Gestaltung Einfluss, sähe der freilich anders aus. Viele Themen, die ich in meiner 20-jährigen Tätigkeit als Medienpädagogin behandelt habe und behandle, kommen darin nicht vor. Vielmehr orientiert man sich an den ersten Google-Hits, anscheinend ohne sich über Google-Algorithmen Gedanken zu machen.«4

Weil Wikipedia, wie überhaupt Medienberichterstattung, einen großen Einfluss bis hinein in die Geschichtsschreibung haben dürfte, betont dies noch einmal besonders, dass die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Wissen essentiell für eine aufgeklärte Gesellschaft ist.


Weiterlesen:

 Forschungsprojekt »Wiki-Watch« an der Viadrina-Universität: www.wiki-watch.de.

 Marvin Oppong (2014): Verdeckte PR in Wikipedia. Das Weltwissen im Visier von Unternehmen. Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung Nr. 76.

 Alexander Unzicker (2018): »Wikipedia auf dem Weg zum Orwellschen Wahrheitsministerium«. In: Telepolis, www.heise.de/tp/features/Wikipedia-auf-dem-Weg-zum-Orwellschen-Wahrheitsministerium-4059211.html (aufgerufen am 30.11.2020).

 Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski (2019): »Wikipedia: Die Netzutopie landet in der Realität. Immer weniger Mitarbeiter, veraltete Artikel und intransparente Verfahren: Was ist los mit der Wikipedia?« In: Neue Zürcher Zeitung (11.04.2019) www.nzz.ch/feuilleton/wikipedia-das-wissen-der-welt-demokratisch-ld.1473936 (aufgerufen am 30.11.2020).

 Adrian Lobe (2019): »Gekaufte Wahrheiten auf Wikipedia«. In: Süddeutsche Zeitung (25.06.2019) www.sueddeutsche.de/digital/wikipedia-werbung-manipulation-schleichwerbung-wissen-1.4496890 (aufgerufen am 30.11.2020).

 Markus Fiedler & Michael Speer (2016): »Die dunkle Seite der Wikipedia«, www.youtube.com/watch?v=5vdHiPGhIc0 (aufgerufen am 11.12.2020).

 Markus Fiedler & Michael Speer (2017): »Zensur – Die organisierte Manipulation der Wikipedia und anderer Medien«, www.youtube.com/watch?v=HH-Ym-an2xw (aufgerufen am 11.12.2020).

Anmerkungen:

1 Schiffer 2015b; Massengeschmack. TV (2019); Fiedler 2016.

2 Bei regelmäßiger Mitarbeit erhält man mehr Schreibrechte und weitergehende Entscheidungsbefugnisse über Einträge, Löschungen und Korrekturen. Allerdings scheinen sich in manchen Themengebieten inzwischen einige Platzhirsche etabliert zu haben, die neu kommende Autoren frühzeitig ausschließen.

3 Durch Anklicken des Werkzeugs »Artikel zitieren« in der linken Leiste kann man die bibliografischen Angaben des Eintrags anzeigen lassen. Dazu gehört natürlich neben dem Aufrufdatum auch die genaue Aufrufuhrzeit.

4 Schiffer 2015b.

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